Читать книгу Ein zweites Leben - Francois Jullien - Страница 9
I. Ein neuer Anfang?
ОглавлениеWir haben nur ein Leben, das ist ganz offenkundig. Wir können unser Leben nicht verlassen und wieder zu ihm zurückkehren. Kaum ist man sich seiner selbst bewusst geworden, stellt man fest, dass man in dieser kontinuierlichen Partie eingeschlossen ist, die uns von Akt zu Akt führt, von Stunde zu Stunde, vom Schlaf zum Wachen, ohne Zäsur oder Unterbrechung, ohne Pause und ohne Zwischenspiel, ohne Einhalt und Ruhe – ohne eine „sichere Rast“: In dieser Partie gibt es kein Draußen, von wo aus man seinen Platz neuerlich einnehmen könnte. In einer zügigen Bewegung geht es vom Aufschwung der Jugend bis hin zur Erschöpfung: „ein Leben“. Wir haben kein Leben zum Auswechseln und kein Ersatzleben. Wir können das Leben nicht von Neuem ausspielen, wie man einen Würfel ein zweites Mal wirft oder wie man einen Spielstein vom Brett entfernt und neu setzt – wie Antiphon sagte: anathesthai ton bion ouk estin. Das Leben kann kein zweites Mal gespielt werden, es ist keine Partie, die man neu beginnen kann. Deshalb muss man sich, schließt der Moralist, voll und ganz in den gegenwärtigen Augenblick einbringen, da dieser Augenblick niemals wiederkehren kann, und sich hüten, Dinge zu verschleppen. Deswegen darf man das Leben nicht verschieben, indem man sich stets nur vorbereitet und alles auf morgen vertagt, ohne je zu leben. – Oder aber es wird behauptet, es gebe ein „anderes Leben“, für das dieses hier tatsächlich nur Vorbereitung und schmerzvolle Vorausschau ist: das Leben im Jenseits, das „wahre Leben“, vera vita, im „Paradies“, das Leben, das entschädigt und belohnt, auf das man wartet, das der Glaube verspricht und dessen Eingangstür der Tod ist. Dann erst hebt sich angeblich ein Vorhang und das Leben kann beginnen …
Nun werde ich mich hier von dem einen wie vom anderen lossagen, vom Glauben ebenso wie von der „Evidenz“, um mir die Frage zu stellen, ob nicht ein „zweites“ Leben möglich und sogar erreichbar ist. Um mich zu fragen, ob im Leben nicht ein neuer Anfang statthaben kann, ohne dass man doch ein Anderswo oder eine Hoffnung beschwören müsste; ohne der Versuchung nachzugeben, einen unmöglich zu rechtfertigenden Bruch in der Erfahrung einzuführen: Dieser würde die Prozesshaftigkeit zertrümmern, die den Lauf des Lebens ausmacht und auf die allein ich mich folglich verlassen kann, ohne in die alte Mythologie von der Auslöschung des Vergangenen und von der Wiedergeburt zurückzufallen. Inwieweit kann ich – innerhalb der Kontinuität meines Lebens – von neuem zu leben beginnen? Das zweite Leben kann, da es kein anderes Leben gibt, nur dieses Leben hier sein, wobei es sich fortsetzt und zugleich ausreichend von sich selbst dissoziiert, sodass ein Neubeginn sich abzeichnen kann, sodass etwas in unserem Leben neu ausgespielt werden kann. Und sogar so, dass unser Leben in seinem Ablauf selbst ein neues Leben gebären kann, das durch Abstandnehmen vom vorherigen – das heißt durch eine Abkehr vom gewöhnlichen Leben, durch ein Ausscheren aus dessen Spurrille, ektos patou – ein Leben ist, das endlich anfangen kann. Das also nunmehr auf Grundlage dessen gewählt wird, was bereits darin zu erkennen war. Dieses zweite Leben ist ein befördertes Leben, in dem wir endlich zu existieren beginnen.
Dies also, ohne dass ein Einschnitt verkündet würde, ohne ein großes, von außen kommendes Ereignis oder eine Bekehrung. Ohne Sturz vom Ross, der uns eines Tages auf Haaresbreite dem Tod nahegebracht hätte. Ohne einen Wagenunfall, auf den die Offenbarung folgt: ohne dass die Kutsche gegen die Brüstung des Pont de Neuilly hätte prallen müssen und umgekippt wäre1 – da ist kein Schleier, von dem man hoffen könnte, dass er plötzlich durch irgendeine Katastrophe zerrissen wird und dass dahinter eine Wahrheit zum Vorschein kommt. Dieses „zweite Leben“ geht aus der Immanenz des Lebens selbst hervor, eines Lebens allerdings, das so weit elaboriert und reflektiert worden, so sehr zur Übereinstimmung gelangt ist, dass irgendetwas, das es noch einengte, sich allmählich ganz von selbst endgültig gelöst hat; dass eine Entscheidung stumm herangereift ist, sich vertieft und bestärkt hat, auf die man sich immer besser stützen kann, um sich ein wenig von sich selbst zu lösen, vom Haftvermögen der eigenen Vergangenheit, und sein Leben neu zu beginnen. In diskreter Weise überdenken wir unser Leben, es erhält neuen Schwung, lichtet seine Verpflichtungen aus und gibt neue Möglichkeiten frei, bis man eines Tages, sich diese heimlichen Windungen zunutze machend, hinreichend Abstand erlangen kann, um erstmals imstande zu sein, sein Leben als Ganzes neu zu betrachten und ihm eine neue Orientierung zu geben: es von der Last zu befreien, die es beschwerte, die Stricke zu lösen, die es umfingen und banden, in einer „Flaute“, am Dock – und ihm einen neuen Aufbruch zu schenken. Oder ist es nicht gar womöglich der erste?
Man kann also von einem „zweiten Leben“ sprechen, nicht etwa weil man plötzlich mit einer „zweiten Sicht“ begabt wäre, sondern weil sich in dem Blick, den man aufs Leben richtet, allmählich etwas Verstand abgelagert hat, weil über Nacht eine Art Klarsicht gekommen ist, sodass man endlich wahrzunehmen beginnt, nicht etwa hinter den Dingen – aufgrund eines Risses, der die Wahrheit einer anderen Ordnung, die uns sonst verborgen wäre, sichtbar macht –, sondern durch sie hindurch. Im dicken Teig des Lebens würden damit Zusammenhänge durchscheinen, die man zuvor nicht bemerkt hat. Das bedeutet, dass man nun eine Feinzeichnung des Lebens zu erkennen beginnt, die in seinem Flechtwerk Konfigurationen sichtbar macht, innerlicher als man geglaubt hätte, und vor allem als man es uns je gelehrt hat (könnte man das überhaupt?) – das möchte ich Luzidität nennen. Sie zeichnen ein ganz anderes Bild als jenes, das man vom Leben anfangs wahrgenommen hatte, sie breiten sich vor unseren Augen aus, während sie zugleich in der Materie des Lebens selbst eingeschlossen – „begriffen“ – sind und sich von ihr nicht ablösen lassen. Auch errichten sie abseits des Konkreten keine andere Erkenntnisebene, die theoretischer oder metaphysischer Ordnung wäre, sondern bleiben „im Elemente“ der Erfahrung, dieses Mal jedoch der gewahrten. Gewöhnlich ist es die Literatur (der Roman), die sie explizit macht, nicht die Philosophie. Weil sie nicht abstrakt sind, können sie neuen Halt geben, nicht einen Zugriff auf das Leben (wobei dieses „auf“ die ragende Distanz eines Äußeren bezeichnete), sondern Halt im Leben, das heißt in seinem Grundgewebe und seiner stofflichen Dichte: auf gleicher Höhe mit dem Leben und seinem einzigartigen Ablauf. Denn wenn die Erfahrung sich klärt, wandelt sich der Horizont und eine andere innere Szene taucht auf. Nicht ein Jenseits wird projektiert, sondern unerforschte Ressourcen werden unten, im Diesseits entdeckt. Ist dieses zweite Leben nicht womöglich etwas wie ein „zweiter Wind“, oder sagen wir eine zweite Chance (chaance: die Weise, wie einmal die Würfel gefallen sind)? Dann muss man sich allerdings fragen, was dieses „zweite“ bedeuten kann.
Denn die Rede von einem „neuen“ Leben (Neuanfang), wie ich sie zunächst vorgebracht habe, ist ihrerseits nicht ganz zutreffend, beruft sich noch zu sehr auf die Vorstellung und die Bequemlichkeit eines „Einschnitts“ – sie war nur ein Versuch anzudeuten, worum es geht. Denn ein neues Leben, das man auf Wunsch herbeibeschwört und das mit einem Schlag unsere Existenz völlig verändern würde, ist nicht möglich. Es sei denn man projiziert, wie ich schon sagte, den Bruch einer Bekehrung hinein, entblößt den „alten Menschen“, den palaios anthropos, komplett und kleidet ihn neu ein, wie es das religiöse Denken gerühmt hat – doch müsste man damit den „Skandal“ hinnehmen, den ein solcher Hiatus mit seiner Willkür für die Vernunft darstellt. Und schleppt man nicht etwa trotz der verkündeten Befreiung immer noch alle möglichen Lumpen der Vergangenheit mit sich herum? Es gibt kein so großes Ereignis oder Aufwallen, nicht einmal auf dem Weg nach Damaskus, dass es das Leben radikal verändern könnte – allerhöchstens kann es sich um eine Umkehr handeln. Deswegen ist ein zweites Leben immer nur in der Fortsetzung dessen möglich, was man rückblickend das „erste“ nennen wird. Von diesem grenzt es sich unmerklich ab, ehe es sich behauptet. Stets wird ein zweites Leben stufenweise extrahiert, es setzt sich ab, indem es sich allmählich dem eingeschlagenen Lebensweg entzieht, obwohl es zugleich von diesem herrührt, und eröffnet dabei wieder neue Möglichkeiten: durch langsame Reifung, minimale Veränderungen, kaum sichtbare oder anekdotisch scheinende Abweichungen, die sich jedoch nach und nach miteinander verbinden, sich verzweigen, verstärken und gerinnen, sich strecken und an Intensität gewinnen, bis sie erste Umstürze hervorrufen, die noch weitgehend unserer Aufmerksamkeit entgehen, während man schon beginnt, sie anzunehmen.
Natürlich möchte man zu jedem Jahresende an das neue Jahr, ans „Neujahr“ glauben: an die Möglichkeit eines „Neuanfangs“ – der Ausdruck selbst ist so verlockend; an die Macht der Resolution – der Revolution –, die auf einen Schlag alles neu beleben könnte. „Heute nun ändere ich mich …“ – wer hat sich das noch nie gesagt? Doch trotz all dieser Bemühungen und des guten Willens bleibt es dennoch beim „frommen“ Wunsch. Ich kann, wenn es auch nur symbolisch ist, das Datum dieses Neuanfangs fixieren, doch vergebens. Ich kann dekretieren, so wie es der Erzähler (aus Im Schatten junger Mädchenblüte2) Gilberte schreiben will, dass „wir vom 1. Januar an eine ganz neue Freundschaft aufbauen werden“, „so beständig, dass sie durch nichts zu zerstören ist …“. Ich kann glauben, wie in einem Glaubensakt, bei Null anzusetzen und alles neu zu beginnen: „Gilberte noch einmal neu kennenzulernen, so wie im Moment der Schöpfung“, also so, „als ob noch keine Vergangenheit existierte“. Gleichwohl bleibt das alte und quälende Begehren bestehen – das Begehren, sie zu lieben, oder bessergesagt das Begehren, dass sie mich liebe – ein starrköpfiges und dauerhaftes Begehren. Von ihm ausgehend, von diesem Sockel, der mich zum Lehnsmann der Vergangenheit macht, projektiere ich in utopischer Weise einen Einschnitt. Wenn man also, fährt Proust fort, „wie man die blinden Gesetze der Natur mit einer Religion überlagert“, versuchen will, „dem Neujahrstag die bestimmte Vorstellung aufzuprägen, die ich mir von ihm gemacht hatte“, bleibt das doch vergebens. In diesen Dämmerstunden des ersten Tages hatte ich, unterwegs auf der Straße, „die ewiggleiche, gewöhnliche Materie, die wohlbekannte Feuchtigkeit, die ahnungslose Fluidität der alten Tagen wiedererkannt“. Ein Ich-Subjekt, wie stark auch sein Wunsch sein mag, Neues in sein Leben einzuschreiben, und sogar wenn es sich auf seine Initiative versteift, kann weder die es umgebende, prägnante, stagnierende Verhüllung der Welt noch ihren „isotopischen“ Gehalt („Feuchtigkeit“, sagt Proust) durchbrechen. Das Leben, und zwar vor allem in mir selbst, bleibt nur allzu sehr sich selbst verhaftet.
Man kann also das Spiel nicht neu beginnen: zu glauben, ein „neues Leben“ anzuschneiden, die Szene von einem (ersten) Anfang weg neu zu spielen – „dé-but“: der Würfel (dé) fällt zum ersten Mal. Hat es aber tatsächlich einen ersten Anfang gegeben? Wenn sich die Frage stellt: Inwieweit kann man im Leben eine Initiative wiederfinden, indem man es von dem loslöst, was es gewesen ist? – dann verlangt dieses Fragen, selbst ins Vorher verschoben zu werden. Haben wir, wenn dieses „Wiederfinden der Initiative“ an sich problematisch ist, überhaupt je eine erste Initiative gekannt? Denn wenn es auch so etwas wie einen Anfang (ein initium) gegeben haben muss, wie viel „Initiative“ des Subjekts hat dieser zugelassen? Nicht nur stand ein solches „Subjekt“ bei diesem ersten Mal unter Einfluss (des Milieus, der Sprache, der Erziehung usw.: alles dessen, wovon sich Descartes’ cogito befreien will), vielmehr waren wir, als wir, wie man sagt, „ins Leben traten“, recht unfähig zu wählen, wie wir leben wollten, und machten kaum die Erfahrung eines ersten Beginnens. Wenngleich wir dabei durchaus etwas treffen mussten, was sich in Form von „Entscheidungen“ (über die Lebensweise, den Beruf, die Liebe …) vergegenständlichte, wählten wir zum größten Teil blind: Nicht nur wussten wir nicht, was wir wählten, sondern vor allem wussten wir nicht einmal, dass wir wählten. Es hat nie den ersten – furchtbar abstrakten – Augenblick gegeben, wo wir tatsächlich angefangen haben zu entscheiden, was für ein Leben wir „wollen“. Diese „ersten“ von uns getroffenen Entscheidungen nämlich stellten sich erst nachträglich als „Entscheidungen“ heraus, waren aber doch ziemlich endgültig; was uns zu diesen Entscheidungen veranlasst hat – und zunächst dahin geführt hat, dass da überhaupt eine Wahl (ein Anfang) war –, das ist uns entgangen.
Erst in einer zweiten Phase also kann sich, selbst wenn ein „neuer“ Anfang folglich nicht möglich ist, etwas abzeichnen, was einem Anfang ähnelt; kann etwas, was einer Auswahl nahekommt, entstehen. Nur durch die Klärung unserer Erfahrung und ein Abstandnehmen von dem, was sie unaufhörlich impliziert und aufdrängt oder eindämmt, kann etwas, was einer Initiative wenigstens sehr nahe kommt, hervortreten. Denn erst in dem, was sich allmählich als mögliche zweite Phase abzeichnet, nachdem man begonnen hat, in der Feinzeichnung wahrzunehmen, worum es im Leben geht, das heißt, nachdem man auch begonnen hat, die möglichen Wirkkräfte eben in diesem Grundstoff des bereits begonnenen Lebens zu erkennen, kann man auf sein Leben zurückkommen und anfangen, dieses Leben effektiver zu leben. Wird die Bedingung, die ein solch spukhaftes Beginnen ermöglicht, nicht womöglich erst gegen Ende verwirklicht? Denn zum Zeitpunkt des berühmten Einstands im Leben hatten wir zu ihm keine Distanz und daher auch kein Bewusstsein vom (für das) Beginnen. Wenn wir nunmehr jedoch auf das vergangene Leben zurückblicken, kommen wir dieser Fähigkeit, etwas in Gang zu setzen, näher. Das „Neue“ („erste“) ist utopisch (der mythische Anfang); indes hat sich das zweite, das sich von diesem Anfang abhebt, der als solcher nie existiert hat, unter der Hand eingeschleust und sozusagen dazwischen-geschoben. Ein neues Leben mag es zwar nicht geben, doch in der Wiederaufnahme (reprise) des Lebens kann man sich nunmehr – indem man korrigiert, was im Leben womöglich schlecht gewählt worden war, vor allem aber indem man sich in die Lage versetzt, durch den erlangten Abstand dort wählen zu können, wo vorher keine Wahl bestand – „heraushalten“ (ex-sistere heißt es auf Latein), sich außerhalb dessen halten, was das Leben bestimmte und in Grenzen fasste, von denen man nicht einmal wusste, dass man ihnen unterworfen war: Man kann beginnen, aus den Begrenzungen hinauszutreten, die man für schicksalshaft oder wesenhaft abgesteckt hielt, und in der Folge kann man beginnen – im eigentlichen Sinn des Wortes, der hier aber zu begünstigen sein wird – zu „ex-istieren“.