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Ein luftiges Gefängnis

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Goldauge wagte kaum zu atmen. Jede Feder tat ihm weh. Benommen lag er in der Astgabel einer mächtigen Ulme und lauschte auf die Stimmen, die sich immer weiter entfernten: »Aber ich könnte wetten, dass er hier irgendwo runtergefallen ist.«

»Ach was, du hast mal wieder daneben geschossen.«

»Ich schieße nie daneben!«

»Nie? Und was war das neulich, als du den Eber nicht getroffen hast?«

»Das war Absicht. Ich wollte ...«

»Absicht? Willst du mich für blöd verkaufen? Absicht, ha! Da lachen ja die Raben ...«

Der Pfeil, der ihn getroffen hatte, steckte noch immer in Goldauges Seite. Zum Glück war er nicht allzu tief ins Federkleid eingedrungen. Eigentlich war es nur ein Streifschuss gewesen, aber er hatte ihn zum Absturz gebracht. Hätte der Knabe etwas weiter nach links gezielt, dann wäre er jetzt ein Rabe am Spieß. Goldauge seufzte, doch das tat ihm so weh, dass er laut aufkrächzen musste – was natürlich noch größere Schmerzen verursachte. Er lauschte. Die Stimmen verschwanden irgendwo vor ihm im Wald und nur noch das Rauschen des Windes in den Bäumen war zu hören. Es waren keine Frauenstimmen gewesen, die er gehört hatte, sondern die hohen Stimmen zweier Jungen. Und die hatten ihn auch mit Pfeilen beschossen.

Goldauge versuchte, ruhig zu atmen, dann packte er den Pfeil mit dem Schnabel und zog ihn mit einem Ruck aus seinem Leib. Zuerst tat es gar nicht weh. Doch nach wenigen Augenblicken durchfuhr ihn eine Welle brennenden Schmerzes, sodass er beinahe ohnmächtig wurde. Der Pfeil hatte eine empfindliche Stelle getroffen. Sorgenvoll sah der Rabe, dass aus der Wunde Blut austrat. Er ließ den Pfeil nicht auf den Boden hinunterfallen. Vielleicht kamen die Burschen ja noch mal zurück. Dann würden sie das Geschoss finden, nach oben schauen und ihn in seiner Astgabel entdecken. Es war fast ein Wunder, dass sie ihn bislang nicht entdeckt hatten. Die Dämmerung hatte ihn wohl beschützt. In einigen Stunden aber würde hier gleißendes Sonnenlicht einfallen und alles Verborgene und so auch ihn sichtbar machen.

Nun taten ihm nicht nur seine Glieder von dem Sturz weh, nun schmerzte auch die Wunde. Goldauge beschloss, sich nicht zu regen, sondern still in der Astgabel liegen zu bleiben, die hatte ihm zweifellos das Leben gerettet, als er nach dem Treffer hinabgetaumelt war. Hier war er geschützt und außerhalb des Zugriffs von Menschen. An Fliegen war im Moment nicht zu denken. Der verletzte Flügel ließ sich kaum bewegen.

Und so fügte sich der königliche Rabe Goldauge in sein Schicksal und richtete sich auf seiner Ulme ein, den Blick in die Ferne gerichtet, dorthin, wo er die Reisegesellschaft vermutete, mit der er aufgebrochen war. Er sah einen kleinen Schatten am Himmel entlangflattern, der ihn an seine Schwester erinnerte, die Papageiendame Florine, die Einzige, die ihn hier vielleicht finden konnte.

Das Rabenorakel

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