Читать книгу Giotto und die Ursprünge der neuzeitlichen Bildauffassung - Frank Büttner - Страница 7
1. Einführung
ОглавлениеIn der italienischen Malerei vollzog sich um 1300 ein epochaler Wandel, mit dem der europäischen Kunst neue Wege gewiesen wurden. Diese Feststellung ist in der Kunstgeschichtsschreibung ein wohlbekannter und immer wieder neu bekräftigter Topos, für den erste Belege bereits im 14. Jahrhundert zu finden sind. In seinem gegen 1390 abgeschlossenen Werk ‘De origine civitatis florentie, et de eiusdem famosis civibus’ schrieb Filippo Villani, dass Cimabue die antike Malerei wieder erneuert habe, nachdem sie durch viele Jahrhunderte hindurch im Dienst einer plumpen Praxis daniedergelegen und sich immer mehr von der Naturähnlichkeit entfernt habe. Giotto, „der nicht nur mit den antiken Malern zu vergleichen, sondern ihnen vorzuziehen ist“, habe der Malerei dann endgültig „ihre alte Würde und ihren sehr guten Namen wiedergegeben“. Denn „seine Bilder stimmen so mit den Umrissen der Natur überein, dass sie dem Betrachter zu leben und zu atmen scheinen, indem sie auch Handlungen und Gesten so charakteristisch abzubilden scheinen, als ob sie sprechen, weinen, sich freuen oder anderes tun, so dass sie nicht ohne Vergnügen des Betrachters, der die geschickte Hand des Künstlers lobt, angeschaut werden: viele – und nicht die Dümmsten – meinen nämlich, dass die Maler von nicht geringerer Begabung sind als jene, die durch die artes liberales zu Magistern wurden …“.1
Villani bekräftigte und differenzierte, was vor ihm schon Boccaccio in seinem ‘Decameron’ über Giotto geschrieben hatte: „… er war mit so vorzüglichen Talenten begabt, dass die Natur […] nichts hervorbringt, was er mit Griffel, Feder oder Pinsel nicht dem Urbild so ähnlich darzustellen gewusst hätte, dass es nicht als ein Abbild, sondern als die Sache selbst erschienen wäre, weshalb denn der Gesichtssinn der Menschen nicht selten irregeleitet ward und für wirklich hielt, was nur gemalt war.“2 Villani bezog sich zugleich auf Petrarcas Diagnose, der Giotto wie Simone Martini an die Seite der antiken Meister gestellt hatte, als Exempel der Rückbesinnung auf die antiqui und der Überwindung der Verirrungen des medii aevi.3
Das zentrale Argument, die Rückkehr der Kunst zur Naturnähe, wurde später von Ghiberti noch verstärkt, der an den Anfang seines Berichtes über den Wiederaufstieg der Kunst in der Toskana die Legende von der Entdeckung Giottos durch Cimabue stellte. Giotto, der Hirtenjunge gewesen sein soll, habe auf einen Stein ein Schaf gezeichnet und Cimabue habe sofort Giottos außerordentliche, „von der Natur“ empfangene Begabung erkannt.4 Hinter dieser Legende steht ein schon in der Antike nachweisbarer Topos von der Natur als der einzigen Lehrmeisterin der Kunst.5 Auch Vasari berichtete diese Legende.6 Zum Topos wurde auch das von Villani vorgebrachte Lob der lebendigen Affektdarstellung, das Alberti mit seiner Bewunderung für Giottos „Navicella“ bekräftigte.7 „Naturalismus“ oder „Realismus“ wurden zum zentralen Charakteristikum der Kunst Giottos erklärt, der zugleich immer mehr zu der Schlüsselfigur des Wandels wurde, mit dem der Weg zur Renaissance eröffnet wurde. Die Kunstgeschichtsschreibung des 20. Jahrhundert hat dieses Urteil vielfach bestätigt.8 Zugleich wurden neue Akzente gesetzt. Hier ist vor allem auf Theodor Hetzer hinzuweisen, der die Begründung des neuzeitlichen Bildbegriffs als Giottos epochale Leistung herausstellte.9
Zunehmend größeres Gewicht in der Beurteilung der Leistung Giottos erhielten in jüngerer Zeit seine Neuerungen in der „Raumdarstellung“, insbesondere seit Panofskys Aufsatz über ‘Die Perspektive als ‘symbolische’ Form’, in dem es heißt, dass Giotto und Duccio „die moderne perspektivische Raumanschauung“ begründet hätten. Ihr Werk markiere den entscheidenden historischen Wendepunkt, an dem „das an der Architektur und namentlich an der Plastik erstarkte nordisch-gotische Raumgefühl sich der in der byzantinischen Malerei nur bruchstückweise bewahrten Architektur und Landschaftsformen [scil, der antiken Malerei F. B.] bemächtigt und zu einer neuen Einheit zusammenschweißt“.10
Mit dieser stilgeschichtlichen Begründung des Wandels wird man sich heute nicht mehr zufrieden geben können. Doch erstaunlicherweise hat man nach konkreten Gründen, die hinter dem Wandel stehen könnten, kaum gefragt. Aus der Sicht einer autonomen Stilgeschichte hat die Wiederentdeckung und Inkraftsetzung des antiken Postulates der Naturnachahmung die Entwicklung geradezu zwangsläufig in Gang gebracht. Die Raumdarstellung Giottos und Duccios wird dabei als erster Schritt hin zur Entwicklung der linearperspektivischen Konstruktion gesehen. Das ist eine teleologische Sicht, die höchst fragwürdig ist. Die linearperspektivische Konstruktion, die erstmals von Alberti 1435 kodifiziert wurde, wird zum absolut gültigen Gesetz erhoben und jedes Werk wird daran gemessen, ob es in der Entwicklungslinie steht, die zur Perspektive hinführt, ob es einen Fortschritt auf dem Wege dahin bedeutet oder ob es hinter dieser als zwangsläufig angesehenen Entwicklung zurückbleibt. Als treibende Kraft, die hinter diesem Prozess steht, wird seit Dvořáks „Kunstgeschichte als Geistesgeschichte“ gerne auf den weltanschaulichen Wandel hingewiesen, ohne dass konkret benannt wird, worin ein solcher Zusammenhang bestanden und wie er sich ausgewirkt haben könnte.11
Der unbestreitbar tiefgreifende Wandel der Bildauffassung um 1300 kann nicht einfach als Resultat einer neuen „naturalistischen“ Einstellung der Künstler erklärt werden und auch nicht als eine einfache Weiterentwicklung tradierter Darstellungsschemata, so wesentlich diese im Prozess der Kunstgeschichte auch sind.12 Auch der Hinweis auf die Rezeption der antiken Malerei, den Serena Romano jüngst gegeben hat, kann diesen Wandel nicht wirklich erklären, denn die wenigen aus der Spätantike erhaltenen Malereien, die damals bekannt waren, standen den Künstlern lange genug vor Augen, ohne einen Einfluss auszuüben.13 Die Frage bleibt, warum die Künstler die antiken Vorbilder erst jetzt für sich entdeckt haben sollen. Die These, die ich im Folgenden vorstellen und begründen möchte, lautet, dass etwa seit der Mitte des 13. Jahrhunderts grundsätzlich neu gedacht wurde, was das Bild leisten kann und soll. Entscheidende Voraussetzung dafür war ein radikaler Umbruch in der Auffassung vom Sehen, der für uns vor allem in neuen Lehren von der Physiologie und der Psychologie der visuellen Wahrnehmung fassbar ist.14
1 Filippo Villani, De origine civitatis florentie, et de eiusdem famosis civibus, cap. XXVI: „De plerisque pictoribus florentinis famosis et presertim de Giotto artis predicte iam deperite restauratore.“ „Inter quos primus Johannes, cui cognomento Cimabue dictum est, antiquatam picturam et a nature similitudine quasi lascivam et vagantem longius arte et ingenio revocavit. Siquidem ante istum grecam latinamque picturam per multa secula sub crasse peritie ministerio iacuisse, ut plane ostendunt figure et imagines que in tabellis parietibusque cernuntur sanctorum ecclesias adornare. Post hunc, strata iam in novis via, Giottus, non solum illustris fame decore antiquis pictoribus comparandus, sed arte et ingenio preferendus, in pristinam dignitatem nomenque maximum picturam restituit. Huius enim figurate radio imagines ita lineamentis nature conveniunt, ut vivere et aerem spirare contuentibus videantur, exemplares etiam actus gestusque conficere adeo proprie, ut loqui, flere, letari et alia agere, non sine delectatione contuentis et laudantis ingenium manumque artificis prospectentur: extimantibus multis, nec stulte quidem, pictores non inferioris ingenii his, quos liberales artes fecere magistros, cum illi artium precepta scripturis demandata studio atque doctrina percipiant, hii solum ab alto ingenio tenacique memoria, que in arte sentiant, exigant.“ (Zit. nach: Schwarz/Theis 2004, S. 288).
2 Giovanni Boccaccio, Decameron, (Tutte le opere, hrsg. von Vittore Branca, Bd. IV), Mailand 1976, S. 550f. „e l’altro, il cui nome fu Giotto, ebbe uno ingegno di tanta eccellenzia, che niuna cosa dà la natura, madre di tutte le cose e operatrice col continuo girar de’ cieli, che egli con lo stile e con la penna o col pennello non dipignesse sì simile a quella, che non simile, anzi più tosto dessa paresse, in tanto che molte volte nelle cose da lui fatte si truova che il visivo senso degli uomini vi prese errore, quello credendo esser vero che era dipinto.“
3 Ulrich Pfisterer: Donatello und die Entdeckung der Stile 1430–1445, München 2002, S. 80–82; Karlheinz Stierle: Francesco Petrarca, ein Intellektueller im Europa des 14. Jahrhunderts, Darmstadt 2003, S. 749–752.
4 Ghiberti/Bartoli 1998, S. 83; vgl.: Ernst Kris; Otto Kurz: Die Legende vom Künstler, ein geschichtlicher Versuch, Frankfurt/M. 1980; Schwarz/Theis 2004, S. 14–18.
5 Plinius, Naturalis historia, XXXIV. XIX, 61.
6 Vgl. Schwarz/Theis 2004, S. 303–324.
7 Alberti/Bätschmann 2000, S. 272 (De pictura, II,42)
8 Beispielsweise bei Robert Oertel: Die Frühzeit der italienischen Malerei, Stuttgart [u.a.] 1966, S. 9: „… so steht Giotto am Anfang einer viele Jahrhunderte umspannenden Entwicklung der Malerei“; oder Alastair Smart: The dawn of Italian painting, 1250–1400, Oxford 1978, S. 1: „… in the years around 1300 the artists had begun to explore the natural world as had scarcely been done since classical antiquity – creating a convincing pictorial space, modelling figures in the round and giving them live, and introducing firmly designed buildings and enchanting passages of landscape“.
9 Hetzer 1960, passim.
10 Erwin Panofsky: Die Perspektive als ‘symbolische Form’. In: Vorträge der Bibliothek Warburg 1924–1925 (1927) (= Panofsky 1927/1998, S. 714); Panofsky hat diese Sicht später noch einmal bekräftigt: Panofsky 1969, S. 135.
11 Panofsky spricht im Hinblick auf Giotto und Duccio von einer der „hochscholastischen Übergangsanschauung entsprechenden Räumlichkeit“, die durch die weitere Entwicklung bis zur Erfindung der konstruierten Perspektive – von ihm mit „der großen Entwicklung vom Aggregatraum zum Systemraum“ parallel gesetzt – überwunden wurde. In der gleichen Zeit habe „das abstrakte Denken den immer noch verschleierten Bruch mit der Aristotelischen Weltanschauung […] vollzogen“ und den neuzeitlichen Begriff der Unendlichkeit entwickelt (Panofsky 1927/1998, S. 740). Die Entwicklung der Perspektive ist eben – im Sinne des von Cassirer geprägten Begriffs – „symbolische Form“ der geistigen Entwicklung. „Die Entdeckung des Fluchtpunktes“, als des „Bildes der unendlich fernen Punkte sämtlicher Tiefenlinien“, war für ihn gleichsam das „Symbol für die Entdeckung des Unendlichen selbst“ (Panofsky 1927/1998, S.718). Dieser These ist zu widersprechen. Der Fluchtpunkt spielte in den ersten Perspektivexperimenten nachweislich keine Rolle, noch weniger das Konzept des Unendlichen. Vgl. Büttner 2006, S. 201f.
12 Dazu Gombrich 1986, passim, insbes. S. 141–201.
13 Romano 2008, passim.
14 Summers 1987 beschrieb den Wandel, der sich im späten Mittelalter, angestoßen durch die Rezeption der antiken Philosophie, in der Psychologie der Sinneswahrnehmung vollzogen hat. Auf die Frage eines möglichen Einflusses der Optik auf die Bildkunst des 14. und 15. Jahrhunderts ist er nicht konkret eingegangen.