Читать книгу Immer eine Handbreit Wasser unterm Kiel - Frank Didden - Страница 4
ОглавлениеDer Regen prasselte auf meine Autoscheibe. Der Scheibenwischer ging seiner scheinbaren Sisyphos-Arbeit nach. Er räumte mir den Weg frei. Im Grunde erleichterte er mir nur meine Sicht auf die nasse Fahrbahn, aber mir kam es in diesem Moment vor, als würde dieses unermüdliche Stück Gummi mir den neuen Weg bereiten. Den neuen Weg zu meiner neuen Arbeit.
Es war Mittwoch, der 5. September 2012. In den vergangen vier Tagen war ich den üblichen Erledigungen nachgegangen, die man in diesem Land zu erledigen hatte, wenn man den kleinen Wahnsinn eines Umzugs auf sich nahm. Strömender Regen, Umzugswagen, Stau, Vollsperrung, Einwohnermeldeamt, Straßenverkehrsamt und – ganz wichtig für Menschen, die beabsichtigen in die schöne Hansestadt Bremen zu ziehen – ein Heimspiel von Werder. Seines Zeichens Fußballbundesligist.
Sicherlich muss nicht für jeden Menschen ein Umzug nach Bremen an einem Heimspieltag von Werder eine negative Erfahrung sein. Trotzdem sollte man an jene besonnene Umzugswillige das Wort richten und Ihnen raten, doch einen kurzen Blick in den Bundesligaspielplan zu werfen, bevor man konkrete Umzugspläne in Erwägung zieht. Aber langsam. Fangen wir ein wenig weiter in der Vergangenheit an.
Mein Name ist Tobias Renneisen. An dem besagten Mittwoch war ich 35 Jahre und, wegen einer neuen Arbeit, frisch nach Bremen gezogen. Zuvor längere Zeit arbeitslos und letztlich einer von diesen fragwürdigen Empfängern des Arbeitslosengeldes 2. Nun mag mancher denken, was an einem ALG-2-Empfänger fragwürdig sei? Dies ist keine schlechte Frage.
Fragwürdig, also im Sinn des Wortes »einer Frage würdig«, war letztlich der Umstand meiner Nichtbeschäftigung. Wenn man wie ich ein Hochschulstudium in einer Ingenieurwissenschaft erfolgreich absolviert hat, trotz medialer Beteuerung, dass doch von der Industrie händeringend Ingenieure gesucht werden, keine Arbeit findet, dann ist das einer Frage würdig. Leider konnte ich damals keine Antwort darauf finden. Nun ließe sich mit Sicherheit vortrefflich über diesen Sachverhalt diskutieren. Aber würde dies im Nachhinein nur wenig Sinn machen. Auch ließe sich darüber diskutieren, ob dieser Umstand ärgerlich, traurig oder sogar witzig war. Ganz ehrlich? Heute, vier Jahre später und erneut arbeitslos, finde ich es witzig.
Vor vier Jahren, also kurz vor dem Zeitpunkt, wo ich endlich die neue Arbeit in Bremen zugesagt habe, war mir nicht zum Lachen. Damals lag eine knapp 18-monatige Arbeitslosigkeit hinter mir und ich war sicherlich nicht der ausgeglichenste Zeitgenosse. Zuvor hatte ich eine gute Stelle an der Hochschule meines Geburtsortes. Gut in dem Sinne, was man heutzutage als gut bezeichnet. Eine Arbeit halt. Überstunden, tun, was der Chef sagt, Schnauze halten, und selig dafür dankbar sein, pünktlich Lohn zu erhalten und gelegentlich leise nach Urlaub Fragen zu dürfen. Nachdem sich mir die Erkenntnis auftat, dass ich bei einer 40-Stunden-Woche und regelmäßig 25 geleisteten Überstunden im selben Zeitraum, ohne Möglichkeit auf Zeit- oder Finanzausgleich, eigentlich ein bisschen wenig verdiene, änderte sich schlagartig das Verhältnis zwischen mir und meinem Chef. Er war nämlich plötzlich gar nicht mehr mein Chef. Das übernahm jetzt die Bundesagentur für Arbeit.
Bei der Bundesagentur war die Bezahlung natürlich schlechter, soll heißen, das Geld am Ende des Monats, dass ich auf dem Konto hatte, war substantiell weniger. Der umgerechnete Stundenlohn bei nunmehr 65 Stunden pro Woche weniger Arbeit, war dahingegen natürlich in astronomische Höhen geschnellt. Was mir im ersten Monat meiner Arbeitslosigkeit noch als entspannender Glücksfall vorkam, stellte sich nach Monaten des sich erfolglosen Bewerbens und Jobabsagen in dreistelliger Höhe, als ausgesprochen frustrierend heraus. So konnte zwangsläufig nur passieren, was nach meinem Erreichen der Hartz IV-Phase geschah.
Ich geriet gehörig mit meiner Schwester aneinander. Ich konnte zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht erahnen, welche weitreichenden Folgen meine Worte »Dann besorg mir halt einen Job« haben sollten. Ungefähr sechs Wochen später bestätigte sich die im Volksmund einhellig vertretene Meinung, dass Vitamin B bei der Arbeitssuche am besten hilft. Ich hatte eine Arbeitsstelle im 400 Kilometer von meinem Wohn- und Heimatort entfernten Bremen. Warum hatte ich an diese Möglichkeit nicht vorher gedacht?
Vollkommen fachfremd war ich in einer Firma untergekommen, deren Kerngeschäft die Einrichtung von Schiffen war. Hiermit war in erster Linie die Einrichtung der Schiffe mit Möbeln gemeint. Da das Unternehmen zukünftig den Kundenbereich der Schiffsausrüster beziehungsweise der Zwischenhändler stärker und insbesondere besser betreuen wollte, wurde meine Einstellung durch die Geschäftsführung eingeleitet. Zum Zeitpunkt meiner Einstellung war auf der Position ein Kollege tätig, dessen verdienter Ruhestand jedoch schon in naher Zukunft liegen würde.
Bremen sollte also nun das Ziel meiner weiteren Bemühungen sein, die bekanntlich im Falle eines Umzugs auf einen zukommen. Die relativ kurz gestaltete Wohnungssuche im Rahmen eines Kurzaufenthaltes in meiner neuen Heimat, brachte eine schnuckelige, kleine Wohnung hervor, direkt in einem angesagten Bremer Stadtteil nahe dem Stadion des genannten Fußballvereins. Teilweise eingerichtet, bot sie für mich die ideale Option, auf möglichst schnellem Wege mit verhältnismäßig geringen Kosten den erforderlichen Stadtwechsel vorzunehmen.
Die Planung für den Umzug nahm daher auch sehr schnell Gestalt an. Meine nicht übermäßige Habe sollte auf, einem kleinen handelsüblichen Transporter geladen, von meinem Bruder in die Hansestadt gefahren werden, während ich selbst mit meinem eigenen Auto vorneweg fahren würde. Soweit war die Planung hieb- und stichfest. Pflichtbewusst kam mein Bruder dann auch am Vorabend des Umzugs, also am Freitag den 31. August, mit besagtem Transporter zu mir und wir luden meine Habseligkeiten ein. Mit Gazellen gleicher Agilität war dies auch in strammen drei Stunden erledigt. Der Transporter war beladen. Alles war gepackt. Alles, bis auf mein Fahrrad. Natürlich. Ein Teil hat man bekanntlich ja immer. Das letzte Teil wollte einfach nicht passen. Sowie das letzte Bier am darauffolgenden Tag grundsätzlich das Bier war, was schlecht war, stellte sich das Fahrrad als das Teil heraus, was allem Anschein nach nicht mit nach Bremen wollte. Überflüssig zu erwähnen, dass mein Bruder und ich die Angelegenheit wie echte Männer angingen. Bier auf, halben Transporter entladen, Fahrrad rein und den Rest wieder beladen. Drei Stunden später, war der Transporter voll und fertig für die Abreise.
Da es zu diesem Zeitpunkt bereits gegen 22 Uhr abends geschlagen hatte, sollten wir uns standesgemäß mit einem weiteren Bier zum Feierabend belohnen. Wahrscheinlich hätte das auch gut funktioniert, wenn nicht meine liebe Schwester noch angerufen hätte. Am Telefon gestaltete sich dieses Gespräch vergleichsweise kurz und verlief in etwa so:
»Hallo!«
»Hallo!«
»Und, alles für den Umzug gepackt?«
»Ja, gerade fertig geworden.«
»Okay. Sag mal, du weißt ja, dass morgen Werder spielt?«
»Öhm, nein. Wieso?«
»Na ja, also, wenn Werder spielt, dann ...«
Der weitere Verlauf des Gesprächs hatte dann ziemlich viel mit Verblüffung und Fassungslosigkeit, aber auch mit schierer Panik zu tun. Die knapp gehaltene Information meiner Schwester, dass die in Bremen zuständigen, örtlichen Behörden bei Heimspielen des Fußballvereins den Bereich um das Stadion sowie das Viertel meines zukünftigen Wohnortes für jeglichen Autoverkehr abriegeln, kam unerwartet. Ja, kam spät. Woher sollte ich das wissen! Selbst wenn ich gewusst hätte, dass der Verein an diesem Wochenende spielt, hätte ich im schlimmsten Fall mit erhöhtem Verkehrsaufkommen gerechnet. Dass der Verkehr seitens der Polizei an solchen Tagen aber gänzlich beseitigt wird, war eine Tragweite, auf die ich nicht vorbereitet war. Zwar gab mir meine Schwester auch zu verstehen, dass die besagte Sperrung ja auch wieder aufgehoben würde, aber bei einer genaueren zeitlichen Erfassung konnte sie mir leider nicht helfen. Da musste dann schon die zuständige Polizei selbst zu Informationszwecken herhalten.
Nachdem ich über Umwege eine Telefonnummer herausbekommen hatte, schließlich genossen alle meine internetfähigen Geräte mittlerweile ihren wohlverdienten Feierabend auf der Ladefläche eines Transporters, war es mir möglich, eine aussagekräftige Bremer Dienststelle anzurufen. Es wäre unnötig, jegliche Details des Gesprächs zu wiederholen. Der Kern des Telefonats war dieser:
»Die Sperrung wird noch vor Ende des Spiels aufgehoben.«
»Und wie viel Uhr ist das?«
»Na, vor dem Ende halt.«
»So gegen vier?«
»Später.«
»So gegen fünf?«
»Später.«
»Aber, die spielen doch nur bis Viertel nach fünf!«
»Dann doch früher!«
Damit war der zeitliche Rahmen schon ziemlich genau eingegrenzt, weswegen ich im Anschluss versuchte, mir noch exaktere Informationen zu besorgen.
»Okay. Gibt’s noch eine andere Möglichkeit in das Viertel zu kommen?«
»Es gibt Bescheinigungen für Anwohner.«
»So eine habe ich noch nicht.«
»Dann gibt’s keine andere Möglichkeit.«
»Aber ich bin doch Anwohner!«
»Sie können auch Ihren Personalausweis zeigen. Da steht ja auch Ihre Adresse. Mit etwas Glück lassen die Kollegen Sie dann ausnahmsweise doch durch.«
»Aber ich ziehe morgen doch erst um. Ich kann mich erst am Montag ummelden, wenn ich in Bremen bin.«
»Ach so. Na, dann gibt’s keine andere Möglichkeit.«
»Aber der Umzug ist seit längerem geplant.«
»Die Bundesliga hat früher geplant.«
Die Polizei, dein Freund und Helfer, hatte gesprochen. Alle Probleme waren weiterhin ungelöst. Natürlich konnte ich auch nicht wirklich erwarten, dass die Bundesliga Rücksicht auf meine Umzugspläne nahm. Andererseits war die Planung der Bundesliga meinem zukünftigen Chef gleichfalls vollkommen egal. Was sollte es ihn scheren, dass meine Umzugsorganisation ins Wanken geraten war? Es konnte ihm schließlich gleich sein und das zurecht. Es konnte sein, wie es wollte, am kommenden Tag musste umgezogen werden.
Und so begann der folgende Tag dann auch mit der zu erwartenden Euphorie. Die Art Euphorie, die man verspürt, wenn man hunderte Kilometer mit einem Umzugswagen quer durch Deutschland fahren will, ohne zu wissen, ob der Türsteher am Ziel einen überhaupt reinlässt. Vor diesem Hintergrund war es dann auch ein Zeichen göttlicher Fügung, das die A1 zwischen Osnabrück und Bremen kurz vor dem Eintreffen meines Bruders und mir gesperrt wurde. Vollsperrung wegen Unfall. Der Ortskundige - und zu dieser Kategorie Menschen konnte ich mich damals ja noch nicht zählen – weiß, wie sackgassengleich eine Vollsperrung dieses Autobahnabschnitts sein kann. Sicher, jede Vollsperrung einer Autobahn in Deutschland hat letztlich etwas von einer Sackgasse, aber dieser Teilabschnitt gehört zu den Autobahnen, von denen es kaum ein Entkommen gibt.
Grundsätzlich gibt es in einem solchen Moment nur zwei Möglichkeiten: Erstens, man folgt den Umleitungsschildern, und zweitens, man bleibt auf der Autobahn und steht im Stau. Ich entschied mich für Option 1 und stand auf der Landstraße im Stau. Mein Bruder, der etwa eine halbe Stunde hinter mir fuhr, wählte Option 3. Ich vergaß, Option 3 zu erwähnen? Das ist die Möglichkeit, die nächste Raststätte anzufahren und gemütlich ein paar Zigaretten zu rauchen, bis die Vollsperrung aufgehoben ist. Wie gesagt, mein Bruder wählte diese Möglichkeit. Während ich also vier Stunden im Stau über Landstraßen und durch kleine Ortschaften geführt wurde, trank mein Bruder den einen oder anderen Kaffee. Während die hinter und vor mir im Stau wartenden Menschen gelegentlich ihre Fahrzeuge verließen, um mal im nächsten Gestrüpp austreten zu gehen, was natürlich zunächst von mir belächelt wurde, nutzte mein Bruder die Zeit für einen ruhigen Nikotinkonsum. Und während mein Bruder schon längst wieder hinter dem Steuer im Transporter saß und die nicht mehr gesperrte A1 Richtung Bremen entlangfuhr, watete ich durch regennassen, morastigen Feldboden, um einen von der Straße abgelegenen Baum zu erreichen. Als ich danach endlich meine Reise fortsetzen konnte - zu meiner freudigen Überraschung löste sich auch der Stau auf der Landstraße langsam auf - erreichte ich wenig später meine neue Wohnung, wo ich von meinem Bruder mit den Worten: »Wo bleibst du? Ich warte schon seit einer Stunde« in Empfang genommen wurde.
Nach meiner Ankunft in Bremen war dann glücklicherweise auch das Werder-Spiel kein Thema mehr. Dieses war nach meiner ungefähr neunstündigen Fahrt für eine gut 400km lange Strecke natürlich längst vorbei. Werder hatte gegen den HSV gewonnen, der Derby-Ausnahmezustand war weitergezogen und der Weg zu meiner Wohnung gestaltete sich als erfreulich frei. Der Umzug konnte endlich seinen Abschluss finden. Die diversen Um- und Anmeldungen an den kommenden Tagen gestalteten sich wenig spektakulär. Nachdem die meisten Formalien abgeschlossen waren und ich mich einigermaßen in meiner kleinen Wohnung eingerichtet hatte, war ich in meiner neuen Heimat angekommen. Mein erster Arbeitstag war gekommen.