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Er wusste schon, dass es ein Fehler gewesen war, da waren sie nicht mal beim Zoo angekommen. Der Parkplatz war überfüllt und vor dem Eingang war eine hundert Meter lange Schlange. Kinder kreisten in spätsommerlicher Hitze als kreischende Satelliten um ihre Eltern oder verharrten in Agonie und wurden von ihren Eltern nach vorn geschubst, wenn die Wartenden sich rührten.

»Oh Mann!«, stöhnte Tom auf dem Beifahrersitz. Er war schlaksig und dürr wie fast alle Jungs in seinem Alter.

»Tommy, hab dich nicht so!«, zwitscherte Sandy. Tauner hätte sie beinahe nicht wiedererkannt, sie hatte ihren ›Look‹ geändert, aus langen blonden Haaren waren halb lange rote Haare geworden, und Tauner war sich nicht ganz im Klaren, ob ihm das gefiel. »Wird bestimmt schön!«

Das sagte sie nur seinetwegen, dachte sich Tauner im Stillen und fragte sich, wo er das Auto abstellen konnte. Sie hätten mit der Straßenbahn fahren sollen.

»Wir hätten mit der Bahn fahren sollen, Papi«, meinte Nicole.

»Sag doch nicht Papi«, murrte Falk. Jetzt war er schon fast am Ende des Großen Gartens angelangt und hatte noch immer keine Parklücke gefunden.

»Was soll ich sonst sagen? Vater? Vati? Oder Herr Hauptkommissar?«

Falk blickte in den Rückspiegel, um zu sehen, ob seine Älteste einen Scherz gemacht hatte. Nicole war sehr nach ihrer Mutter geraten, nicht nur dem Äußeren nach. Sie war das einzige seiner Kinder, welches die Scheidung der Eltern nicht nur aus einem praktischen Aspekt betrachtete, sondern um die verlorene gemeinsame Zeit trauerte. Was er sah, machte ihn ein wenig traurig. »Was weiß ich, sag eben Papi«, sagte er leise und zwinkerte Nicole im Spiegel zu. Im nächsten Moment wünschte er, er hätte es nicht getan.

»Da drüben parkt einer aus!«, meinte Tom.

Falk bremste, sah kurz in den Spiegel und wendete eng und schnell, dass die Reifen quietschten.

»Das war aber nicht nötig«, meinte Nicole leise.

Tom drehte sich zu ihr um. »Ich fand es geil!«

Falk schloss einen Moment die Augen. Sie waren keine halbe Stunde zusammen und er war schon in zwei Fettnäpfchen getreten. Wütend über sich selbst parkte er ein.

Als er aussteigen wollte, hielt Tom ihn am Handgelenk fest. »Ich sag’s dir gleich, das wird heut teuer für dich. Ich will Eis und Pommes und Cola und was weiß ich noch!«

Tauner grinste seinen Rotzlümmel von Sohn an. »Damit habe ich schon gerechnet.«

»Und!« Tom hob die Hand. »Nach dem Abendbrot will ich nach Hause. Ich hab heut eine Session.«

»Und wir haben heute Abend auch etwas vor!«, meldete sich Sandy. »Wir wollen ins Kraftwerk!«

Tauner hob die Hände. »Ich zwinge euch ja nicht, bei mir zu bleiben. Ich wollte nur ein paar Stunden mit euch zusammen sein.«

»Oh Gott«, flüsterte Tom und stieg aus.

Sandy folgte ihm, nur Nicole zögerte einen Moment. Falk sah sie fragend an.

»Wolltest du Zeit mit uns verbringen oder hat Mama dich dazu genötigt?«, fragte seine Große schließlich.

Falk ersparte sich eine Antwort. Falls eines seiner Kinder von dem Anruf seiner Exfrau wusste, dann Nicole.

»Was hast du denn für eine Session?«, fragte er Tom, der hinter den beiden jungen Frauen lief. »World of Warcraft?«

»Pfft!« Tom sah ihn an, als hätte er sich einen Damenhut aufgesetzt. »Counter Strike!«

»Ist das nicht dieses Ballerspiel?«

»Ja, Papa, und morgen dreh ich durch und werde zum Amokläufer.«

»Hör mal, damit macht man keine Faxen!«, mahnte Falk seinen Sohn und sah sich sogar um, ob nicht zufällig jemand mitgehört hatte.

Tom stöhnte genervt. »Ja, ich weiß. Hast du was gegen das Spiel?«

Falk hob die Schultern. Es war ein Ego-Shooter, bei dem derjenige siegte, der die meisten Gegner tötete. In Tauners Augen war es brutal, jedoch war es ein Spiel, und er glaubte nicht, dass die Jungs allein deshalb durchdrehten und zu Amokläufern mutierten.

Tom ging es zu lang, bis er eine Antwort erhielt. »Oh, sag es ruhig, jeder ist dagegen!«

»Ach, spiel nur. Bestimmt bin ich nur zu alt dafür. Sag mal«, er beugte sich ein wenig zu seinem Sohn, »haben deine Schwestern Freunde?«

»Frag sie doch selbst!«, sagte Tom laut.

Nicole und Sandy drehten sich um. »Haben wir nicht!«, sagte Sandy.

Na prima, dachte Tauner, nur immer her mit den Fettnäpfchen.

Sie warteten länger als eine halbe Stunde, um in den Zoo zu gelangen. Falk hatte seine Hände in den Hosentaschen und kam sich vor wie das fünfte Rad am Wagen, obwohl sie nur zu viert waren. Die beiden Schwestern redeten, als hätten sie sich seit Wochen nicht gesehen. Falk vermutete, dass Absicht dahintersteckte, jeder von ihnen hatte sich vorgenommen, den Nachmittag irgendwie hinter sich zu bringen. Tom hatte sein Handy hervorgeholt und spielte irgendein Spiel, dessen piepsiges Gedudel Tauner so an den Nerven zehrte, dass er seinem Sohn das Gerät am liebsten aus der Hand geschlagen hätte. Das war er nun geworden, hatte Falk gedacht, irgend so ein Typ, mit dem seine Kinder den Nachmittag verbringen mussten, anstatt mit allen anderen ins Schwimmbad zu gehen.

Er war heilfroh, endlich im Zoo zu sein und nicht mehr schweigend herumzustehen. »Wo gehen wir lang?«, fragte er und wollte mit forschem Ton ein wenig Schwung in die Angelegenheit bringen. Er ertappte sich dabei, wie er sich suchend nach seinem Kollegen und dessen Frau umsah.

»Mir egal!«, murmelte Tom, ohne seine Augen von seinem Piepgerät zu nehmen.

»Okay, deine Schwestern haben sich schon entschieden«, meinte Falk und folgte seinen Töchtern, die zum Elefantengehege liefen, welches sich gleich links neben dem Eingang befand.

Tom sah auf, hob die Augenbrauen, wie einer, der schon alles auf dieser Welt gesehen hat, und steckte sein Handy weg, ohne dass Falk etwas sagen musste.

»Wie läuft’s denn so in der Schule?«, fragte Falk. Die Hoffnung, heute ein Gespräch mit seinen Töchtern zu führen, verlor sich mit jedem ihrer ausgreifenden Schritte.

Tom stöhnte genervt. »Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Erstens sind Ferien und zweitens hast du doch mein Zeugnis gesehen.«

»So war das doch nicht gemeint«, brummte Falk und versuchte, sich zu erinnern, wie Toms Zeugnis ausgesehen hatte. Gar nicht so schlecht vermutlich, sonst hätte seine Mutter sich beschwert. »Ich meinte deine sozialen Kontakte?«

»Soziale Kontakte?« Tom sprach es aus wie eine hässliche Krankheit, die man niemandem wünschte. »Meinst du mein Umfeld, oder was? Ob ich Freunde habe?«

»Ja, oder eine Freundin!«

»Stell dir vor, ich habe beides!« Tom schüttelte den Kopf, als hätte er es heute mit einem besonders dummen Exemplar eines Erwachsenen zu tun.

Falk lief eine Weile schweigend neben ihm her, kurz darauf erreichten sie die beiden jungen Frauen, die es geschafft hatten, zwischen den Besuchermassen eine Lücke zu finden, von der aus man die Elefanten beobachten konnte. Kaum hatte er selbst einen Blick auf die Tiere geworfen, hatten die Damen genug und drehten munter schwatzend ab.

»Hör mal«, sagte Falk zu seinem Sohn, »ich kann mir vorstellen, dass dich unsere Scheidung belastet, letztendlich ist …« Er kam nicht weiter.

Tom warf ihm einen genervten Blick zu. »Hör mal, ich wollte einfach nur einen chilligen Nachmittag haben, okay, was du und Mama machen, ist mir egal, ihr würdet ja sowieso nicht auf mich hören, wenn ich was sage, außerdem hat sich ja kaum was geändert. Du warst früher auch so gut wie nie zu Hause!« Toms Telefon piepte wie gerufen, so war er beschäftigt und konnte seinen Vater ignorieren.

Falk versuchte, auf seinen Sohn nicht wütend zu sein, doch das misslang ihm gründlich. Tom hatte recht, er war früher oft nicht zu Hause gewesen, doch das brachte der Beruf mit sich. Außerdem hatte sein Sohn nicht so mit ihm zu reden. Jemand hakte sich bei ihm ein. Falk warf einen traurigen Blick auf seine Älteste.

»Er pubertiert, du kannst nichts richtig machen. Selbst wenn du noch zu Hause wärst, würde er dich hassen!«, sagte Nicole.

Falk wusste, wie sie es meinte, dennoch trafen ihn die Worte. Er war auch pubertär gewesen früher, aber seinen Vater hatte er nicht gehasst. »Und du? Und Sandy, hasst ihr mich auch?« Falk lauschte seiner Stimme und fand, dass er sich genauso beleidigt anhörte, wie er es war.

»Ach was, Papa, so war das nicht gemeint. Tom denkt eben gerade, er wäre der Größte, das denken alle Jungs in dem Alter. Zu Hause spielt er sich auch auf.«

»Und kriegt er alles hin? Oder hat er Probleme?«

»Du denkst wohl schon wieder wie ein Polizist.«

»Nein, überhaupt nicht, ich will nur wissen, ob er … also …« Falk verstummte, und Nicole lachte.

»Also doch der Polizist. Er gerät nicht auf die schiefe Bahn. Er sitzt nur viel zu lang und viel zu oft am Computer. Außerdem geht er skaten.«

»Und er hat eine Freundin?«

»Ja, irgend so ein kleines Mädchen aus der Achten.«

»Und hat er … mit ihr …« Falk schloss seinen Mund erneut, ein weiteres Mal zu spät. Nicole lachte auf, und fremde Leute drehten sich zu ihnen um.

»Mann, Papa, gehst du bei deinen Verhören auch so vor? Dann solltest du den Beruf wechseln. Du glaubst doch nicht, dass wir uns gegenseitig verpfeifen?«

Tauner schwieg und versuchte, sich an die Zeit zu erinnern, als Nicole gerade geboren war, er ein angehender Kriminalbeamter mit einer Frau war, die ihn liebte und die er liebte. Es war ihm kaum möglich, zu viele Belanglosigkeiten schoben sich dazwischen, und Nicole selbst war zu sehr wie seine Exfrau geworden, nahezu ein jüngeres Ebenbild.

Nicole war erwachsen genug, um nicht weiterzusprechen, sie blieb bei ihm untergehakt und so folgten sie Tom und Sandy am Raubtiergehege vorbei, hin zum Giraffenhaus, wo schreiende Kinder sich um alles Mögliche kümmerten, nur nicht um die Tiere. Eine Viertelstunde später erreichten sie ein von Menschen überfülltes Areal. Tauner machte große Augen, als er die Schlangen vor den Imbissbuden sah. Doch seine Kinder waren gnädig zu ihm, passierten das Gelände, ohne Ansprüche auf Verpflegung zu erheben. Tauner wurde dabei ein wenig wehmütig, denn vor nicht allzu langer Zeit wäre er hier nicht ohne Gebrüll oder Gezänk durchgekommen. Waren sie wirklich alle schon so groß, dachte er, war er schon so alt? Oder waren sie instruiert, nicht allzu sehr an seinen Nerven zu zehren? Tauner mochte beide Gedanken nicht.

Vorbei an den Geiern, die bewegungslos im Schatten hockten und die Besucher beäugten, geriet das Orang-Utan-Haus in Tauners Blickfeld. Das hob seine Stimmung ein wenig. Er mochte diese friedlichen Tiere und erinnerte sich daran, dass er und seine Kinder früher viel Zeit vor den Gehegen verbracht hatten. Denn auch wenn seine Kinder an allen anderen Tieren kaum Interesse zeigten, waren diese Menschenaffen etwas ganz Besonderes. Vielleicht war es die körperliche Ähnlichkeit, besonders der kleineren Tiere, mit dem Menschen, die das Interesse der Kinder geweckt hatte. Stundenlang hätten sie den Nachwuchs betrachten können, der sich putzig und völlig schamfrei tummelte und Spaß daran fand, im hohen Bogen durch den Käfig zu pinkeln. Das waren die Momente, für den sie in den Zoo gegangen waren, in denen sich alle einmal einig gewesen waren. Hier war es immer warm und amüsant, und niemand dachte an Eis, Cola, Pommes oder die Toilette.

»Oh Mann!«, entfuhr es Falk, als er die Menschenmenge vor dem Freigehege der Orang-Utans erblickte. Die Leute johlten. »Komm, lass uns gehen!«, sagte Tauner laut. Er wollte sich das nicht antun.

»Da geht was vor!«, sagte Tom halb laut, und erst jetzt registrierte Tauner den Tonfall der Menge. Er streifte den Arm seiner Tochter ab und lief los.

Zuerst war das Gedränge vor dem Freiluftgehege viel zu groß, als dass Tauner hätte etwas sehen können. Er hörte eine Frau kreischen, und ein paar Männer schlugen mit den Händen gegen die Scheiben.

»Polizei!«, rief Tauner und riss einen Mann an der Schulter herum.

»Der bringt die um!«, keuchte der Mann.

Tauner griff nach dem Nächsten. »Machen Sie Platz!« Er zerrte einen Rentner beiseite, der seine Enkelin auf dem Arm trug. Das kleine Mädchen schien unbeteiligt, begann jedoch zu weinen, als sie Tauner sah.

»Was ist denn los?«, fuhr der Mann Tauner an.

»Ich bin Polizist!« Er konnte noch immer nichts erkennen, und die Menge verursachte einen Lärm, die ihn kaum ein Wort von dem verstehen ließ, was der Mann sagte.

Endlich ging der Rentner beiseite. Nun erst konnte Tauner erkennen, dass ein Orang-Utan durch die Gitterstäbe hindurch eine Pflegerin gepackt hatte, sie schüttelte und schlug. Die Frau hing leblos in seinen Händen, ob sie tot oder nur bewusstlos war, war für Tauner nicht auszumachen. Der Körper des Affen verdeckte seine Sicht. Tauner griff nach seiner Pistole, doch die lag gut verschlossen in seiner Wohnung. Jemand schrie hysterisch, einige Frauen und Kinder weinten, und weitere Leute strömten zum Gehege. Tauner fluchte lautlos, ließ vom Gitter ab und schob sich aus dem Gedränge. Er rannte los, lief um das Gebäude herum bis zu einer braun lackierten Blechtür, durch die die Tierpfleger Zutritt zum Bereich hinter den Gehegen erhielten. Die Tür war verschlossen, hatte keine Klinke. Tauner hämmerte dagegen. Zuerst tat sich nichts. Er hämmerte erneut. »Aufmachen, Polizei!«, rief er und versuchte, den Lärm der Besucher zu übertönen. Mittlerweile strömten Leute aus allen Richtungen zum Menschenaffenhaus. »Aufmachen!«, rief Tauner erneut und trat wütend gegen die Tür.

»Ich kann Sie hier nicht einlassen!«, antwortete plötzlich eine Männerstimme.

»Was soll das heißen?«

»Gehen Sie, wir kommen allein klar!«

»Ich bin Hauptkommissar Tauner von der Kriminalpolizei, lassen Sie mich sofort rein!«

»Woher soll ich wissen …«

»Jetzt machen Sie schon endlich auf, ich habe einen Ausweis!« Endlich öffnete sich die Tür. Tauner schob sogleich seinen Fuß in den Spalt. Seinen Ausweis hatte er schon hervorgeholt. Er zeigte ihn dem rotgesichtigen, großen Mann. Der tat einen Schritt zurück, und Tauner trat endgültig ein. »Los kommen Sie!«, fuhr er den Pfleger an und wollte in den Bereich hinter den Käfigen.

Der Pfleger hielt ihn fest. »Es ist schon zu spät!«, sagte er.

Tauner schürzte die Lippen und überlegte einen Moment, wie er reagieren sollte. Der Mann sah aus, als wüsste er, wovon er sprach. »Ich muss es trotzdem sehen, und wir müssen einen Arzt holen.«

»Der Arzt kommt gleich. Glauben Sie mir, es ist zu spät. Ich habe versucht einzugreifen, aber es war einfach schon zu spät.« Der Mann hob die Hände ein wenig und ließ sie kraftlos fallen. Er war etwa 50 Jahre alt, fast einen Kopf größer als Tauner und hatte eine Halbglatze. Die restlichen Haare hatte er lang wachsen lassen und zu einem grauen Zopf gebunden. Die Hemdsärmel seiner Arbeitskleidung waren abgetrennt, die Arme muskulös und voller Narben.

Tauner nickte und wollte sich an dem Mann vorbeischieben. Der hielt ihn fest. »Sie können da nicht rein!«

»Wollen wir wetten?«, fragte Tauner drohend.

»Nein, Sie verstehen das nicht, die Tiere sind sensibel, da kann nicht jeder rein, die … drehen durch. Man muss es sehr sachte angehen.«

Tauner hob die Hand. »Ich will mich ja nicht in Ihre Arbeit einmischen, doch da hinten liegt eine schwer verletzte Frau. Irgendjemand muss sowieso nach hinten und die Affen sind mir in diesem Falle völlig egal. Gehen Sie beiseite!« Tauner drückte den Pfleger mit der flachen Hand weg und betrat den lang gestreckten Gang hinter den Käfigen, die jetzt alle leer waren. Als er die Tür zum Außengehege erreichte, holte ihn der Pfleger ein.

»Kommen Sie dem Gitter nicht zu nah. Wenn er Sie einmal gepackt hat, lässt er Sie nicht mehr los.«

»Warum sollte er nach mir greifen?«

»Weil er sein Revier verteidigen will, zeigen, wer der Boss ist.« Der Pfleger drückte die Tür auf.

Zuerst sah alles harmloser aus, als Tauner nach dem Anblick von außen vermutet hätte. Die Frau, die auch etwa 50 Jahre alt sein mochte, lag in dem kurzen Gang hinter den Freiluftgehegen auf dem Rücken. Ihre Augen waren offen, die Zunge war ihr aus dem Mund gequollen. Sie hatte eine Wunde am Hinterkopf, aus der ein wenig Blut gelaufen war. Tauner bückte sich zu ihr herunter und tastete nach ihrem Puls. Weil er keinen finden konnte, versuchte er, mit dem Ohr auf ihrer Brust nach dem Herz zu lauschen, doch er hörte nichts. »Wann ist das passiert?«, fragte er den Pfleger.

Der hob die Schultern. »Ich war gerade draußen, als ich wiederkam, da hatte er sie sich schon gegriffen, und sie war bereits leblos. Ich hab gleich Erste Hilfe probiert, es hat keinen Zweck.«

Tauner zog seine leichte Jacke aus und bog den Kopf der Frau nach hinten. »Wie haben Sie Erste Hilfe geleistet?«, fragte er und schob mit dem Zeigefinger die Zunge der Frau beiseite.

»Herzdruckmassage und Beatmung!«

Wann wollte er das gemacht haben?, dachte Tauner. »Kommen Sie her. Machen Sie das so!« Er führte dem Mann eine Herzdruckmassage vor. Der Pfleger kniete sich neben ihn und tat wie geheißen, Tauner begann mit der Beatmung.

Es war sinnlos, das wusste er schon nach wenigen Sekunden, warum tat er das also? Vielleicht wegen der Besucher, die ihn sehen konnten? In der Ferne hörte Falk die Sirenen des Rettungsdienstes. »Gibt’s keine ausgebildeten Ersthelfer hier?«, fragte Tauner und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht.

»Ich bin einer«, sagte der Pfleger und sah aus, als wollte er aufgeben. »Das hat doch keinen Sinn mehr!«

»Hat es, heutzutage … Gehen Sie die Tür aufmachen!« Tauner hatte es an der Tür klopfen gehört. Der Tierpfleger erhob sich und lief los. Tauner lehnte sich zurück. Die Frau war tot, daran konnte niemand mehr etwas ändern. Dann hörte er hinter sich ein leises Geräusch. Ein Schauer fuhr ihm über den Rücken, und hastiger, als er es vorgehabt hatte, drehte er sich zur Seite und krabbelte wie ein Krebs weg vom Gitter. Das Orang-Utan-Männchen saß am Gitter, hatte die Hände lässig auf einer Querstrebe abgelegt und betrachtete ihn mit gesenktem Kopf. Harmlos sah er aus, wie ein Sack voller Brote, die riesigen Backenwülste ließen ihn gemütlich aussehen, erinnerten ihn ein wenig an seinen dicken Kollegen.

Tauner, der außer Reichweite war, erwiderte den Blick des Männchens. Dann sah er das Blut am Gitter. Ein paar Haare der Frau klebten daran. Er erhob sich und rutschte auf Knien zum Kopf der toten Pflegerin. Vorsichtig drehte er ihn, bis er die Wunde am Hinterkopf sehen konnte. Wahrscheinlich hatte der Affe ihren Schädel gegen die Gitterstäbe geschlagen. Womöglich war sie da schon tot gewesen. Im nächsten Moment kam der Notarzt mit dem Pfleger und zwei Rettungsassistenten. Er stellte seinen Koffer ab und bückte sich hinunter zur Toten, wobei er einen respektvollen Abstand zum Gitter hielt. Im Augenwinkel sah er, wie der Affe seine Unterlippe vorschob und von dem Blut kostete.

»Sie sind der Polizist?«, fragte der Arzt. Er war ein schlanker Mann von etwa 30 Jahren.

Tauner nickte, dann meldete sich der Pfleger. »Sie können nicht hierbleiben. Es ist zu eng, Theo könnte nach Ihnen greifen!«

Der Arzt warf einen Blick auf den Affen. »Bringen wir sie nach drinnen! Haben Sie eine Decke?«, fragte er den Tierpfleger. Sie trugen die Frau hinein, und der Arzt untersuchte sie. Er prüfte die Atmung, besah sich kurz die Pupillen. »Intubation vorbereiten!« Ein Rettungsassistent reichte ihm den Tubus.

Tauner erhob sich. »Wie heißen Sie?«, fragte er den Pfleger. »Haben Sie hier etwas zu sagen?«

»Mein Name ist Bormann, ich bin hier der Revierleiter!«

»Und wo waren Sie, als der Unfall geschah?«

»Ich war bei den Flamingos, hab sie gefüttert.«

»Und kamen Sie wieder, weil Sie mit der Fütterung fertig waren oder weil Sie etwas gehört haben?«

»Ich war auf dem Rückweg.«

»Und Sie haben was gesehen?« Tauner warf einen Blick auf den Notarzt. Einer der Rettungsassistenten beatmete die Frau mit dem Beatmungsbeutel. Der Arzt stach derweil einen Zugang in die Vene und spritzte ihr ein Medikament, welches, soweit Tauner wusste, die Herztätigkeit anregen sollte.

Tauner wandte sich wieder dem Pfleger zu. Der schluckte und dachte nach. »Ich hörte die Leute rufen und ahnte, was geschehen war.«

»Sie ahnten das?« Tauner warf einen prüfenden Blick auf den Mann.

Der Pfleger fuhr sich seitlich durchs Haar und straffte seinen Zopf. »Ich ahnte, was geschehen sein könnte.«

Tauner schüttelte verständnislos den Kopf. »Passiert denn so etwas öfters?«

Jetzt atmete Bormann durch und zeigte, wie sehr ihm Tauners Fragerei auf die Nerven ging. »Orang-Utans … Alle Menschenaffen sind sehr gefährlich. Wenn man nicht aufpasst, kann so was passieren.« Er deutete vage auf seine Kollegin. »Da die Besucher so schrien, ahnte ich eben, was geschehen war.«

Bormann sah sich um, als suchte er etwas. Tauner reagierte schnell. Er hielt den Mann fest, bevor dieser umkippen konnte, und half ihm, sich auf den Boden zu setzen. Tauner hockte sich daneben. Im nächsten Moment hörte er einen Schlüssel im Schloss, und mehrere Leute kamen herein. Tauner erhob sich und trat zwei Männern in den Weg. Einer war in Zivil, der andere hatte Arbeitskleidung an. »Moment, wer sind Sie?«

»Wer sind Sie denn?«, fragte der in Zivil zurück. Er war etwa in Tauners Alter, hatte gepflegtes dunkles Haar und sah aus wie einer, der Sport trieb und sich gesund ernährte.

»Kriminalpolizei Dresden, Hauptkommissar Tauner.« Falk holte seinen Ausweis hervor.

Der Mann runzelte die Stirn und sah dann fragend zu Bormann, der den Kopf hängen ließ und zu Boden starrte. »Ich bin der Zooinspektor. Wittstock ist mein Name! Wie kommt es, dass die Polizei schon da ist? Wir haben sie gar nicht gerufen.«

»Ich war zufällig hier.«

»Wie geht es Martina?« Wittstock betrachtete die Bemühungen des Notarztes.

»Sie ist tot!« Tauner gab den Weg frei, doch Wittstock machte keine Anstalten, näher zu treten. Stattdessen drängte sich sein Begleiter nach vorn und kniete sich schluchzend neben den Arzt. Tauner wünschte sich, es wären nicht so viele Leute hier.

»Sind Sie ein Angehöriger?«, fragte der Notarzt den aufgelösten Tierpfleger, was wohl bedeuten sollte, er solle sich fernhalten.

Der Pfleger konnte nur den Kopf schütteln, bevor er hochschnellte und Bormann anfuhr. »Das hast du doch mit Absicht gemacht, du Sau!«, zischte er den Revierleiter an und sah aus, als würde er gleich tätlich werden.

»Ruhig, Mann«, mahnte Tauner und drängte sich zwischen die Männer. »Er war ja gar nicht hier, als es passierte.«

»Reißen Sie sich zusammen, Herr Flieger!«, sagte auch der Zooinspektor, und Tauner ahnte, dass ihm wohl daran lag, dem Polizisten keinen allzu großen Einblick in die innerbetrieblichen Dissonanzen zu ermöglichen. Der wütende Tierpfleger ließ von seinem Kollegen ab, und Tauner nahm sich fest vor, ihn nach seiner Motivation zu diesem Ausbruch zu fragen.

»Gehen Sie in Ihren Bereich zurück, ich komme dann zu Ihnen!«, wies Wittstock den Mann an.

Der Pfleger sah aus, als wollte er sich erneut aufbäumen, doch Wittstocks eisiger Blick wusste es zu verhindern. Wütend stapfte er aus dem Gebäude und warf die Tür hinter sich zu.

Eine unangenehme Stille entstand. Tauner legte den Kopf schief und lauschte.

»Und was ist jetzt das?«, fragte er leise. Irgendwo im Gebäude weinte jemand.

»Das ist die Neue«, stöhnte Bormann, als wäre ihm jetzt erst eingefallen, dass noch jemand da war.

»Irgendwelche Vorschläge?«, fragte der Notarzt und sah die Rettungsassistenten an.

»Sie haben alles mit angesehen?«, fragte Tauner. Der Raum war nicht sehr groß. Eine Anrichte aus Edelstahl befand sich darin, ein großer Kühlschrank, eine Spüle und ein alter Schrank, der als Spind diente. Außerdem ein kleiner Tisch mit drei Stühlen. Auf einem von ihnen saß die Neue, Tauner setzte sich daneben.

Die Frau hatte die Hände vor das Gesicht gepresst und schluchzte herzergreifend, man sah nur ihr zerzaustes blondes Haar. Tauner berührte sie sachte am Arm. »Beruhigen Sie sich. Brauchen Sie etwas, Wasser vielleicht?« Tauner erhob sich, sah sich suchend um und nahm schließlich eine Edelstahltasse.

»Die sind für die Affen«, brachte die Frau hervor. Tauner drehte sich um und war erstaunt. Er hatte ein junges Mädchen erwartet, die Frau jedoch war mindestens 30.

Das konnte er gut als Aufhänger für ein Gespräch verwenden. Sein Gegenüber schien ihm zu fragil, als dass er sie sogleich mit Fragen bombardieren konnte. »Ich habe gedacht, Sie wären ein Lehrling. Bormann, sagte ›die Neue‹, das habe ich wohl falsch interpretiert.«

»Gewissermaßen bin ich Lehrling. Ich bin sozusagen ein Quereinsteiger.« Die Frau versuchte ein Lächeln. Tauner sah weg, als er erkannte, wie es entglitt. Und wieder schluchzte die Frau auf. »Die sehen so friedlich aus, und dann …« Sie schien wütend, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Ihr Haar klebte an der Stirn, ihre Augen waren gerötet.

»Das hat der wohl nicht mit Absicht gemacht«, sagte Tauner.

»Sagen Sie das nicht!«, erwiderte sie.

Tauner beschloss, nicht darauf einzugehen. Er selbst war geschockt, er selbst hatte geglaubt, ein Orang-Utan wäre etwas wie ein großes muffiges Plüschtier, dem man ab und zu eine Banane gab. »Ihren Namen und Ihr Alter brauche ich, für das Protokoll!«

»Nora Stern. 27.«

Tauner notierte sich den Namen in sein Notizbuch. »Ich bin übrigens Falk Tauner, Hauptkommissar von der Kripo Dresden.«

Stern schien verblüfft. »Von der Kripo? Warum sind Sie denn hier?«

»Rein zufällig. Können Sie mir jetzt sagen, wie das passiert ist?«

Die Stern sah einen Moment lang aus, als würde sie erneut die Fassung verlieren, dann aber atmete sie durch. »Also gut. Bormann war weggegangen und ich war hier in der Futterküche. Im Sommer geben wir den Tieren zwischendurch immer mal Obst. Da glaubte ich, etwas zu hören, doch draußen war zu viel los …«

»Was haben Sie zu hören geglaubt?«

»Einen Schrei. Es hätte auch ein Kind sein können. Ich hab mir also nichts weiter gedacht, bis jemand gegen die Durchgangstür zum Außengehege schlug. Da bin ich losgerannt. Ich weiß, dass die Affen sehr gefährlich sein können, die haben unheimlich viel Kraft. Die können einem ruck, zuck den Arm brechen. Ich hab also die Tür aufgerissen, da sah ich, dass Theo Frau Weigelt am Hals gepackt hielt und ans Gitter presste. Sie hat sich gewehrt und ich hab versucht, Theos Finger von ihrem Hals zu lösen, doch die waren wie … wie Stahl. Er sah so ungerührt aus … Es machte ihm nichts aus, wissen Sie?« Stern sah ihn mit entsetzten Augen an.

Tauner wollte mit den Schultern zucken, vermied es gerade noch. »Es ist ein Tier. Ein Löwe tötet Sie auch nicht aus Mordlust. Das ist der Unterschied zum Menschen. Ein Tier handelt nur aus dem Instinkt heraus. Was geschah weiter?«

»Also Frau Weigelt verdrehte die Augen und die Zunge kam aus dem Mund, und dann zuckten ihre Füße und sie hörte auf, sich zu wehren. Und da ließ er sie los. Wissen Sie …« Jetzt verlor Nora Stern die Kontrolle über ihre Gefühle. »Der hat sie einfach so fallen gelassen … einfach wie Müll … oder …«

Tauner erhob sich und versuchte ein wenig linkisch, die Frau zu trösten, indem er ihre Schulter tätschelte.

Bormann betrat das Zimmer und sah aus, als hätte er nicht damit gerechnet, hier jemanden vorzufinden. Tauner gab ihm ein Zeichen hereinzukommen. Der Pfleger warf einen prüfenden Blick auf die weinende Frau.

»Als Sie ankamen, war da Frau Stern bei der verunglückten Kollegin?«

Bormann schüttelte den Kopf.

»Und als Sie kamen, lag da Frau Weigelt schon am Boden?«

»Glauben Sie mir etwa nicht?«, fuhr Nora Stern plötzlich auf.

Tauner schenkte ihr einen traurigen Blick. Er glaubte niemandem etwas. Manchmal glaubte er sich selbst nicht. Und immer wieder stellte er im Nachhinein fest, wie sehr er bestimmte Menschen damit verletzte. »Ich versuche nur, die Fakten zu sortieren. Wenn ich es nicht mache, tut es ein Kollege. Hätten Sie die Polizei auf dem normalen Wege gerufen, täten die nichts anderes.«

Stern sah ihn mit bebenden Lippen an. »Haben Sie mir denn etwas vorzuwerfen?«, flüsterte sie.

Bestenfalls unterlassene Hilfeleistung, dachte Tauner sich. Doch er wollte keinen Missmut hineinbringen. Er selbst war noch viel zu aufgeregt. Denn im Gegensatz zu den Toten, die er sonst zu Gesicht bekam, war diese Frau mehr oder weniger vor seinen Augen gestorben. Schließlich schüttelte er den Kopf.

Bormann war in der Zwischenzeit zur Anrichte gegangen und lehnte sich dagegen. Er starrte den gefliesten Boden an.

»Warum hat Ihr Kollege das gesagt?«, fragte Tauner.

Bormanns Augen hoben sich müde und sahen Tauner fragend an.

»Dieser Flieger, warum hat der das gesagt, das hätten Sie mit Absicht gemacht?«

Bormann verzog das Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen. »Ich …«

»Das ist eine interne Sache, Herr Hauptkommissar!«, mischte sich Zooinspektor Wittstock ein. Er hatte offenbar die ganze Zeit hinter der Tür gestanden. »Das geht Sie nichts an, und es hat, wie Sie selbst sagten, mit der Sache nichts zu tun. Menschenaffen gelten als die gefährlichsten Zootiere überhaupt, und was wir hier haben, ist ein tragischer Unfall. Wie es zu dem Unfall kam, müssen wir klären. Wahrscheinlich läuft es auf Fahrlässigkeit hinaus. Sie selbst haben es gesehen, sagen Sie.«

Tauner wollte auffahren, denn er entschied, was er hören wollte und was ihn anging, doch dies war erstens wirklich ein Unfall gewesen und zweitens fiel ihm in diesem Moment etwas sehr Wichtiges ein. »Oh Mann«, stöhnte er und erhob sich, um an Wittstock vorbei nach draußen zu gehen. Doch der Notarzt stellte sich ihm in den Weg. Er hielt ein Papier in der Hand. Tauner erkannte ein Protokoll. Er nahm Tauner am Ärmel und zog ihn sanft von der Tür zur Futterküche weg. »Ich hab die Todeszeit eingetragen, Todesursache unklar.«

Tauner nickte.

»Die haben unheimliche Kraft, was?« Der Notarzt deutete nach hinten. »Der hätte ihr den Kopf abdrehen können. Ich habe mal einen Fernsehbericht gesehen. Die haben Kraft wie drei Männer.«

»Ja, furchtbar!«, sagte Tauner, ließ den Mann stehen und eilte nach draußen. Er lief um das Haus, wo sich eine erstaunliche Menschenmenge angesammelt hatte, und sah sich um. Dann nahm er sein Handy hervor und wählte eine Nummer. »Nicole? Wo seid ihr denn?«

Revierkampf

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