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Das Schweigen des Rabenwalds

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Schon früh legte sich die Dämmerung wie ein düsterer Mantel über den Wald. Gerne wären die Freunde noch eine Weile weitergeritten, um ihren Weg schneller hinter sich zu bringen. Doch die Dunkelheit verschluckte den schmalen Pfad vor ihnen geradezu. Bald war kaum noch etwas zu erkennen.

»Mir kommt das vor wie auf meiner Insel. Dort bricht die Dunkelheit auch stets so plötzlich herein, als hätte jemand die Kerze ausgepustet«, sagte Faustus Füchslin, der sich darauf freute, nach langer Zeit wieder einmal nach Faucas zu kommen. Er war als Einziger bisher dort gewesen und sprach von der Stadt, als wäre sie ein Weltwunder.

»Ihr habt eine Insel?«, fragte Ludovico erstaunt.

»Nun, eigentlich ist es nicht meine Insel«, berichtigte der Gelehrte und strich sich schmunzelnd über den Bart. »Ich bin dort bloß König eines kleinen Volkes.«

»Ihr seid König?«

»Oh, macht es nicht zu groß, mein Herzog, es handelt sich um eine harmlose Angelegenheit – und ich wurde auch nicht als Prinz geboren ...«

»So habt Ihr das Königreich erobert!«

»Ich würde eher sagen, es hat mich erobert.« Füchslin grinste Ludovico verschmitzt an. »Sie haben mich dort zum König bestimmt, weil sie noch nie zuvor einen weißen Mann gesehen hatten.«

Ludovico schwieg und dachte nach. Bald schon mussten sie anhalten, weil es zu gefährlich gewesen wäre weiterzureiten. In der Dunkelheit konnte jederzeit ein Pferd fehltreten und sich und den Reiter verletzen. Auch bestand die Gefahr, dass sie den falschen Weg einschlugen. Und mit Fackeln zu reiten, das machte sie zum leichten Ziel für Räuberbanden, die sich womöglich in der Gegend herumtrieben. »Ich hätte ja gerne unseren Standort bestimmt«, sagte Füchslin, der sich darauf verstand, aus dem Stand der Sterne Orte abzulesen. Doch zwischen den hoch aufragenden Bäumen ringsum war eine solche Himmelslektüre nicht möglich.

Also lagerten sie mitten auf dem Weg, durch die Pferde ein wenig geschützt vor wilden Tieren oder sonstigen Gefahren des Waldes, indem sie sich nah beieinander niederlegten. Auf dem Wagen schliefen der Billige Jakob, Füchslin, die beiden Mönche Goldberg und Bleibtreu und Xenia, die vergeblich versuchte, ihre Freundin Florine zu überreden, sich auch noch mit dazuzuquetschen. »Nein«, sagte die Papageiendame. »Das ist Menschenart, sich eng auf eng zu bequemen. Vögel sind freie Tiere!« Und sie entfaltete ihre Flügel und flatterte nach draußen, um sich einen schönen Ast über dem Nachtlager der Bodentiere zu suchen.

Auf einem solchen Ast saßen zwei alte Bekannte und sprachen über die Vergangenheit und die Zukunft: »Erinnert Ihr Euch noch, wie wir vor gar nicht allzu langer Zeit schon einmal so auf einem Ast im Rabenwald saßen, Meister Goldauge?«

»Gewiss, Conte, gewiss. Wer könnte das vergessen.«

»Es hat sich einiges getan seither.«

»Vor allem hat sich getan, dass Ihr inzwischen wisst, dass man einem Raben vertrauen kann.«

Golo nickte. »Und Ihr, dass man einem Zwerg vertrauen kann.«

»Nun, wer hätte auch geahnt, dass sich im Körper eines Zwergs ein großer Held verbirgt.«

»Sagen wir lieber: ein großer Freund.«

»Gerne.« So schlossen sie erneut Freundschaft, wohl wissend, dass sie in ihren Herzen schon längst Freunde waren.

»Sagt mir, Meister Goldauge, was hat es auf sich mit diesem Rabenwald? Ich lebe nun schon so lange hier – auf Schloss Falkenhorst und auf der Rabenburg –, aber das Geheimnis dieses Waldes konnte ich nie wirklich ergründen.«

Goldauge seufzte. »Wenn ich es wüsste, würde ich es Euch sagen, mein Freund. Doch meine Erinnerung reicht viel weniger weit, als Ihr denkt. Was mich allerdings verwundert, ist, dass mir immer wieder Dinge über den Rabenwald einfallen, die mir nie jemand gesagt hat. Ist das nicht merkwürdig?«

»Ja«, sagte der Narr. »Merkwürdig. Doch kommt es mir ganz passend vor. Dieser Wald ist ein seltsames Stück Erde. Er ist zugleich tückisch und vertraut, unheimlich und doch unsere Heimat.«

»Das habt Ihr schön beschrieben, Conte. An Euch ist ein Poet verloren gegangen!«

»Weshalb? Ich bin doch Narr – und Narren sind Poeten.«

Der Rabe lachte. »Und Poeten sind Narren.«

Die Nacht verlief ruhig und ereignislos. Doktor Faustus Füchslin studierte beim Lichtschein einer kleinen Öllampe einige Pergamente, die ihm der alte Horatius Tyk mitgegeben hatte und in denen es um Weissagungen aus dem Rabenwald ging. Die Ritter wechselten sich bei der Wache ab und alle anderen schliefen bis zum Morgengrauen. Als die Reisenden wieder aufbrachen, war es fast noch dunkel. Erst Stunden später drang das helle Sonnenlicht durch die Wipfel und ließ den strahlenden neuen Tag erkennen, dem sie entgegenritten.

»Sieht aus, als hätten wir Glück mit dem Wetter«, sagte Xenia, die sich noch gut erinnerte, wie sie auf ihrer letzten Reise durch Schnee und Eis gestapft und beinahe erfroren war. Marius nickte kurz. »Sieht so aus, ja.« Er klang auch heute nicht besonders fröhlich.

»Alles in Ordnung?«

»Alles bestens, klar«, sagte Marius. Nach einen kurzen Zögern aber fügte er hinzu: »Ich frage mich nur, warum es hier so still ist.«

»Wieso? Es unterhalten sich doch alle, die Hufe der Pferde klappern, der Wagen rumpelt ...«

»Das ist es nicht. Ich meine: Warum hören wir keine Vögel und keine Geräusche des Waldes? Findest du nicht, dass es hier verdammt still ist?«

»Ach, ich weiß nicht ...«

»Also, mir ist das unheimlich. Außerdem ...«

»Außerdem was?«

»Ach nichts.« Er spürte es genau, auch wenn er nicht darüber reden wollte. Der Wald war zwar still, doch da war etwas. Und es war näher, als ihm lieb war.

Das Rabenorakel

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