Читать книгу Immer eine Handbreit Wasser unterm Kiel - Frank Didden - Страница 8

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Montag, 10. Dezember 2012

Es lagen die ersten drei Monate meiner Arbeit bei der Klabautermann GmbH in Bremen fast hinter mir. Heute war Montag und das sogenannte Jahresendgeschäft florierte wie jedes Jahr ganz überraschend mit unbeständiger Härte. Eigentlich war es gar nicht mehr möglich, alle Aufträge noch im laufenden Jahr ausliefern zu können. Natürlich wusste das jeder, doch keiner nannte das Kind beim Namen. Wie mir mitgeteilt wurde, bestand die alljährliche Taktik darin, den Kunden auf das kommende Jahr zu vertrösten, wohl wissend, dass man auch im Januar nicht den ganzen Bestand aufarbeiten konnte.

Die internen Strukturen im Unternehmen wiesen im Jahresendgeschäft für mich ihre ersten erkennbaren Schwächen auf. Zu diesem Zeitpunkt war das Arbeitsaufkommen so hoch, dass die zu bewältigenden Tabellen und Checklisten stellenweise fehlerhaft oder unvollständig waren. Das führte zu Unmut zwischen Kollegen und letztlich auch beim Kunden, da dieser natürlich ebenfalls nicht korrekt beliefert wurde.

Bis zu Anfang meiner Tätigkeit hatte ich selbstverständlich die ein oder andere Tabelle für meine tägliche Arbeit überreicht bekommen. So musste eine Liste geführt werden, wo alle für das Jahr wichtigen Angebote, Aufträge und Rechnungen – also die Bestände - eingetragen wurden. Diese Liste wurde durch eine weitere Liste ergänzt, wo die entsprechende terminliche Auftragsplanung von jedem Verantwortlichen eingetragen wurde. Persönlich führte ich noch eine Arbeitszeitentabelle, da mir von den Kollegen hierzu geraten wurde. Eine andere Erfassung der Arbeitszeiten gab es offenkundig nicht.

Eine weitere Tabelle kam ergänzend hinzu, worin die aktuelle Auslastung im Detail eingetragen und optisch dargestellt wurde. Hierdurch sollte die Planung der einzelnen Projektleiter im Vertrieb erleichtert werden, ungeachtet der Tatsache, dass sie es letztlich waren, die diese Tabelle zu pflegen hatten.

Die Checklisten, mit denen ich in meiner Anfangszeit zu arbeiten hatte, waren überschaubar. Es mussten natürlich Checklisten für Zeichnungsaufträge, Bestellauftrag und Montageaufträge erstellt werden. Hervorgehend aus dem vorweihnachtlichen Chaos und der damit beim Kunden einhergehenden Fehlermenge, wurden zwei neue Checklisten in den Prozessen eingeführt. Dem Bestellauftrag wurde ein Bestellvorschlag vorgeschaltet, um dem Einkauf die Möglichkeit der Auftragskontrolle zu ermöglichen. Ähnliches wurde im Rahmen der Montage durch die Schaffung eines Vormontageauftrages erreicht. Tendenziell schien niemandem in der Firma aufzufallen, dass die Bezeichnung des Projektleiters in eine Form des Projektbittstellers umgewandelt wurde.

Die Anzahl der Besprechungen im Unternehmen nahm zu, da nun wöchentlich Montagebesprechungen abgehalten wurden. Bei diesen Besprechungen legten die einzelnen Projektleiter ihre dem Kunden zugesagten Termine in der Gruppe vor dem Geschäftsführer dar. Dieser entschied dann letztlich über die Ausführung oder Nicht-Ausführung der Montagen. Insbesondere die Nicht-Ausführung erfreute sich im Kreis der Kunden einer stetigen Beliebtheit. F.S. Mester schaffte jedoch regelmäßig eine weitere Steigerung dieser Beliebtheit durch konsequente Nicht-Preisgabe eines eventuellen Ersatztermins. »Schließlich«, so Mester, »würde der Kunde es schon sehen, wann die Monteure vor der Tür stehen!«

Mit etwas Glück vielleicht zum selben Zeitpunkt, an dem ich meine Kollegen heute im Büro sehen würde. Gähnende Leere herrschte nämlich an diesem Morgen im Büro der Klabautermann GmbH. Um zwanzig Minuten nach acht war dies auch durchaus verständlich, denn schließlich hatte die reguläre Arbeitszeit erst vor zwanzig Minuten begonnen.

Mein, mir in der kurzen Zeit ans Herz gewachsener Kollege, Herr Justus, hatte im vergangenen Monat im Unternehmen die Segel gestrichen und hatte uns verlassen. In den wohlverdienten Ruhestand, dessen Zeitpunkt er offensichtlich lange für sich behalten hatte. Nur Geschäftsführer Mester war natürlich frühzeitig informiert worden und hatte noch eine kleine Abschiedsfeier organisiert. Mit Schnittchen und Sekt hatten die Mitarbeiter der kleinen Firma ihrem ältesten Kollegen eine gute Reise und einen schönen Ruhestand gewünscht. Auch ich bedauerte schon früh den Weggang des stets netten, höflichen und hilfsbereiten Kollegen, auf dessen enormen Erfahrungsschatz ich in meiner Anfangszeit sicherlich gerne einmal zurückgegriffen hatte. Diese Option bestand nun zwar nicht mehr, doch sah ich mich den kommenden Herausforderungen gewappnet gegenüber. Zumindest, weitestgehend.

An jenem Morgen im Dezember war es sicherlich ganz angenehm, ein wenig Ruhe zum Arbeiten zu haben. Trotzdem hätte ich es wegen des sturmklingelnden Telefons der Zentrale allmählich gut gefunden, wenn meine Kollegen eingetroffen wären. Glücklicherweise geschah dies auch zehn Minuten später, wobei die einheitliche Verspätung aller übrigen Büromitarbeiter mit dem »brutalen Berufsverkehr« begründet wurde.

Und, auch wenn ich meist pünktlich im Büro war, ich konnte diese Begründung durchaus nachvollziehen. Denn, um es einmal vorsichtig zu formulieren, in Bremen und Umgebung Auto zu fahren, macht in etwa so viel Spaß, wie das Ausreißen der eigenen Fingernägel. Da das komplette innerstädtische Verkehrssystem immer mehr und nachhaltiger auf die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel und Drahtesel ausgelegt ist, entspricht die Nutzung eines handelsüblichen PKW, um von A nach B zu gelangen, einer vergleichbaren traumatischen Erfahrung im Rahmen einer Grundausbildung bei der französischen Fremdenlegion. Wenn dieses, für Autofahrer absolut katastrophales Verkehrsführungssystem, dann auch noch durch Behinderungen jedweder Art – Unfälle, Bauarbeiten, Gummi-Entchen auf der Fahrbahn – überproportional belastet wird, erfolgt der totale Zusammenbruch. Ähnlich einem schwarzen Loch, das unter dem Verkehrssystem einbricht, wird verschluckt, was sich nicht rechtzeitig retten kann.

Auch ich hatte an diesem Morgen auf meinem Weg zur Arbeit die Erfahrung gemacht, seitens der Stadt Bremen als liebevoll umsorgter, Steuern zahlender Autofahrer behandelt zu werden. Zunächst fand ich am Scheibenwischer meines Autos einen Liebesbrief des Ordnungsamtes der Stadt, wo ich höflich darauf hingewiesen wurde, dass ich »trotz eines Verkehrsverbots zur Verminderung schädlicher Luftverunreinigungen mit einem nicht zulässigen Kraftfahrzeug am Verkehr teilnahm«. Hierzu sei erläutert, dass meinem Fahrzeug gemäß Richtlinie eine sogenannte »gelbe Plakette« zusteht, die Innenstadt von Bremen aber eine Umweltzone ist, die nur mit der »grünen Plakette« befahren werden darf. Nun ist es vielleicht noch interessant zu wissen, dass ich ganz am Rande dieser Umweltzone wohne, nämlich genau fünfzig Meter hinter der Grenze zu dieser Zone. An jenem Morgen stand ich ziemlich genau eine Wagenlänge hinter dem Verkehrsschild zum Beginn der Umweltzone. Ich benötige weder auf meinem Weg zur Arbeit, noch zurück von selbiger ein Durchqueren der Umweltzone.

Trotzdem fühlte ich mich an jenem Morgen bei Durchlesen des Liebesbriefes natürlich sofort schuldig, wegen dieser umweltvernichtenden Tat, und bereute umgehend mein hierdurch schriftlich bestätigtes, fahrlässiges Töten von zwanzig Heulern, dreißig Katzen, vierzig Hunden, einhundertfünfzig irgendwelches weiteren Viehzeugs und das ungefragte Abholzen des halben Regenwaldes. Mit dieser Reue in meinen Gedanken fragte ich mich, ob das Papier war, auf dem der kleine Hinweis des Ordnungsamtes stand und ob die Umweltverträglichkeit von sogenanntem »Thermopapier« eigentlich mittlerweile geklärt war.

Die weiteren Erfahrungen auf meinem Weg zur Arbeit waren von ebensolcher Liebe durch die Stadt gegenüber ihren Autofahrern geprägt. Es hatte die ganze Nacht leicht geschneit und die Landschaft hatte sich in wunderschönes, winterliches Weiß gekleidet. Die Wiesen waren nicht mehr grün, sondern hatten sich, genauso wie die Bäume, ein vorweihnachtliches Kleid angezogen. In den leichten winterlichen Brisen, die von Osten über das Antlitz der Stadt bliesen, versuchte hier und da ein Bäumelein, das Kleidchen abzuschütteln, doch die Pracht der nahenden weißen Weihnachtszeit, blieb hartnäckig in den Kronen der Natur. Und hartnäckig auf den Straßen der Stadt. Denn, im Gegensatz zu den unzähligen Fahrradwegen, die morgens um sieben Uhr schon geräumt und gestreut waren, wurden die Straßen von Bremen grundsätzlich erst nach dem Schneefall geräumt. Und zwar meist erst in der Jahreszeit nach dem Schneefall. Also, wirklich erst dann, wenn der letzte Schnee im wahrsten Sinne des Wortes »gefallen« war. Also nicht nur vom Himmel, sondern auch von den Dächern und Bäumen und so weiter. Leider war man an diesem Morgen soweit noch lange nicht. Und so schlitterte ich mehr schlecht als recht mit meinem Umweltmonster auf vier Rädern in Richtung Klabautermann GmbH und winkte, in den kurzen Pausen meiner Rutschpartie, den lustig an mir vorüberfahrenden Drahteseln den Mittelfinger zu.

Wie schon gesagt, ich hatte an jenem Morgen vollstes Verständnis für meine Arbeitskollegen, die zwar verspätet, nun aber immerhin vollzählig in der Kaffeeküche bei ihrer verdienten Raucherpause standen.

»Was für ein Scheißwetter!«, war der erste Kommentar Detlefs, als auch ich zu der Gruppe stieß.

»Scheißwetter«, stimmten Alexander, Dennis, Finn und J.J. einhellig zu.

»Scheißtelefon«, ergänzte ich den gemeinsamen Kommentar.

»Was hatt´n das Telefon damit zu tun?«, fragte Dennis.

»Das klingelt hier seit einer Stunde Sturm«, erwiderte ich.

»Na und?«, Dennis sah mich weiterhin stutzend an.

»Die Kunden wollen wissen, wann wir endlich liefern.«

»Wenn unsere Monteure vor der Tür stehen«, grinste mich Alexander an.

Hierauf erwiderte ich nichts.

»Habt ihr heute wieder Montagebesprechung?«, fragte Finn an Detlef gerichtet.

Dieser bestätigte mit einem Nicken und zog an seiner Zigarette.

»Wieder um zehn Uhr, wie jede Woche?«, ergänzte Finn seine vorangegangene Frage.

»Klar«, antworteten Alexander und Detlef gleichzeitig.

»Nein, heute um elf«, antwortete Dennis. Während alle Anwesenden im Raum ihn fragend anschauten, fuhr er fort: »Denn Chef schafft es heute nicht bis zehn.«

Diese Information war für den übrigen Vertrieb in der kleinen Kaffeeküche neu und dementsprechend hellten sich die fragenden Mienen, nach der kurzen Ergänzung des korpulenten Auszubildenden, nicht sonderlich auf.

Dennis Brockmann, dessen Erscheinung man auch als gepflegt aber definitiv »nicht platzsparend« hätte beschreiben können, lehnte an der kleinen Küchenzeile und zog an seiner Zigarette. Generell, verstand ich mich mit dem Auszubildenden recht gut. Man konnte gut mit ihm reden, sowohl auf beruflicher, als auch auf privater Ebene. Darüber hinaus war mir in den vergangenen Wochen durchaus positiv aufgefallen, dass Dennis Brockmann, sofern er sich mit technischen Fragen an mich wandte, eine angenehm schnelle Auffassungsgabe besaß. Leider gab es auch eine Seite an dem jungen Mann, die mich gelegentlich stutzen und an der schnellen Auffassungsgabe zweifeln ließ.

»Und diese Info hast du woher?«, starrte Detlef Dennis an.

»Von Chef«, erwiderte der Auszubildende das Gestarre, doch trotzdem war kein Licht in den Gesichtsausdrücken der Anwesenden, und das schloss meinen Gesichtsausdruck ein, erkennbar. Die ganze Runde schaute Dennis nur noch weiter fragend an.

»Gibt es zu dieser Info auch noch eine Geschichte, ein bisschen Hintergrund, ein bisschen Deko?«, fragte ich letztens, nachdem ich spürbar den Eindruck gewann, dass der Auszubildende keine weiteren Ergänzungen folgen lassen wollte.

»Ich saß gestern, nach Feierabend, noch ein wenig mit Chef zusammen. Ham gequatscht. Kurz bevor ich gehen wollte, meinte er noch, ich soll euch den neuen Termin ausrichten.«

»Ah«, war sinngemäß die Reaktion, die Detlef, Alexander, Finn, J.J. und mir durch den Kopf ging.

»Ach ja«, ergänzte Dennis schnell, »und ihr sollt diesmal jeder eine tabellarische Aufstellung aller Montagen mitbringen!«

Das fragende Gestarre, das dank der kleinen Erläuterung Dennis kurzzeitig in den Gesichtern verschwunden war, war umgehend wiedererschienen.

»Hat Chef gesagt?«, fragte Finn.

»Ja.«

Darüber hinaus fand keine weitere Unterhaltung statt, denn die Raucher und die Nichtraucher hatten ihre kleine Pause beendet, und gingen wieder an ihre Schreibtische. Auch ich ging mit einem frisch aufgefüllten Kaffeebecher zurück an meinen Tisch und fing an, die nun nach hinten verlegte Besprechung vorzubereiten. Glücklicherweise benötigte ich keine allzu große weitere Vorbereitungszeit, da mir die durch mich geleiteten Montagen ohnehin als Tabelle vorlagen. Dennoch kam ich nicht ganz umhin über die Ereignisse, die sich zuvor abgespielt hatten, kurz nachzudenken. Und offensichtlich war ich nicht der Einzige, dem nach Nachdenken, beziehungsweise kurz darüber sprechen, zumute war. Alexander hatte auf dem kleinen Hocker, der in der Nähe meines Schreibtisches stand, Platz genommen und sprach mir mit gedämpfter Stimme zu: »Und?«

»Und was?«, erwiderte ich mit ebenfalls gedämpfter Stimme, damit nicht gleich jeder in dem Großraumbüro mithören konnte.

»Bin ich paranoid, oder lässt dich, was Dennis gesagt hat, nicht auch ein wenig grübeln, Tobi?«

»Ein wenig«, gab ich schnaufend zurück.

»Also?«, schaute er mich fragend an und veranlasste mich, weiter auf die Sache einzugehen.

»Also, lass mich das mal kurz zusammenfassen«, fing ich an. »Da ist also Dennis, einer unserer Azubis, und der sitzt nach Feierabend mit unserem Chef in seinem Büro. Und die beiden quatschen.«

»Das ist schon interessant.«

»Nun, letztlich können die beiden ja machen, was sie wollen, aber ja, das ist interessant.«

»Und?«, hakte Alexander weiter nach.

»Und das ist noch nicht einmal das, was mich am meisten stutzig macht.«

»Sondern?«

»Die Terminverschiebung und die Tabelle.«

»Dann geht’s dir, wie mir. Irgendwie verschafft mir das ein flaues Gefühl im Magen.«

»Mir auch«, erwiderte ich und setzte fort: »Irgendwie hab ich gerade das Gefühl, dass ich von einem Azubi im zweiten Lehrjahr innerhalb von einer Minute zwei Arbeitsanweisungen angenommen habe.«

Alexander lachte leise: »Ich auch!«

»Ich meine, es war so nur zwischen den Zeilen herauszuhören, und wir wollen jetzt hier auch nicht die große Welle machen, aber trotzdem ist mir dabei nicht ganz wohl.«

»Gut«, sagte Alexander. »Wir sind nur ein kleines Unternehmen und die Kommunikation läuft gerne den kurzen Weg, aber ...«

»Ja, aber irgendwie kommt man ins Grübeln.«

Alexander nickte mir bei diesen Worten zustimmend zu und erhob sich von seinem Hocker.

»Na ja«, sagte er abschließend, bevor er sich zum Gehen abwandte, »weiter beobachten und mal sehen, was die Montagebesprechung ergibt.«

Mit diesen Worten war der Kollege zu seinem Schreibtisch verschwunden und grüßte im Vorbeigehen Mester, der in diesem Moment in der Firma angekommen war und durch den großen Büroraum auf sein eigenes, abgetrenntes Büro zuschritt.

»Guten Morgen«, sagte Mester allgemein an den ganzen Raum gerichtet und deutete damit den Anwesenden, freundlichkeitsbewusst mit einem ebensolchen »Guten Morgen« zu antworten.

Der 46-jährige Geschäftsführer der Klabautermann GmbH in Bremen, Herr Frederick Salomon Mester, kurz F.S. Mester, war mit drei Worten grob und oberflächlich zu beschreiben: groß, korpulent und freundlich. Bei genauerer Betrachtung erschloss sich aber, dass diese Beschreibung noch durch drei weitere, detaillierte Wörter ergänzt werden konnte: ungepflegt, selbstgefällig und maximal-launisch. Wahrscheinlich ließen sich noch zwei weitere Dutzend Eigenschaftswörter finden, die die Person Mester noch besser und noch trefflicher hätten beschreiben können, doch der charakterliche Kern, war mit den letzten drei schon hinreichend gut beschrieben. Wirklich freundlich und aufgeschlossen hatte ich F.S. Mester bis zu diesem Zeitpunkt nur ein einziges Mal erlebt, und das war im Vorstellungsgespräch gewesen. Erst nach meiner Arbeitsaufnahme hatte ich erkannt, dass dieses erste Bild vorwiegend oberflächlich von mir erfasst worden war. Das genauere Kennenlernen meines Vorgesetzten und sein Verhalten den Kollegen und auch mir gegenüber, offenbarte schneller als mir recht war, eine ausgesprochen selbstgefällige Person. Sehr von sich und seinem Auftreten als Geschäftsführer und Unternehmer eingenommen, schien sein täglicher Aufgabenbereich darin zu bestehen, als Letzter im Laufe des Vormittags in die Firma zu kommen, seine Mitarbeiter über ihre – ganz im Gegensatz zu ihm – ausgesprochen schlechte Arbeit zu unterrichten und letztlich im frühen Nachmittag als Erster das Gelände der Firma wieder zu verlassen. Zwischendurch ging er mit seinem Hund, einem Mischling zwischen Papierkorbwühler, Mitarbeiterhosen-Besabberer und In-die-Ecke-Pisser, Gassi. Bei den mehrfachen Versuchen, dem Hund sein selbstgefälliges Verhalten abzugewöhnen, scheiterte Mester regelmäßig. Überrascht war davon nur er selbst.

Nachdem also der Geschäftsführer an jenem Morgen seine Bürotür aufgeschlossen hatte, hängte er seinen Mantel auf, ging an seinen Tisch, startete seinen Computer, nahm Block und Stift und schritt wieder aus seinem Büro heraus, wobei hinter ihm die Tür knallend in den Rahmen schlug. Es war mittlerweile kurz vor elf Uhr und sicherlich würde er Richtung Besprechungsraum unterwegs sein, um die anstehende Montageterminierung zu leiten. Welcher Höflichkeitsfloskel hierbei die scheppernde Tür entsprungen war, und welches Omen dies auf das nahende Meeting warf, sollte vornehmlich sein Geheimnis bleiben.

Der Besprechungsraum war eisig kalt und ich war bei Betreten des Raumes verwundert, dass nicht große, dicke Eiszapfen von der Decke hingen. Wie ich erfahren hatte, war bekanntermaßen die Dichtung im Fenster seit langem defekt und wurde aus Kostengründen nicht erneuert. Da es, wie zuvor schon erwähnt, kürzlich ausgiebig geschneit hatte, - was bei Außentemperaturen um den Gefrierpunkt in diesen Breitengraden gelegentlich vorkommen kann – hätte ich prinzipiell damit rechnen müssen, dass für den heutigen Arbeitstag ein Skianzug die richtige Arbeitskleidung gewesen wäre. Jeans und Pullover waren es eindeutig nicht, zumindest nicht zu dieser Gelegenheit. Da es mir indes zu kalt war zum Setzen und ich der Erste war, wartete ich im Stehen auf meine Kollegen und den Anfang des Terminbesprechungsmeetings.

Glücklicherweise musste ich nicht lange warten, denn schon wenige Minuten später kamen meine übrigen Vertriebskollegen, Alexander, Detlef und Dennis zu mir in den Besprechungsraum. Kaum, da sie sich gesetzt hatten, hörte man das Aufschwingen der Verbindungstür zur Montagehalle im Treppenhaus und die übrigen Herren Mester, Pangasius und Rosendahl betraten den Raum. Alle drei blickten sichtlich unentspannt und genervt, als sie sich jeder einen Stuhl nahmen und sich hinsetzten.

»So, meine Herren«, setzte Mester an die Runde gerichtet bereits an, da war die Tür hinter ihm noch nicht ganz ins Schloss gefallen, »wie ich soeben erfahren habe, gibt’s Probleme auf der Baustelle in Bremerhaven. Was sagen Sie dazu, Herr Renneisen?«

Der Geschäftsführer der Klabautermann GmbH schaute mich mit stechenden Augen an. Ich hielt dem Blick, so gut es ging, stand und schaute entschlossen, war mir jedoch bewusst, dass ich wohl eher wie ein Auto schaute. Ein sehr entschlossenes Auto. In erster Linie war ich nämlich entschlossen zu erfahren, worüber Mester überhaupt sprach.

»Welche Probleme?«, war dann auch meine logische Reaktion.

»Na«, giftete mich Mester umgehend an, »die Probleme, die dazu führen, dass wir die Baustelle nicht beenden können, einen unzufriedenen Kunden haben und keine Rechnung stellen können. Diese Probleme, Herr Renneisen.«

Ich schaute Mester fragend an. Mir war durchaus klar, dass sich mein Blick nicht wirklich geändert hatte, nur das nach meinem Auto-Blick von eben nun der Autopanne-Blick folgte. Meine Warnblinklichter leuchteten und ich stand total auf dem Schlauch. Mir war zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst, wie treffend die Problematik mit dem Wort »Schlauch« umschrieben wurde. Ich hatte bislang noch nicht ansatzweise verstanden, um welche Probleme es sich handelte, denn Mester hatte sich ja auch noch nicht geäußert. Zwar lag mir dementsprechend ein »Hä« auf der Zunge, aber in Anbetracht guter Manieren und der Tatsache, dass ich mit meinem Geschäftsführer sprach, erwiderte ich eloquent: »Ähm?«

»Genau, Herr Renneisen«, wieder wurde ich angegiftet. »Ähm umschreibt genau den Eindruck, den ich von Ihrer Baustelle habe. Wie kann man nur so stümperhaft arbeiten? Sind Sie eigentlich Projektleiter, oder was sind Sie hier in der Firma?«

»Ähm«, dachte ich diesmal nur, brachte es aber nicht über die Lippen.

»Jetzt müssen wir kommende Woche nochmal mit einem Monteur nach Bremerhaven, nur, weil wir da nicht fertig geworden sind. Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass Sie als Projektleiter die volle Verantwortung für das tragen, was auf der Baustelle passiert. Und das gilt nicht nur für Herr Renneisen, das gilt auch für Sie, Herr Dimitrios, und für Sie, Herr Meier!«

Eher beiläufig deutete er auf Dennis.

»Prinzipiell auch für Sie, Herr Brockmann, aber da Sie noch Auszubildender sind, kann ich Sie natürlich nicht in die Verantwortung nehmen!«

Ich schaute derweil immer noch wie ein Auto mit fünf platten Reifen und fragte mich die ganze Zeit, was denn bei einer so simplen Baustelle schiefgehen konnte. Sicherlich, ich wusste, dass selbst bei der einfachsten Sache etwas daneben gehen konnte, doch trotzdem zweifelte ich kurzzeitig, dass in Bremerhaven tatsächlich etwas falsch zu montieren war. Ich sollte mich irren. Mester machte dennoch keine Anstalten in irgendeiner Weise die Probleme zu erörtern.

»Was Bremerhaven angeht, Herr Renneisen, das können Sie nach der Besprechung mit Herrn Pangasius klären«, sprach Mester und wandte seinen Blick von mir ab. »Also, meine Herren, zur Montageplanung für die kommende Woche. Montag fährt ein Monteur wieder nach Bremerhaven, die Restarbeiten erledigen. Was liegt dann an?«

Nach der wenig erfreulichen Einleitung des Geschäftsführers entstand ein kurzes, betretendes Schweigen, was man auch als schöpferische Pause hätte interpretieren können. Nach sekundenlangem Erschaffen von irgendwelchen Gedanken, um eine Brücke zwischen der Einleitung und dem Fortführen der Montagebesprechung zu schlagen, brach schließlich der Kollege Meier mit dem ungestümen Blut eines jungen Mannes das Pausieren. Das war ein Fehler.

»Na ja«, antwortete Detlef, »ich hab dem Kunden PLW in Leer gesagt, dass wir nächste Woche endlich bei im Aufbauen.«

»Ich habe doch schon einmal gesagt, Herr Meier, dass Sie keine Zusagen treffen sollen, bevor ich den Plan nicht abgenickt habe.«

»Aber der Kunde wartet seit Mitte November«, erwiderte Detlef kleinlaut.

»Und wenn er seit Januar wartet, verdammt noch eins. Ich bin hier der große Häuptling, meine Herren! Ich sage hier was zu tun und zu lassen ist! Wann geht das endlich in Ihre Köpfe?«, brüllte Mester durch den kleinen Besprechungsraum.

»Es kann doch nicht sein, dass hier jeder tut, was er will. Herr Meier, wieso sagen Sie dem Kunden ohne mein Einverständnis, wir würden nächste Woche zu ihm kommen?«

Detlef schaute Mester mit großen Augen an und blieb still. Wir alle schauten den Geschäftsführer mit großen Augen an und waren sichtlich entgeistert, wegen des impulsiven Wutausbruchs. Es war der erfahrene Alexander, der auf die an Detlef gerichtete Frage antwortete: »Na, weil der Kunde, seit Mitte November wartet!«

Innerlich klatschte ich dem Kollegen für diese Antwort Applaus, denn sie war sowohl simpel als auch einleuchtend. Mester sah dies anders.

»Das ist doch keine Begründung«, brach es erneut aus ihm raus. »Soll der Kunde halt warten. Ich bin hier derjenige, der Ihre Gehälter bezahlt! Solange ich nicht sage, dass der LKW vom Hof fährt, fährt der LKW nicht vom Hof!«

Mester hatte sich längst von seinem Stuhl erhoben und stand mit warnendem Zeigefinger vor seinen Mitarbeitern und schnaufte.

»Ich bin hier derjenige, der sagt, was Sache ist. Ich bin hier der große Tombadur!«, brüllte Mester in die Runde der langsam taub werdenden Zuhörer. Alle schauten nach wie vor mit großen, fassungslosen Augen auf die allmählich grotesk wirkende Figur des Geschäftsführers. Ich war ebenso fassungslos, während ich zwar zuhörte, doch gleichfalls meine Gedanken um zwei existenzielle Fragen kreisten. Erstens, was gab es für Probleme in Bremerhaven und zweitens, was in Drei-Teufels-Namen ist ein großer Tombadur. Die Antwort auf die Probleme auf der Baustelle sollte ich sicherlich noch kurz nach dem Montagegebrüll erfahren. Zur zweiten Frage ergab eine spätere Internetrecherche bei der ersten Suchmaschine meiner Wahl als wichtigsten Treffer zu dem Suchbegriff »der große Tombadur« einen Querverweis zu der Seite »Die Kulturgeschichte der Kartoffel«. Das war, rückblickend betrachtet, sicherlich der passendste Titel zu allen Aussagen F.S. Mesters.

»Herr Pangasius«, Mester schaute den Betriebsleiter an, der sogleich leicht zusammenzuckte, »übernehmen Sie die Montagebesprechung ab hier. Ich habe Wichtigeres zu tun. Ich muss schließlich ein Unternehmen führen!«

Mit diesen Worten stürmte Mester aus dem Raum und ließ alle anderen Anwesenden sprichwörtlich im Regen stehen. Mit fassungslosen Blicken, gelegentlichem Lächeln und Kopfschütteln schauten wir dem Geschäftsführer der Klabautermann GmbH hinterher. Es vergingen einige Sekunden, die aber sicherlich jedem Anwesenden wie Minuten vorkamen, bevor der Erste das Schweigen brach. Weisungsgemäß war es Pangasius, der es schaffte, sich aus der Stille heraus in einen einigermaßen sinnvollen Satz zu retten.

»Anscheinend sind wir dann jetzt fertig!«, sagte er, immer noch seinen Blick auf die Tür gerichtet, wo kurz vorher Mester verschwunden war.

In Anlehnung an meine aktuelle Einsicht in der weltpolitischen Lage und die Problematik auf einer meiner Baustellen in Bremerhaven, wie ich sie schon zuvor kundgetan hatte, quittierte ich Pangasius Bemerkung gleichfalls sinnvoll mit: »Ähm?«

»Im Grunde kennt ihr ja alle die Planung für kommende Woche.« Pangasius richtete sich an Detlef. »Detlef, du kannst deinem Kunden sagen, dass wir Dienstag kommen. Montag müssen wir nochmal nach Bremerhaven, aber das sollte nicht so lange dauern. Wenn die Schulzes fertig sind, kommen die zurück nach hier und laden für Dienstag den LKW. Ich werde versuchen, noch einen Mann aufzutreiben, damit wir bis Freitag bei deinem Kunden fertig werden.«

Er hielt kurz inne und richtete seinen Blick dann auf mich: »Tobias, du bleibst bitte noch kurz, damit ich dir von den Problemen berichten kann. Die anderen können im Prinzip wieder gehen. Ich schicke dann die Planung gleich nochmal per Mail rum. Ach, und«, er richtete sich an Fritz, »du bleibst am besten auch noch einen Augenblick!«

Meine Kollegen erhoben sich geschlossen und gingen wieder an Ihre Arbeitsplätze. Pangasius, Fritz und ich blieben noch eine Weile sitzen. Ich war gespannt zu erfahren, worum es eigentlich bei den Anspielungen Mesters über die katastrophale Baustelle gegangen war.

Die übrigen Ereignisse des Tages hatten für mich überwiegend mit noch mehr Fassungslosigkeit und Unverständnis zu tun, als ich es nach der Montagebesprechung und dem intellektuellen Offenbarungseid meines Geschäftsführers erwartet hätte. Ursache hierfür war die Offenlegung der Probleme auf der Baustelle in Bremerhaven. Sicherlich hatte ich aus den Anmerkungen Mesters und seiner entsprechenden Gestik bemerkt, dass die Ursache für diese Probleme zweifelsohne der zuständige Projektleiter war. Es stand demnach vollkommen außer Frage, dass es meiner unverantwortlichen Nachlässigkeit geschuldet war, dass die Monteure mit Möbeln zur Baustelle gefahren waren, die keine Türen hatten. Zugegeben, es war für den sachkundigen Möbelbauer durchaus möglich, Möbel ohne Türen zu schreinern. Regale oder Regalschränke fallen normalerweise in die Kategorie »Möbelstück ohne Tür«.

Die Möbel auf der Baustelle in Bremerhaven hatten Türen, oder hätten vielmehr welche haben sollen, wenn es nach dem Wunsch des Kunden gegangen wäre. Leider hatte man beim Laden des LKW die Türen in der Montagehalle stehen lassen, also vergessen. Mein dezenter Hinweis an Fritz und Pangasius, ob denn beim Laden nicht mal jemandem die Türscharniere aufgefallen seien, die standardmäßig in der Halle vormontiert werden, wurde von Fritz wissentlich nicht beantwortet. Pangasius widersprach sinngemäß, man könne schließlich nicht an alles denken. Ich fragte mich, ob ich mittlerweile schon froh sein musste, wenn wenigstens drei Viertel der Möbelstücke ihren Bestimmungsort erreichten. Zu einer Antwort kam ich allerdings nicht, denn es sollten sich noch weitere montagetechnische Abgründe in Bremerhaven auftun.

Folgendes muss kurz erklärt werden: Die Baustelle in Bremerhaven umfasste den Bau eines kleinen Schiffes, das gelegentlich auch verschiedene Untersuchungen im Sinne der Forschung durchzuführen hatte. Diese Untersuchungen waren selten, aber sie kamen vor. Aus diesem Grund hatte man, also der Kunde, beschlossen, an einer bestimmten Stelle der Möbeleinrichtung, nämlich an einem kleinen an der Wand montierten Tisch, eine Gasarmatur zu befestigen. Dieser Kundenwunsch war nicht so außergewöhnlich, wie er vielleicht im ersten Moment klingen mag, und konnte durch das Fachpersonal der Klabautermann GmbH schnell und sicher umgesetzt werden. Der Kunde und ich, der Projektleiter, hielten die Umsetzung für unproblematisch und wir waren mit unserer Planung sehr zufrieden. So sah es die Theorie vor.

Was hingegen die Praxis für den Kunden und für mich bereithielt, war keine unproblematische Umsetzung, sondern die Umsetzung von Problemen. Es hatte sich nämlich im Laufe der Montage herausgestellt, dass die Monteure nicht nur die Türen vergessen hatten, sondern auch noch einen halben Meter Rohr. So musste die gewünschte Armatur natürlich hinter den Möbeln mit Rohren verbunden, also angeschlossen werden. Dabei stellte sich leider heraus, dass ein halber Meter dieses so wichtigen Verbindungsrohres unerklärlicherweise nicht den Weg zur Baustelle gefunden hatte. Unsere Monteure beschlossen daraufhin in einem Anflug improvisierter Eigenständigkeit, sich einen entsprechenden Ersatz in einem nahegelegenen Baumarkt in Bremerhaven zu besorgen. Nach dreistündiger Beratung in der Installationsabteilung und der ernüchternden Erkenntnis über den horrenden Preis des erforderlichen Rohres, kamen unsere Fachkräfte zu der Entscheidung, auf die günstigere Variante »Gartenschlauch mit Gewebeklebeband« zurückzugreifen. Schließlich konnte man nicht wissen, ob man die Investition so ohne weiteres von der Geschäftsführung der Klabautermann GmbH zurückerstattet bekam. Auf diese gewitzte Weise wurde also das klägliche Stück Rohr mit einem halben Meter Gartenschlauch und fleißig umwickeltem Klebeband überbrückt.

Gewitzt war allerdings nicht die Auffassung des Kunden, als dieser seinen Hauptgashahn öffnete und ein dubioses Pfeifen und Zischen hinter den neu montierten Möbeln vernahm. Glücklicherweise war das durch die fachmännische Installation geleitete Gas verhältnismäßig harmlos und es kam niemand zu Schaden. Zumindest niemand außerhalb des Explosionsradius des Kunden, dessen Blutdruck bei Betrachtung der zischenden Pfeifquelle sprichwörtlich in die Luft ging. Wenig überraschend waren die Monteure die ersten Opfer der verbalen Explosion. Anschließend Pangasius als nächster Leidtragender der Druckwelle, der seinerseits umgehend die Missstände an Mester weitergab. Dessen unvermeidliche Schlussfolgerung führte selbstverständlich zu mir, dem Projektleiter, der für das ganze Desaster verantwortlich war. Folgerichtig oblag es dann auch mir, den Kunden zu beschwichtigen und mir eine Lösung für dieses Fiasko einfallen zu lassen.

Genau vor diesem Hintergrund beendete ich dann letztlich diesen Arbeitstag mit dem vollkommen ganz-und-gar-nicht-dezenten Hinweis an die ausführenden Kollegen, den kleinen Tisch doch probeweise Mal an der Stelle aufzubauen, wo er von Anfang an hätte stehen sollen. Nämlich einen halben Meter weiter rechts. Dann reicht auch das Rohr!

Immer eine Handbreit Wasser unterm Kiel

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