Читать книгу Hume. Eine Einführung - Frank Brosow - Страница 4

[7]Einleitung: Was macht einen philosophischen Klassiker aus?

Оглавление

David Hume (1711–1776) gilt vielen Philosophiehistorikern weltweit als der bedeutendste Denker1 des englischen Sprachraums. Immanuel Kant (1724–1804) gibt an, erst Hume habe ihn aus seinem dogmatischen Schlummer geweckt. Arthur Schopenhauer (1788–1860) zufolge ist aus einer Seite der Hume’schen Werke mehr zu lernen als aus allen Schriften Hegels, Herbarts und Schleiermachers zusammen. Hegel (1770–1831) selbst schließt sich diesem Urteil zwar nicht an, sieht in Hume jedoch neben Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) einen der beiden Ausgangspunkte der deutschen Philosophie.

Über Humes herausragende philosophiehistorische Bedeutung besteht also breite Einigkeit. Ungeachtet dessen ist sein Bekanntheitsgrad in der Bevölkerung nicht sonderlich hoch. So stellt sich die Frage, was es eigentlich bedeutet, jemandem den Status eines philosophischen Klassikers zuzuerkennen.

Ein Außenstehender, der sich zum ersten Mal mit Philosophie beschäftigt, kann leicht den Eindruck gewinnen, dass Philosophen seit über zweitausend Jahren über dieselben Probleme diskutieren, ohne jemals zu einem Ergebnis im Sinne einer von allen anerkannten Lösung zu gelangen. Es wäre jedoch ein Fehler, aus der Vielzahl der noch heute diskutierten Lösungsansätze auf die generelle Fruchtlosigkeit philosophischer Überlegungen zu schließen. Einer derartigen Denkweise liegt ein grundsätzliches Missverständnis der Ziele und Zwecke philosophischen Denkens zugrunde. Dieses Missverständnis lässt sich vielleicht am besten an einem Beispiel aus dem Alltag veranschaulichen:

Stellen Sie sich vor, Sie fragen in einer fremden Stadt verschiedene Passanten nach dem Weg zum Bahnhof. [8]Wahrscheinlich werden Sie eine Vielzahl verschiedener Antworten erhalten. Aber würden Sie aus dieser Tatsache folgern, dass keiner der Gefragten den Weg zum Bahnhof kennt, dass sich die genaue Position des Bahnhofs nicht zuverlässig ermitteln lässt oder dass die Stadt am Ende vielleicht gar keinen Bahnhof hat? Sicher nicht.

Der offensichtlichste Grund für die Unterschiede zwischen den verschiedenen Wegbeschreibungen ist Ihr jeweiliger Standort. Wenn Sie auf dem Marktplatz nach dem Weg zum Bahnhof fragen, werden Sie andere Antworten erhalten, als wenn Sie dieselbe Frage am Stadtrand stellen. Bei genauerem Hinsehen werden Sie außerdem feststellen, dass viele der Wegbeschreibungen keine unterschiedlichen Wege beschreiben, sondern sich nur unterschiedlicher Begriffe oder Methoden bedienen, um denselben Weg zu beschreiben. Wenn Sie alle falschen oder ungenauen Wegbeschreibungen verworfen haben, die Sie nicht zu Ihrem Ziel, sondern stattdessen in eine Sackgasse oder vielleicht zum Busbahnhof führen, werden noch immer mehrere verschiedene taugliche Wegbeschreibungen übrig bleiben. Welche davon die beste ist, wird sich nicht eindeutig entscheiden lassen, denn der interessanteste Weg wird nur selten mit dem schnellsten, kürzesten oder einfachsten zusammenfallen, und die genauste Art der Wegbeschreibung ist meist nicht gleichzeitig auch die einprägsamste.

Die Pointe dieses Vergleichs ist die folgende: Natürlich müssen Sie nicht alle Wege und ihre unterschiedlichen Beschreibungsmöglichkeiten kennen, um zum Bahnhof zu gelangen. In der Praxis reicht es meist aus, sich einen einzigen möglichen Weg auf eine einzige Art beschreiben zu lassen. Aber solange Sie nur diesen einen Weg zum Bahnhof kennen und nur wenige Arten beherrschen, ihn zu beschreiben, können Sie nicht behaupten, sich in der Stadt tatsächlich auszukennen. Und wenn Sie schließlich nach aufwendigen Untersuchungen die [9]nötige Ortskenntnis erworben haben, so lässt sich dieses Expertenwissen nicht in Form einfacher Antworten an andere weitergeben.

Genau hier liegt die Parallele zum Projekt der Philosophie. Als »Liebe zur Weisheit« geht es ihr darum, die Grenzen sinnvollen Denkens abzustecken und das Gebiet innerhalb dieser Grenzen möglichst vollständig und detailliert zu kartografieren. Dieses abstrakte Ziel lässt sich nur durch das Nachdenken über konkrete philosophische Fragestellungen erreichen. Die Beschäftigung mit Einzelproblemen ist dabei jedoch niemals reiner Selbstzweck, sondern immer auch ein Mittel zum übergeordneten Zweck, das menschliche Denken im Ganzen zu verstehen.

Aus diesem Grunde macht es wenig Sinn, einen Philosophiehistoriker nach der einen (objektiv) richtigen oder zumindest besten Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Kausalität, der Freiheit des menschlichen Willens oder der Quelle der moralischen Verbindlichkeit zu fragen. Mit der Forderung nach einer einzigen, einfachen Antwort lässt der Fragende bereits erkennen, dass es ihm nicht um ein tieferes Verständnis des Problems, sondern um triviales Faktenwissen geht. Es verwundert daher nicht, dass viele Philosophen auf derartige Fragen zuweilen höchst unkooperativ reagieren.

Die Philosophie produziert nicht in der Weise Antworten, wie die Automobilbranche Autos produziert. Philosophen sind auch keine Dienstleister, die für andere abstrakte Probleme lösen, so wie ein Uhrmacher eine stehen gebliebene Uhr repariert. Die Philosophie ist ihrem Selbstverständnis nach nicht dazu da, den Menschen das Nachdenken abzunehmen; sie will sie vielmehr zum eigenen Nachdenken anregen und anleiten. Anders als viele andere Wissenschaften, die öffentlich für ihren gesellschaftlichen Nutzen gelobt werden, will sie das Leben der Menschen nicht einfacher, sondern komplexer [10]machen und gerade dadurch auf eine ihr eigentümliche Art bereichern. Ihr großer Feind ist damit nicht etwa die Unwissenheit, sondern die Einfältigkeit, die nach Bernard Williams darin besteht, »zu wenig Gedanken und Gefühle zu haben, um die Welt, wie sie ist, zu begreifen«2.

Wenn herausragenden Denkern wie David Hume der Status eines Klassikers der Philosophiegeschichte zugesprochen wird, so bedeutet das, dass diese Personen das Projekt der Philosophie um einen bedeutenden Schritt vorangebracht haben. Ihre besondere Leistung besteht in der Regel nicht darin, ein bestimmtes Problem ein für alle Mal gelöst und damit weitere Diskussionen darüber überflüssig gemacht zu haben. Sie besteht vielmehr darin, eine neue Art und Weise aufgezeigt zu haben, wie man über die grundlegenden Probleme der Menschheit nachdenken kann.

Warum also lohnt sich die Beschäftigung mit David Humes Philosophie? Weil sie Ihr Denken bereichern wird! Und das ist wahrscheinlich das schönste Kompliment, das man einem Philosophen machen kann.

Das übergeordnete Ziel dieser Einführung wird es daher sein, die systematischen Besonderheiten von Humes philosophischer Methode herauszuarbeiten und am Beispiel der wichtigsten Themengebiete aus dem breiten Spektrum der Hume’schen Philosophie zu veranschaulichen.

Zu nahezu jedem zentralen Begriff und zu jedem Argumentationsstrang der Hume’schen Schriften finden sich in der Sekundärliteratur weit verzweigte Diskussionen. Nicht immer herrscht Einigkeit über die systematische Relevanz und die angemessene Auslegung bestimmter Textstellen,3 und vielfach ergeben sich Spannungen zwischen einzelnen Werken,4 die manchmal auf Inkonsistenzen, in anderen Fällen auf eine inhaltliche Weiterentwicklung der Hume’schen Position hindeuten. Zudem hat es zu keinem Zeitpunkt der [11]Rezeptionsgeschichte an Beiträgen gemangelt, die in kritischer Absicht auf die systematischen Probleme des Hume’schen Ansatzes hingewiesen haben. In Deutschland erfolgt diese Kritik nicht selten aus kantischer Perspektive, während im englischen Sprachraum zumeist die isolierte Betrachtung systematisch interessanter Einzelprobleme im Vordergrund steht.

Wenn die vorliegende Einführung all diese Diskussionen allenfalls am Rande erwähnt, so geschieht dies nicht, um die in ihnen angesprochenen Probleme zu bagatellisieren, sondern in der Absicht, eine erste Grundlage für ihr Verständnis und ihre Diskussion zu schaffen. Wer Humes Argumente in ihrer Vielschichtigkeit würdigen und einer systematischen Kritik unterziehen will, sollte sich zunächst einen Überblick darüber verschaffen, was seinen Ansatz eigentlich ausmacht. Erst vor dem Hintergrund eines solchen Maßstabs, der bis zu einem gewissen Grad stets subjektiv bleiben wird, können die vielfältigen Deutungsansätze und Argumente der Sekundärliteratur ihrerseits auf ihre Angemessenheit hin untersucht werden. Die vorliegende Einführung möchte Ihnen helfen, einen solchen Maßstab zu entwickeln. Gleichzeitig empfiehlt es sich jedoch, sich gegenüber Humes Argumenten und ihrer Darstellung stets eine gewisse (für Hume so typische) Skepsis zu bewahren. Da dieser Text kein Kommentar zu Humes Schriften sein will, sondern sich als eine problemorientierte Einführung in die Hume’sche Art zu denken versteht, werden Humes Argumente nicht in derjenigen Reihenfolge dargestellt, in der er sie in seinen Texten behandelt, sondern in ihrem systematischen Zusammenhang erläutert und durch Beispiele veranschaulicht.

Hume. Eine Einführung

Подняться наверх