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VIERTES KAPITEL Auf gefährlichen Pfaden

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Mit sorgenumwölkter Stirn betrachtete Marius den steil abfallenden Hang, an dem der schmale Pfad entlangführte, auf den Ludovico sie geführt hatte. »Bist du sicher, dass es eine gute Idee ist, hier lang zu reiten?«

»Hier wird uns sicher niemand überfallen«, sagte Ludovico bestimmt. »Die einzige Gefahr, der wir ausgesetzt sind, ist unsere eigene Unsicherheit – hoppla!« Sein Pferd tänzelte seitwärts, nachdem es auf einen losen Gesteinsbrocken getreten war.

»Sehr beruhigend«, sagte Golo trocken.

Sie hielten an und betrachteten den bewaldeten Hang mit den vielen mächtigen kahlen Bäumen. Eine schattige Gegend. Ohne die wärmende Sonne konnten in der Schlucht keine Pflanzen grünen und blühen. »Zumindest sieht man hier jeden Schurken, der einem entgegenkommt, auf Meilen«, stellte Golo fest, dem der Weg, den Ludovico gewählt hatte, auch nicht zu behagen schien.

»Ihr seid nicht sonderlich guter Laune, Conte«, sagte Ludovico und zog den Sattelgurt fest, denn jetzt hieß es wieder reiten.

»Tut mir leid, wenn mir nicht nach Späßen ist, mein Herzog«, erwiderte der Narr. Das Wort »Herzog« aber betonte er besonders, gerade so als wollte er Ludovico daraus einen Vorwurf machen. »Aber mir ist nicht wohl dabei, dass wir Xenia im Wald zurückgelassen haben.«

Ja, dachte Marius, das stimmt. Ihm ging es ebenso. Er sah Ludovico eindringlich an. Ludovico nickte. »Gewiss. Uns ist allen nicht wohl dabei. Aber nach allem, was geschehen ist, müssen wir auch damit rechnen, dass einem nach dem anderen etwas zustößt, wenn wir noch länger hier zubringen.«

»Wem ist denn etwas zugestoßen?«

»Nun, Ritter Tuck ist verschwunden. Xenia ist verschwunden. Meister Goldauge ist nicht wieder aufgetaucht. Und seltsamerweise ist auch Florine plötzlich weg. Darf ich Euch daran erinnern, Conte, dass uns so etwas Ähnliches erst vor Kurzem schon einmal passiert ist? Die Schwarzen Reiter des Schurken Crudo hatten uns – einen nach dem anderen – entführt. Und wenn wir nicht Hilfe von außen bekommen hätten, dann hätte es ein böses Ende mit uns genommen.«

Ludovico verschwieg, dass er selbst gar nicht entführt worden, sondern die »Hilfe von außen« gewesen war. Ludovico war eben ein Held. Marius seufzte. Was sollte er schon sagen.

»Seid versichert, Conte«, fuhr Ludovico fort und schwang sich in den Sattel seines Schimmels, »dass mein Vater Xenia und auch Ritter Tuck und unsere gefiederten Freunde suchen lassen wird, sobald er entsprechende Nachricht von mir bekommen hat.«

Das kann dauern, dachte Marius. Nachdem auch noch Xenia verschwunden war, hatte Ludovico nämlich zwei, statt drei Gruppen gebildet und die zweite Gruppe auf die Strecke über den Inselwald nach Faucas geschickt. Wenn Ludovico seinem Vater erst eine Nachricht schicken wollte, nachdem er in Faucas angekommen war, dann musste der ganze Weg zurück geschafft werden, ehe jemand nach Xenia suchen konnte. Und überhaupt: Wie sollte die Nachricht denn nach Schloss Falkenhorst gelangen?

Meister Goldauge war weg, Florine ebenfalls. So konnte doch Ludovico nur einen Brief auf dem Landweg schicken – und das hieße im Zweifel: durch ihn, Marius. Nach den Vorfällen, die sich seit der letzten Nacht ereignet hatten, zweifelte er stark, ob es ihm allein gelingen würde, die Strecke zu reiten, ohne von denselben Ganoven überfallen zu werden, die Ritter Tuck und jetzt offenbar auch noch Xenia geschnappt hatten.

Er musste an Meister Goldauge denken, seinen Freund, mit dem er unter einem Dach lebte, seit er denken konnte. Alles hatte er mit ihm geteilt, beinahe alles mit ihm gemeinsam erlebt. Wo mochte er jetzt sein? Für Marius war es kein gutes Zeichen, dass der Rabe verschwunden blieb. Er wusste, dass Goldauge etwas zugestoßen war.

Schweigend saßen sie auf und ritten zögerlich los. Der Pfad war schmal, die Pferde setzten nur widerwillig Huf vor Huf. Kannte Ludovico diesen Weg überhaupt? Und woher kannte er ihn? Er war doch selber noch nie in Faucas gewesen. Oder doch? Marius betrachtete nachdenklich den Jungen, der vor ihm und Golo herritt und so gerade im Sattel saß, als hätte er einen Stock verschluckt. Er sah schon wie ein Herzog aus.

»Mit seinem Conte geht er mir richtig auf die Nerven«, raunte Golo hinter Marius.

»Wer geht dir auf die Nerven?«, fragte jemand hinter Golo.

Marius erkannte die Stimme sofort! »Xenia«, entfuhr es ihm. Er drehte sich um und tatsächlich: Direkt hinter Golo ritt Xenia und lächelte ihn verschmitzt an. »Mensch, wo kommst du denn her?« Ludovico, der Marius’ Ausruf gehört hatte, zügelte sein Pferd und wandte sich um: »Xenia!« Er strahlte plötzlich, wie er früher immer gestrahlt hatte. »Was für ein Glück! Ist alles in Ordnung mit dir?« Xenia zerstreute die Sorge. »Alles bestens«, sagte sie. »Jetzt, wo wir gemeinsam reiten ...«

»Sag bloß, du bist absichtlich verschwunden, um ...«, stotterte

Marius.

»Klar«, bestätigte Xenia und schüttelte ihre rötlich-blonden Locken. »Ludovico wollte mich ja zurückschicken. Und ich konnte euch doch nicht alleine reiten lassen, oder? Also habe ich mir das Pferd von Ritter Tuck geschnappt und – da bin ich.«

Schon war die Freude auf Ludovicos Gesicht verflogen. »Das war gefährlich und dumm!«, tadelte er die Freundin. »Dir hätte wer weiß was passieren können im Wald.«

»Ich war die ganze Zeit in eurer Nähe.«

»Das ist keine Sicherheit. Ritter Tuck war auch in unserer Nähe.« Ludovico sah fast ein bisschen wie sein alter Vater aus, wenn er eine so strenge Miene aufsetzte.

»Na prima«, sagte Xenia. »Mit dem dicken Gelehrten Füchslin wäre ich natürlich sicherer gereist als mit euch. Ich reite wohl besser allein.« Sie klopfte ihrem Pferd mit den Fersen in die Seite und preschte vor, dass Marius ganz schwindlig wurde, als er sie so am schmalen Hang entlangtraben sah. Ludovico schnaubte ärgerlich und ritt hinterher, nicht ohne ein: »Na los, wir können sie nicht allein reiten lassen.«

»Seit er weiß, dass er der Sohn des Herzogs ist, hat er sich völlig verändert«, nörgelte Golo und trieb sein Pferd an. »Wenn er so weitermacht, dann wird noch ein richtiger Widerling aus ihm.«

»Du tust ihm Unrecht«, sagte Marius, doch fand er sich selbst nicht wirklich überzeugend »Er trägt jetzt viel Verantwortung. Deshalb kann er nicht mehr der unbeschwerte Junge sein, der er mal war.«

»Wahrscheinlich hast du recht«, murmelte Golo und fügte nach einer Weile hinzu: »Aber auf die Nerven geht er mir trotzdem.«

Das Rabenorakel

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