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3 Seoul, Stadtteil Namsandong
ОглавлениеAl und Bill bahnten sich ihren Weg durch das hektische Treiben der Innenstadt. Inmitten der Schluchten der Hochhäuser wimmelte es von rastlosen Menschen. Autos drängelten hupend durch das pulsierende Leben einer gigantischen Hauptstadt in der Mittagsschwüle.
Al musste sich im Treiben der Zwölfmillionenstadt erst zurechtfinden. Er schnaufte hinter Bill her. Dessen forscher Schritt kam Al vor, als ob der nervöse Mann noch heute nach Hause fliegen wolle. Statt die achtspurige, breite Namdaemunno-Straße sicher und bequem mithilfe einer der Fußgängerunterführungen zu kreuzen, zerrte er Al an der Straßenoberfläche über die Fahrbahnen – ein höchst gefährliches, halsbrecherisches Unterfangen, das um ein Haar einen Unfall zur Folge gehabt hätte. Der Daewoo hatte gerade noch rechtzeitig bremsen können. Der Fahrer des Wagens war vor Schreck kreidebleich in seinem Auto sitzen geblieben; er hatte nicht einmal Zeit gefunden, sich an dem permanenten urbanen Hupkonzert zu beteiligen. Die anderen Autofahrer schimpften und fluchten über zwei wahnsinnige, selbstmörderische Fußgänger.
Al starb tausend Tode. Im Achselbereich seines T-Shirts bildeten sich ausgedehnte Schweißränder.
„Das mache ich nicht noch einmal mit“, keuchte Al, als sie die gegenüberliegende Straßenseite erreicht hatten.
„Was hast du? Das geht so viel schneller, es ist einfach …“
„Wahnsinn, ja!“
„Das kommt nur daher, weil du keine Kondition hast. Ich sagte dir vorhin schon, dass sich die Kollegen zu Hause falsche Vorstellungen von dem Leben hier machen“, rechtfertigte sich Bill. „Oder du solltest einfach ein paar Zigaretten weniger rauchen.“
„Blödmann“, brummte Al.
Bill deutete auf ein kleines Restaurant neben dem wuchtigen, alten Südtor, das die Koreaner Namdaemun nennen.
„Dort haben sie die besten Naengmyon weit und breit – oder magst du keine kalten Nudeln?“
Bill fuhr sich mit der Zunge genüsslich über die Lippen.
Der Vorschlag kam Al entgegen:
„Genau das Richtige bei der Affenhitze. Das erste vernünftige Wort von dir!“
„Und noch etwas“, setzte Bill hinzu. „Sie haben Tische und Stühle hier und Messer und Gabeln. Du brauchst also weder auf dem Boden zu sitzen noch dich mit Stäbchen herumzuquälen. Und wir können uns ungestört unterhalten, die sind da nicht so …“
„Ja, denn sonst haben es die Koreaner nicht so gerne, wenn man beim Essen viel quatscht“, meinte Al.
Die absurde Hoffnung, eine ruhige Mittagspause verbringen zu können, hatte er längst aufgegeben.
„Hoffentlich merkst du dir das und hältst den Mund“, setzte er ärgerlich hinzu, ohne dass Bill es hören konnte.
Die Bemerkungen über das Sitzen auf dem Boden, das Essen mit Stäbchen und die schweigende Einnahme der Mahlzeiten wurmten Al. Schließlich war er mit den koreanischen Sitten bestens vertraut. Bills Gerede kam ihm wie ein Angriff auf die koreanische Kultur insgesamt vor. Er empfand die Kritik als unsachlich – und als unberechtigte Stichelei gegenüber der toten Shing-hee. Sie hatte Al einst den Zugang zu den Ursprüngen und den tieferen Sinn jener bestechenden, alten, geheimnisvollen Kultur vermittelt.
Aber Bill? Bill schien sich nicht der Mühe unterzogen zu haben, für asiatische Kultur Verständnis aufzubringen, geschweige denn sie auch nur im Ansatz zu begreifen. Seicht und oberflächlich, wie er war, musste er jahrelang mit Scheuklappen durch Korea gerast sein.
Amerikanische Fast-Food-Restaurants waren seine Heimat geblieben. Was hatte David B. Goldmann nur für einen Banausen nach Seoul geschickt! Spätestens jetzt war Al zutiefst davon überzeugt, dass dieser Mann hier wirklich fehl am Platze war.
In dem überfüllten Lokal herrschte drangvolle Enge. Sie warteten einen Moment und setzten sich an einen Tisch, der gerade frei wurde.
Bill dachte auch während der Mahlzeit nicht daran, still zu sein.
„Wir müssen noch sehen, wie wir das machen, Al“, sagte er undeutlich mit halbvollem Mund und stopfte die nächste Portion Nudeln hinterher.
„Was? Was machen wir?“
„Na, die Wohnung. Du wirst doch meine Wohnung übernehmen?“, fragte Bill unsicher. Ohne Al’s Antwort abzuwarten, fuhr er fort: „Wirklich eine wahnsinnig tolle Wohnung. Im Stadtteil Itaewon, gleich hier hinter dem Namsan-Berg.“
„Der Namsan-Berg ist …“
„Genau, Al! Der Berg, auf dem der Seoul-Tower steht. Wahnsinn, wie du das alles schon weißt. Es ist ganz in der Nähe, gar nicht weit von hier“, versicherte Bill.
Wie er das Essen in sich hineinschlang! Als wollte er sich mit dem eiligen Verzehr kalter Nudeln einen Platz im Guinness-Buch der Rekorde sichern.
„Mmh, ja. Also echt, die Wohnung … Ich meine, sie ist wirklich wahnsinnig spitze“, schwärmte Bill. „Allerdings, einen Haken hat sie …“
Al runzelte die Stirn.
„Im Winter brauchst du Luftbefeuchter, in allen Zimmern. Und jetzt, wo es Sommer wird, Trockengeräte. Wahnsinn, sag ich dir!“
Während des Sprechens beschrieb er die Gegenstände mit dem Besteck in der Luft.
„Aber keine Angst – ist alles da. Kannst du übernehmen, das heißt, natürlich nur, wenn du willst. Du musst nicht, klar. Aber du kannst, wenn du möchtest.“ Bill lehnte sich zurück.
„Nur schade, dass du wenig Zeit haben wirst, um deine vier Wände zu genießen“, seufzte Bill. „Aber im Ernst: Du wirst doch nicht länger auf ein teures Hotellogis angewiesen sein wollen. Wenn du möchtest, kannst du dir die Wohnung gleich heute Abend ansehen.“
„Ja, ja …“
Al hörte nur noch mit einem halben Ohr hin. Er zog es vor, die anderen Gäste zu mustern. Hätte er nicht diesen Schwätzer neben sich sitzen, würden ihm die Nudeln tatsächlich schmecken.
„Und dann der Dienstwagen, Al. Nicht mehr das neueste Modell, hat manchmal seine Mucken. Liegt wohl daran, dass Goldmann wie wahnsinnig spart. Aber mir hat die Kiste gereicht. Ich weiß natürlich nicht, welche Ansprüche du stellst.
Vielleicht hast du ja auch bessere Beziehungen zum Hauptquartier als ich …“
„Im Augenblick würde ich gerne in Ruhe essen!“, entfuhr es Al ungehalten.
„Entschuldige. Aber wir haben nicht mehr viel Zeit. In vier Tagen fliege ich“, schwärmte Bill. „Wahnsinn!“
Teils amüsiert, teils verständnislos schüttelte Al den Kopf. Er hatte er noch nicht erlebt, dass sich jemand Berge von Essen einverleiben und dabei ununterbrochen reden konnte. Bills Gedanken schienen sich zu überschlagen.
„Fertig“, stellte Bill erleichtert fest. „Ich bin fertig, Al.“
Bill schob die Serviette, mit der er sich seinen vollen Mund abgewischt hatte, auf den leeren Teller und schluckte den letzten Bissen hinunter.
„Wahnsinnig gut, die Dinger. Das Einzige, was man als Amerikaner in Korea verträgt.“
Empört sah Al ihn an.
„Lass dir ruhig Zeit, Al“, setzte Bill mit einem Blick zur Uhr nach. „Ich lasse schon mal die Rechnung bringen. Hoffentlich dauert das nicht so wahnsinnig lange …“
Al bemühte sich, die Ruhe zu bewahren. Doch in dieser unruhigen Atmosphäre verzichtete er gerne darauf, aufzuessen.
Er steckte sich eine Zigarette an.
Bill redete unablässig weiter:
„Ich dachte mir, Tom und Sandy könnten dir heute Nachmittag einiges über die Redaktionsarbeit erklären.“
„Die Buchhalterseele und der Straßenkreuzer?“, fragte Al ungläubig.
„Lass mal. So wirr Tom auch aussieht – der Junge ist wahnsinnig clever. Du kannst dich auf ihn verlassen. Auf Sandy auch. Hundertprozentig!“
Al glaubte ihm bedenkenlos. Am Vormittag hatte er die einigermaßen aufgeräumten Büros der beiden gesehen. Ihm war klar, wer der Verursacher des organisierten Chaos in der Redaktion war.
„Das geht in Ordnung“, bestätigte Al. „Allerdings – ich hätte da noch eine Kleinigkeit zu erledigen – privat“, ließ er Bill geheimnisvoll wissen.
„Wo bleibt denn die Bedienung, verdammt noch mal?“
Bill schlug gereizt auf den Tisch.
„Spätestens morgen sollten wir zu Bob Woods gehen, Al.“
„Bob Woods? Wer ist das?“
„Robert O. Woods! Du musst ihn kennenlernen – Presseattaché in unserer Botschaft. Das ist eine Type! Wahnsinn, der Kerl. Trägt meistens Fliege. In Fachkreisen heißt er ,Fliegen-Bob‘. Kolossal wichtig. Außerdem wird er dir bei der Akkreditierung behilflich sein. Er kennt Tod und Teufel. Aber jetzt sollten wir wirklich los.“
Bill stand auf und zog sich umständlich den Hosenbund hoch.
„Hallo, zahlen bitte …“
Fahrig schleppte er Al zum Büro zurück. Al weigerte sich standhaft, die Straße noch einmal oberirdisch zu überqueren. Beiden perlte der Schweiß von der Stirn, als sie die Redaktionsräume erreichten. Aus Sandys Zimmer plärrte der amerikanische Nachrichtensender Popmusik. Sandy sang schräg mit – irgendeinen unverständlichen Text. An den Decken der Büroräume surrten gleichmäßig riesige Ventilatorenblätter.
Ohne sie, die die stickige, heiße Luft umschaufelten, war die Hitze auf der Etage unerträglich.
In Toms Zimmer schellte sich das Telefon wund.