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4 Seoul, Redaktionsbüro der LAN
Оглавление„Gut, Se Ung. Bis halb sechs – am Chogyesa-Tempel.“
Al legte den Telefonhörer auf und sah auf die Uhr. Es war kurz nach vier. Um halb sechs Uhr war er mit seinem Schwager Se Ung, dem Bruder seiner toten Frau, verabredet. Zum ersten Mal seit Shing-hees Tod würde er einem Mitglied der Familie Bae gegenübertreten. Er konnte nicht behaupten, dass ihm seit seiner Ankunft vor drei Tagen leichter zumute war. Im Gegenteil – ein mulmiges Gefühl bemächtigte sich seiner Magengrube. Sein Schwager hatte sich am Telefon ausgesprochen kühl angehört, als sie soeben den Termin verabredeten. Dass er mit Al überhaupt sprechen wollte, ließ ihm einen winzigen Hoffnungsschimmer.
„Ich gehe dann, Bill“, rief er Cooper zu, der in seinen Papierstapeln wühlte.
„In Ordnung, Al“, antwortete Bill knapp, ohne aufzusehen. „Und bitte, sei morgen pünktlich!“, setzte er nach.
Dieser Kleingeist! Als ob Al nicht selbst wissen würde, wann er zum Dienst zu erscheinen hätte, wenn sie einen Termin in der amerikanischen Botschaft hatten. Wieder einmal zog er es vor, nicht zu antworten, und verließ wortlos das Büro. Als er aus der Schwingtür des Hochhauses auf die Straße hinaustrat, kam es ihm vor, als würde ihm eine unsichtbare Hand den Hals zuschnüren. Er atmete tief durch und schlug den Weg nach Insadong ein, der engen Straße mit ihren Antiquitätengeschäften und Kunstgalerien.
Sein Weg führte ihn die Sejongno-Straße hinaus zu den prächtigen Anlagen des Toksugung-Palastes. Auf den steinernen Stufen mit den imposanten mittelalterlichen Bauten posierten Hochzeitspaare vor der malerischen Kulisse für Fotoaufnahmen. Dann schlenderte er an einigen der Kaufhäuser entlang, die das Rathaus umgeben. Er passierte mehrere Hochhäuser mit ihren zahlreichen ausländischen Botschaftsbüros und verweilte vor dem Koreanischen Pressezentrum. Es schien, als wollte ihn der gigantische Wolkenkratzer mit seinen über zwanzig Stockwerken erschlagen. Die US-amerikanische Botschaft war in einem eigenen, aber älteren und durch einen Vorgarten etwas von der Straße zurückgesetzten flachen Gebäudekomplex untergebracht.
Als er die Straße weiter hinaufging, fiel sein Blick auf das breite, bunt bemalte Tor des Kyongbokkung-Palastes, das die breite Sejongno-Straße nach Norden hin abschließt. Links und rechts bog auf mehreren Spuren vor dem Tor der Straßenverkehr ab, wie eine Reverenz an die längst vergangenen, aber immer noch lebenden Traditionen.
Shing-hee hatte ihm damals bei einem Spaziergang durch die Palastanlage die Geschichte der Choson-Dynastie nähergebracht. Geradezu ehrfurchtsvoll hatten sie von dem strengen, konfuzianischen Herrscherhaus erzählt: Es hatte nicht nur den Palast samt seinen prunkvollen Pavillons, Sälen und Hallen im vierzehnten Jahrhundert erbauen lassen und damit das heutige Seoul gegründet. Es hatte vor allem das koreanische Alphabet, das Hangul, eingeführt. Shing-hee hatte Al bei der Gelegenheit auch durch das Nationalmuseum geschleppt. An der Stelle des ehemaligen Museumsgebäudes klaffte heute hier lediglich eine tiefe Baugrube. Al konnte sich noch sehr gut an den imposanten Steinbau aus den Zwanzigerjahren mit seinen hunderttausend Exponaten erinnern. Er war damals zutiefst beeindruckt gewesen. Inmitten der hochbetagten Palastbauten hatte er das Museum aber irgendwie als unpassend empfunden. Nun, offenbar dachten auch Verantwortliche so.
Er folgte dem Straßenverlauf in östlicher Richtung. Nach einem kurzen Blick zum französischen Kulturzentrum hinüber, hinter dem sich die Dienststelle des CIA befinden musste, erreichte er auf einem kleinen Umweg den antiken Chogyesa-Tempel.
Eine Weile ging er vor dem Tempel nervös auf und ab. Seine Gedanken kreisten um seine verstorbene Frau und um ihre Familie. Shing-hees Eltern hatten der Hochzeit mit ihm damals nicht zugestimmt. Zu tief fühlten sie sich den alten konfuzianischen Traditionen verhaftet. Fleißig und nationalbewusst waren sie – und bei aller Bescheidenheit sehr stolz. Der Vater hatte im Krieg gegen die kommunistischen Eindringlinge aus dem Norden für seine Heimat gekämpft. Nach dem Krieg hatte er ein Konfektionsgeschäft aufgebaut und später geheiratet. Aus der Ehe waren die Tochter Shing-hee und deren jüngerer Bruder Se Ung hervorgegangen. Der allmähliche Aufschwung und ein bescheidener Wohlstand ermöglichten den Eltern, die Kinder ein Geschichtsstudium absolvieren zu lassen. Als selbstverständliche Gegenleistung hatten sie von ihren Kindern Gehorsam erwartet und Respekt vor den elterlichen Entscheidungen. Se Ung fand eine Tätigkeit im auswärtigen Dienst der Regierung. Damit waren die Eltern einverstanden. Die Auslandsverwendungen ihres Sohnes in New York und in Deutschland erfüllten sie mit Stolz. Ein Diplomat, der aus einer Schneiderfamilie hervorgegangen war! Dabei kannten sie die wirkliche Tätigkeit ihres Sohnes beim ANSP bis heute nicht.
Erbitterte Auseinandersetzungen hatte es in der Familie gegeben, als Shing-hee den amerikanischen Kapitänleutnant Albert Ventura mit nach Hause brachte und bald ihre Absicht kundtat, ihn zu heiraten und mit ihm nach Kalifornien zu gehen. Weiß Gott, sie hatten sich die Zukunft ihrer Tochter anders vorgestellt! Jetzt brach der Tod ihrer einzigen Tochter den alten Leuten das Herz. Al hielt es für besser, sie vorerst nicht aufzusuchen. Sie würden ihm die Schuld anlasten. Stattdessen wollte er abwarten, bis die frische Narbe es ihnen möglich machte, mit ihm zu sprechen.
Shing-hees Bruder war Al als aufgeschlossener junger Mann in Erinnerung. Er hatte ihn zum letzten Mal vor zwei Jahren gesehen, als er für zwei Wochen in Los Angeles zu Besuch war. Es war dem Bruder aus zwingenden beruflichen Gründen nicht möglich gewesen, kurzfristig an der Beerdigung seiner Schwester teilzunehmen.
Al erreichte das Eingangstor nach Insadong. Jeder seiner Schritte fiel ihm schwerer, nicht nur, weil die Nachmittagshitze unerträglich auf der Stadt lastete. Dort erwartete Se Ung ihn bereits. Was würde er nun von ihm zu hören bekommen?
Die beiden Männer gingen mit allmählich langsamer werdenden Schritten aufeinander zu. Wortlos drückten sie sich die Hände, sahen verschämt zu Boden.
Nach einer Weile sagte Se Ung: „Was willst du hier?“
Al atmete tief durch. Die Frage traf ihn wie ein Keulenschlag. Se Ung wiederholte die Frage, eindringlicher, nachdrücklicher. Al verstand nicht. Er wischte sich eine Träne aus dem Gesicht.
„Müssen wir das hier besprechen, auf der Straße?“, fragte Al. „Lass uns in das Teehaus dort drüben gehen“, schlug er vor. Se Ung nickte wortlos.
Sie betraten das in einer Seitenstraße gelegene, im altkoreanischen Baustil errichtete, romantisch-bezaubernde Teehaus. Al musste seinen Kopf tief einziehen, um ihn sich nicht an der niedrigen Holztür anzuschlagen. Würziger Teeduft erfüllte den kleinen Raum, dessen einzige Gäste sie waren. Sie zogen nach koreanischer Tischsitte ihre Schuhe aus und nahmen auf den dicken Kissen auf dem Fußboden vor einem der niedrigen Holztischchen Platz. Ein ebenso freundliches wie schüchternes junges Mädchen goss aus einem silberfarbenen Teekessel dampfenden Ginsengtee in tönerne Tassen.
„Also, was willst du?“, wiederholte Se Ung.
„Das klingt wie eine Anklage“, antwortete Al gefasst. „Du bist Shing-hees Bruder!“
„Ja – ich war Shing-hees Bruder“, verbesserte Se Ung mit gesenktem Kopf, „bis zu ihrem Tod.“
„Meinst du, es geht mir nicht nahe, was passiert ist?“, fragte Al. Aber es kommt mir vor, als würde deine Familie mich für Shing-hees Tod verantwortlich machen.“
Se Ung wandte den Kopf ab, sah wie teilnahmslos durch eines der kunstvoll gearbeiteten, gitterartigen Fenster des Teehauses. Er schien leise zu schluchzen.
„Se Ung, du hast doch gesehen, wo wir gelebt haben, wie wir gelebt haben – und dass wir glücklich waren. Das hast du doch gesehen, vor zwei Jahren, nicht wahr?“, fragte Al nach einer Weile und fasste seinen Schwager dabei am Arm.
„Ja, das habe ich gesehen“, räumte Se Ung gebrochen ein.
„Ich habe deine Schwester geliebt wie niemanden sonst“, schloss Al an.
„Und dann gehst du von dort weg? Wie ist das denn alles passiert, was euer Leben zerstört hat? Was willst du hier?“, fragte Se Ung erneut, bevor er nachsetzte: „Ich denke heute noch an die erbitterten Auseinandersetzungen in unserer Familie, als Shing-hee den amerikanischen Kapitänleutnant Albert Ventura mit nach Hause brachte, ihn heiraten und mit ihm nach Kalifornien gehen wollte. Eine schwere Prüfung für unsere Eltern.“
„Schon wieder so vorwurfsvoll … Weiß Gott, eure Eltern hatten sich die Zukunft ihrer Tochter anders vorgestellt. Aber Shing-hee und ich auch!“
„Al, Du kannst dir das nicht ausmalen. Ihr Tod bricht den alten Leuten das Herz“, setzte Se Ung nach.
„Das glaube ich dir. Sie haben nie akzeptiert, dass wir geheiratet haben. Noch nicht einmal nach unserer Hochzeit, an der sie nicht teilgenommen haben, konnten sie mich als rechtmäßigen Schwiegersohn anerkennen. Ihr Leben lang haben sie zu mir ‚Herr Ventura‘ gesagt …“
Al ließ den Arm seines Schwagers wieder los und richtete sich auf. Er hatte das Gefühl, mit ihm jetzt vernünftig reden zu können.
„Pass auf, Se Ung! Keiner weiß, wie Shing-hee ums Leben kam. Keiner weiß, warum sie sterben musste. Ich weiß es auch nicht. Ich glaube aber nicht, dass es bloß ein Unfall war. Aber mein Leben geht weiter, das ganze Leben geht weiter, verstehst du?“
Al schlug sich mit der rechten Faust ein paarmal vorwurfsvoll an die Brust. Seine Stimme schwoll an.
„Und es nützt niemandem etwas, wenn ich in Los Angeles im Selbstmitleid versinke, begreifst du, nie-man-dem!“
Er redete jetzt so laut, dass die Bedienung erschien. Al winkte sie weg. Er sprach in gemäßigtem Ton weiter: „Ich muss etwas tun. Dauernd fragst du, was ich hier will. Ich werde es dir sagen.“
„Sprich!“, forderte Se Ung.
„Ich werde hier ein neues Leben beginnen, hier, im Land deiner Schwester, das ich durch sie kennen- und lieben gelernt habe.“
Aus Se Ung brach ein abruptes, irres Lachen hervor, bevor er mit einer abfälligen Handbewegung ungläubig entgegnete: „Wie willst du das denn anstellen? Du bist Amerikaner. Du kommst doch aus einer völlig anderen Welt.“
„Sieh das nicht als Nachteil. Meine Vorfahren kamen als Einwanderer nach Amerika, aus Portugal. Sie haben es geschafft, in einem fremden Land zurechtzukommen. Und ich werde es auch schaffen.“
„Al“, rang Se Ung mit den Händen, „Korea ist nicht Amerika! Du sprichst wie ein Idealist.“
„Ja, ich bin Idealist – aber ich bin auch Realist. Mein Boss schätzt diese Eigenschaften. Deshalb hat er mich hergeschickt. Aber – ich bin kein Fantast und kein Politiker! Und schon gar nicht bin ich korrupt …“
Ihm, dem sonst eher zurückhaltenden Mann, lag es nicht zu prahlen. Aber vielleicht konnte er mit seinen Worten jetzt auf Se Ung Eindruck machen.
Das letzte Wort ließ Se Ung überrascht aufhorchen. Er hatte von Al nicht erwartet, dass er es in den Mund nehmen würde. Etwas verlegen spielte Se Ung mit seiner Tasse, auf die er seine Augen richtete.
„Ja, hör mir nur gut zu, Se Ung. In Korea gibt es genauso käufliche Politiker wie in Amerika – und wie auf der ganzen Welt. Die Welt ist ungerecht, weil sie verlogen ist. Aber ich will mithelfen, den Sumpf trockenzulegen – und noch einiges andere. Das will ich hier, deshalb bin ich hergekommen. Und das lässt sich hier aufklären, nicht drüben in Los Angeles, verstehst du?“
„Aha, Albert Ventura – der Retter der verloren gegangenen Tugenden. Der Weltverbesser, der zum Kreuzzug gegen das Böse aufgebrochen ist. Tätigkeitsfeld weltweit …“, spöttelte Se Ung.
„Blödsinn! Die Los Angeles News sind nicht irgendein drittklassiges Provinzblättchen.“
Se Ung saß jetzt mit aufgesperrtem Mund da. Al hatte sich in Rage geredet und fuhr lautstark fort:
„Schonungslos werde ich sein, scho-nungs-los. Denn ich glaube an die Wahrheit, weil sie das Einzige ist, was zu Gerechtigkeit führt. Das ist mein Beruf. Du müsstest das doch eigentlich verstehen. Ich meine, als Diplomat vertrittst doch gerade Du ein Land, das auf einem Pulverfass sitzt …“
„Ich verstehe das, Al. Du weißt aber genauso gut wie ich, dass die Presse nicht immer die Wahrheit schreibt“, entgegnete Se Ung. „Mal schönt sie, mal fletscht sie die Zähne, je nachdem, was gewünscht wird, je nach den Interessen, die auf dem Spiel stehen.“
„Ich habe mir geschworen, nie mehr die Unwahrheit zu schreiben, nichts mehr zu unterdrücken, glaube mir“, versicherte Al, indem er mit der flachen Hand andächtig auf die Tischplatte pochte. „Und ich werde Shing-hees Tod aufklären, glaube mir“, versicherte Al.
„Ein ehrenwertes Ziel. Vielleicht kann ich dir dabei helfen“, meinte Se Ung und beugte sich zu Al vor, wobei er einen Zeigefinger auf die Lippen legte.
„Du?“, zweifelte Al.
„Warum nicht? Al, ich habe nie darüber gesprochen, auch nicht mit Shing-hee“, flüsterte er, „ich arbeite für das ANSP.“ „Aha“, bemerkte Al erstaunt.
„Meine Legende lautet: Referent im Außenministerium. Ich bin aber in der Beschaffungsabteilung des ANSP tätig. Ich denke, ich kann dir bei deiner Arbeit behilflich sein. Unsere Regierung hat der Korruption den Kampf angesagt – und den Kommunisten aus dem Norden, die unser Land pausenlos piesacken.“
„Hm, hört sich gut an“, räsonierte Al.
„Dann sind wir uns also einig?“
„Ich denke schon.“
Wortlos legte Al eine Zehntausend-Won-Note auf den Tisch.
Die beiden Männer wandten sich zum Gehen.
„Noch etwas, Al“, sagte Se Ung.
„Ja?“
„Ich denke, du solltest keinen Kontakt zu unseren Eltern aufnehmen, wenigstens vorerst. Sie können überhaupt nicht begreifen, was passiert ist. Ich hoffe auf dein Verständnis“, sagte Se Ung mit mitleidsvoller Miene.
„Wissen sie von deiner Tätigkeit?“
„Sie sind stolz, einen Diplomaten hervorgebracht zu haben, dessen Karriere bis jetzt keinen Knick aufweist.“
„Ich halte es auch für besser, deine Eltern vorerst nicht aufzusuchen. Sie würden mir die Schuld an Shing-hees Tod geben.
Die Narbe auf ihrer Seele ist noch zu frisch. Sie könnte wieder aufbrechen …“
„Nein, Al. Sie wird nie mehr verheilen.“