Читать книгу Das Rabenorakel - Fortunato - Страница 43

Hartmut der Hungrige

Оглавление

Auf den krummen Beinen lastete ein schwerer Rumpf, der bekleidet war mit einem grünen Wams und allerlei Quasten, deren Sinn nicht erkennbar war. Ein wenig sah der Mann aus wie ein Schauspieler vom Jahrmarkt oder wie ein Gaukler.

»Wird er wieder auf die Beine kommen?«, fragte der Mann die zwei Jünglinge, die sich an den Stamm einer alten Eiche gelümmelt hatten und neue Pfeile schnitzten.

»Klar«, entgegnete der eine.

»Keine Frage«, der andere.

»Und Ihr?«, fragte der Mann den am Boden Liegenden. »Denkt Ihr das auch?«

»Es wird schon wieder. Der Pfeil ist glatt durch den Schenkel gegangen.«

»Ich habe ihn einfach auf der anderen Seite wieder rausgezogen«, erläuterte einer der Jungen am Baum und grinste schräg.

»Man konnte ihn noch benutzen.«

»Na ja«, sagte der andere Junge. »Du hast nur nicht getroffen.«

»Das lag daran, dass das Federvieh sich so gut versteckt hat in dem dunklen Geäst.«

»Ach was, mit einem frischen Pfeil hättest du den richtig erwischt. So muss ein Pfeil aussehen!« Der Junge hielt sein frisch gefertigtes Exemplar in die Höhe und linste dabei zu dem Mann hin, der sich inzwischen die Wunde des Verletzten besah. »Habt Ihr Schmerzen?«, fragte er den am Boden Liegenden.

»Es geht. Ich weiß nicht, was schlimmer ist: die Schmerzen oder der Hunger.«

»Dann kann es nicht so schlimm sein mit den Schmerzen.« Der Mann mit den langen Beinen wischte sich einen unsichtbaren Krümel vom Wams. »Seid Ihr sicher, dass Ihr bei uns bleiben wollt?«

»Wisst Ihr«, antwortete der Gefragte und verzerrte nun doch vor Schmerz das Gesicht, als der andere den Verband vorsichtig berührte, den die Jungen angelegt hatten. »Erstens hätte ich ohnehin keine andere Wahl.« Er hielt inne. Der Mann im grünen Wams nickte bedächtig, aber nicht ohne ein schalkhaftes Lächeln in den Augen. »Das ist richtig«, pflichtete er ihm bei.

»Und gibt es auch ein Zweitens?«

»Gibt es.« Er richtete sich ein wenig auf. »Die Freunde hier haben mir erzählt, weshalb Ihr im Wald haust und weshalb Ihr...«

»Nun«, unterbrach ihn der Mann und schaute zu den jungen Burschen hinüber, die beim Schnitzen innehielten. »Ich hoffe, ihr habt ihm nicht zu viel erzählt.«

»Nur das Nötigste«, sagte einer.

»Kein Wort mehr«, bestätigte der andere.

Der Mann wandte sich wieder dem Verletzten zu. Das Lächeln in seinen Augen war einer tiefen Ernsthaftigkeit gewichen.

»Nun, dann will ich die Aufrichtigkeit Eures Entschlusses für wahr betrachten«, sagte er. »Seid willkommen in unserem Kreis und nehmt ihn als Eure neue Familie. Ich bin Waldemar der Grüne. Die meisten nennen mich einfach Kanzler. Dein Name ...«

»Mein Name ist Ritter ...«

»Dein neuer Name«, unterbrach ihn der Kanzler, »ist Hartmut der Hungrige.«

»Hartmut der Hungrige«, murmelte der Verletzte und lauschte seiner eigenen Stimme. »Klingt gut«, fand er. »Na ja, der Hungrige klingt vielleicht ein bisschen blöde ...«

»Sei stolz auf diesen Namen. Er wurde dir von deiner neuen Familie verliehen. Wir alle werden ihn, wenn es sein muss, mit unserem Leben verteidigen.« Sein Blick ruhte noch immer auf dem Mann, der vor ihm auf dem Boden saß. »Und du? Was wirst du tun?«

»Ich werde mich euer als würdig erweisen und nicht weniger tun als jeder Ritter für seinen Herrn.«

Da lachte Waldemar der Grüne und klopfte ihm auf die Schulter. »Du wirst nicht weniger tun, als jeder Räuber für seine Herrin tut.« Und er drehte sich um und verließ den Platz an der alten Ulme. Eine Weile saßen die drei Verbliebenen stumm da und hingen ihren Gedanken nach. Bis der neue Hartmut sich schließlich räusperte und die Jungen fragte: »Sagt mal, das Federvieh, von dem ihr eben gesprochen habt. Was war das denn für ein Vogel?«

»Ach«, sagte der eine. »Das war nur irgendeine Krähe.«

»Ja«, pflichtete der andere ihm bei. »Oder ein Rabe. Aber ich habe ihn schlecht getroffen. Wahrscheinlich ist er sogar davongekommen.«

»Richtig«, stellte der Erste wieder fest. »Macht aber nichts. Raben schmecken eh nicht. Außerdem...« Er sah seinen Freund an: »Sei froh, dass du ihn nicht erwischt hast. Rabenjagd ist schließlich streng verboten.«

»Das glaubst du doch wohl selber nicht. Das erzählen sie doch bloß den kleinen Kindern.«

»Sei da mal nicht so sicher. Wenn die Königin das hört, möchte ich nicht in deiner Haut stecken.«

»Pah, wenn die Königin das hört... Mir machst du keine Angst, du Hasenfuß.«

»Hasenfuß? Dir gebe ich gleich einen Hasenfuß ...«

Während die beiden Jungen noch stritten, dachte Hartmut der immer noch Hungrige an einen ihm wohlbekannten Raben und hoffte, dass es nicht dieser gewesen sein mochte, dem der Pfeil gegolten hatte. Oder aber dass er zumindest unverletzt davongekommen war. Er hatte schließlich eine Räuberehre. Und eine Freundschaft war nun mal auch unter Räubern Ehrensache.

Oben aber im Geäst regte sich ein Flügelpaar und flatterte lautlos auf, um schon wenig später über den Baumwipfeln des Rabenwaldes dahinzugleiten.

Das Rabenorakel

Подняться наверх