Читать книгу Ein zweites Leben - Francois Jullien - Страница 8

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Hinter ihren Gedanken, tatsächlich hinter allem Übrigen, bemerkt eine Figur aus einem modernen Roman, bereits im fortgeschrittenen Alter, wie sich, während sie den Vorhang vom Fenster wegzieht, das Haus gegenüber und die Straße betrachtet, eine Frage unmerklich einschleicht. Die Frage bildet ein Loch in ihren frühmorgendlichen Träumereien: Warum lebe ich noch weiter? Eines hellsichtigen Tages kann sie die Frage nicht länger vermeiden. Sogar wenn sie keinen so ärmlichen Ehemann gehabt hätte, hätte Emma sie sich gestellt. Es stimmt, eine solche Frage – vielmehr handelt es sich um die Frage, in ihrer ganzen Trivialität und Rohheit – kann man hastig begraben, man kann sie unter den Sorgen des Tages einschläfern. Doch sie treibt um, man trägt sie mit sich. Der Romancier früherer Zeiten (noch Stendhal) hatte ein leichtes Spiel, seine Figuren zu exekutieren, sie auf die eine oder andere Weise loszuwerden, oder seinen Roman schlicht unvollendet zu lassen, wenn er nichts mehr mit ihnen anzufangen wusste: wenn sie die Entdeckung des Lebens ausgelebt hatten; wenn sie sich hinreichend an Liebe und Ehrgeiz versucht hatten; wenn sie hinter eine Vielzahl von Illusionen gedrungen waren und allzu viel Klarheit erlangt hatten. Aber dieser Bequemlichkeit des Romanhaften geben wir uns nicht mehr hin. Außerdem ist man nicht der Romanautor seines eigenen Lebens.

Tatsächlich leben wir nicht mehr in jenem Zeitalter, in dem sich die philosophische Fragestellung mit ausreichend Abstand zum Subjekt auf mehrere Ebenen verteilen ließ, die einander ohne weitere Diskrepanzen gegenüberstehen und sich koordinieren: Was kann ich „wissen“ – was soll ich „tun“ – was darf ich „hoffen“. Erkenntnis, Moral und Unsterblichkeitsglaube stellen keine Zwecke mehr dar, die sich für allgemeingültig und von vornherein legitim halten. Denn die Wissenschaft ist nunmehr von Zweifeln hinsichtlich ihres Gebrauchs ergriffen, die Tugend ist bis in ihre Ursprünge hinein, die man für heilig hielt, verdächtig geworden, und der Glaube tut sich schwer, irgendein Jenseits, sei es nun eines der Geschichte oder eines des Heils, glaubhaft zu machen. Daher also sind wir, durch eine noch nicht hinreichend untersuchte stille Verkehrung, von einer Moral der Vorschrift – jener der Vernunftregeln, der Verhaltensimperative oder des Dogmas – zu einer Ethik der Förderung übergegangen. Unser Fragen hat sich auf die menschliche Fähigkeit zurückgezogen, das Leben als Existenz zu entfalten. Was bedeutet jedoch „existieren“, wenn ich daraus – indem ich es dem Denken des Seins ablocke, um darauf ein Denken des Lebens zu gründen – das moderne Verb mache, den entscheidenden Begriff, um den alles sich dreht? Aus ihm geht dieser frühmorgendliche Gedanke hervor: Wird es mir gelingen, mich von meinem früheren Leben – von meinem in seiner Welt festgefahrenen Leben – zu lösen, um einen neuen Tag zu beginnen? Oder um die Bedingung dieser Frage zu erhellen: Bin ich heute soweit gekommen, mir mein vergangenes Leben zunutze zu machen, um, indem ich darauf zurückkomme und mich davon absetze, mein Leben nicht mehr zu wiederholen, sondern es „wiederaufzunehmen“, um mein Leben reformieren und endlich damit beginnen zu können, wirklich zu „existieren“?

Eine solche Fragestellung lässt sich zwar auch auf der Ebene des gegenwärtigen Persönlichkeitsentwicklungs- und Glücksmarkts formulieren, um sich in Hinblick auf sie möglichst billig zu beruhigen. Man kann sie im Rahmen schön zurechtgehobelter Weisheitsbanalitäten einfassen und dabei ein mehr oder weniger heiteres Sichabfinden anstreben. Doch ebenso kann man sich philosophisch mit ihr auseinandersetzen wollen, um einen mutigeren Ausgang zu suchen – das heißt einen erfinderischen.

Ebendies werde ich hier vorschlagen, indem ich das Konzept eines zweiten Lebens entwickle.

Ein zweites Leben

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