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Der nächste Morgen brachte keinerlei neue Erkenntnisse. Tauners Kinder waren weiterhin beleidigt, und die Laboranalyse vom Blut der Toten bestätigte die Unfalltheorie. Die Pflegerin musste in einem unbedachten Moment dem Käfig zu nahe gekommen sein, Theo, der älteste männliche Orang-Utan, hatte sie ergriffen, sie zu sich herangezogen und sie gewürgt. Frau Stern hatte versucht, die Hände des Affen vom Hals der Frau zu lösen, war an der puren Kraft des Tieres gescheitert und entsetzt davongelaufen, was ihr keiner übel nahm. Der Zoo selbst sprach von einem tragischen Unfall. Die Sicherheitsvorkehrungen würden noch einmal überprüft, doch es war niemandem eine bestimmte Schuld zu- oder nachzuweisen.

Pia haute Tauner eine Tasse Kaffee auf den Tisch, wie sie es fast immer tat, um zu zeigen, dass er sich ihn selbst holen konnte. Tauner ignorierte das wie immer. »Die kriegen jetzt echt Probleme!«, meinte Pia und legte Tauner eine Ausgabe von Deutschlands größtem Boulevardblatt auf den Tisch.

»›PETA beklagt falsche Tierhaltung‹«, las er. Nichts Neues, dachte er sich dabei. »War doch klar, die machen immer gleich Betrieb, wenn sich ihnen eine Gelegenheit bietet.«

Pia wollte sich ihre Schwarzmalerei nicht gleich vermiesen lassen. »Die rufen zur Demonstration auf! Die wollen sich morgen da treffen und so etwas wie eine Mahnwache halten. Ich hab das im Internet gelesen.«

»Soll ich etwa was dagegen tun?«, fragte Tauner seine Schreibkraft.

Pia ging nicht darauf ein. »Warum, glaubst du, hat er sie umgebracht?«

Tauner hob die Schultern, darüber hatte er schon zwei Nächte lang nachgedacht und war zu keinem Schluss gekommen. »Wahrscheinlich aus demselben Grund, aus dem es gefährlich ist, in den Löwenkäfig zu klettern. Weil er konnte. Weil er sie erwischt hat.«

»Das ist nicht ganz logisch. Affen fressen kein Fleisch, zumindest keine Orang-Utans.« Pia wollte sicher rüberkommen, schaffte es jedoch nicht ganz. »Soviel ich weiß«, fügte sie hinzu.

»Wie gesagt, der Inspektor meinte auch, Menschenaffen gelten als die gefährlichsten Zootiere. Das Orang-Utan-Männchen hat sie erwischt, weil sie unvorsichtig war, und hat sie umgebracht.«

»Das sind doch keine Mörder, dahinter steckt doch keine Tücke.«

»Was quatschst du mich denn voll damit?«, knurrte Tauner. »Ich hab es doch gesehen! Außerdem hat keiner von ›Mord‹ geredet. Er hat es eben getan, einfach so.«

Jetzt war Pia beleidigt. »Was sollen die denn auch sonst tun, wenn sie den ganzen Tag eingesperrt sind!«

Tauner schob seinen Kaffee weg. »Du tust ja gerade, als sei ich daran schuld.«

»Hättest du eigentlich geschossen, wenn du deine Waffe mitgehabt hättest?«, fragte Uhlmann.

Tauner schrieb sich in Gedanken eine Notiz, niemals mit seinem Kollegen einen Porzellanladen aufzusuchen. »Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich hab instinktiv nach der Pistole gegriffen, hätte wahrscheinlich nicht geschossen, da standen über Hundert Menschen. Hätte ich einen Gitterstab getroffen, wäre der Schuss als Querschläger vielleicht in die Menge geknallt. Ich will gar nicht daran denken.«

»Du hättest ihn abgeknallt, stimmt’s?« Pia lächelte wütend.

Tauner atmete tief durch. »Pia. Ich selbst habe es nicht geglaubt, aber so wie es aussieht, hat er sich die Frau geschnappt und sie glatt erwürgt. Es tut mir leid, es ist so. Und wenn du jetzt gegen Zootierhaltung bist, geh eben demonstrieren morgen. Ich überlege mir, ob ich Urlaub einreiche. Wenigstens ein paar Tage. Ich muss mich wohl bei meinen Kindern wieder einkratzen. Tom und Sandy haben noch eine Woche Ferien und vielleicht kann Nicole freimachen.«

»Soweit ich weiß, hat Sandy einen Ferienjob.« Pia senkte die Augen und wurde rot.

Tauner verengte die Augen zu Schlitzen. »Habt ihr miteinander gesprochen?«

»Nein«, antwortete Pia zögerlich.

»Du hast nicht mit Nicole gesprochen. Mit wem denn? Mit meiner Ex?«

Uhlmann wendete rückwärts im Porzellangeschäft. »Es ist nicht verboten!«, meinte er dazu. »Nur weil ihr in Scheidung lebt.«

»Ich hab doch gar nichts …« Tauner verstummte, weil das Telefon klingelte, und lenkte seine Wut von Pia auf den Anrufer. »Was denn?«, schnauzte er in den Apparat. »Ein Flieger? Herr Flieger? Ach ja, ich schicke jemanden!« Tauner legte auf und sah Pia an.

Die verschränkte ihre Arme trotzig. Uhlmann hob provokativ die Augenbrauen und rührte sonst keinen Muskel.

»Geh ich eben selbst!«, zischte Tauner.

Hermann Flieger wirkte zerfahren und sah sich im Gebäude um, als erwartete er jeden Moment, angegriffen zu werden. Tauner hatte ihn gebeten zu schweigen, bis sie im Büro waren, nun waren sie angekommen, und Flieger schwieg noch immer.

Uhlmann beugte sich vor und lächelte. »Also was nun, Herr Flieger. Hat Sie jetzt der Mut verlassen?«

Tauner hielt sich zurück. Uhlmann hatte auf bestimmte Menschen eine besondere Wirkung. Vor ihm verloren sie die Hemmung, wahrscheinlich weil er irgendwie wie ein großer Bruder schien. Ein ganz großer Bruder und ein dicker dazu. Manchmal schienen die Krümel in seinem Bart das Tüpfelchen auf dem i zu sein. Und da sollte mal jemand sagen, er wäre nicht lernfähig, dachte sich Tauner. Guter Bulle, böser Bulle, dachte er. Früher war er immer der gute gewesen.

Flieger schnaufte. Er war ein hagerer Mann in Tauners Größe, der die 50 offensichtlich überschritten hatte. Während er in Arbeitskleidung ausgesehen hatte wie ein zäher, sehniger Bergsteiger, wirkte er in Zivil einfach nur leicht unterernährt. Er hatte kurzes helles Haar und trug nun eine Brille, die nicht gerade das neueste Modell war, und auch nicht das zweitneueste. »Es ist nicht einfach«, sagte er leise, und Tauner wusste, was er damit meinte. Sich etwas vorzunehmen, ist das eine, es durchzuziehen das andere.

Schon verlor er die Geduld und beschloss, die Sache ein wenig zu forcieren. »Sie haben am Sonnabend gegenüber Bormann etwas angedeutet, sind Sie deshalb hier?«

Flieger wiegte erst den Kopf, bevor er nickte. »Haben Sie vielleicht etwas zu trinken?«, fragte er fast jämmerlich.

Falk hörte durch die geschlossene Tür, wie nebenan ein Stuhl zurückgeschoben wurde und ein Glas leise klirrte. Er wechselte mit Uhlmann einen belustigten Blick. Dann kam Pia mit einem Glas Wasser.

Flieger trank mit zitternden Händen und stellte das Glas so vorsichtig ab, als könne es bei der Berührung mit dem Tisch explodieren.

Wer gleich in die Luft ging, war Tauner. »Herr Flieger!«, mahnte er und zog sich den Unwillen seines Kollegen zu. Seit man ihm einen Tumor aus dem Kopf hatte schneiden müssen, glaubte er immerzu, die Zeit renne ihm davon.

»Wissen Sie, warum ich hier bin, ist nicht einfach zu erklären. Ich will nicht den Eindruck erwecken, dass ich … also ich will Bormann nicht …« Flieger atmete durch. »Also ich und Martina, wir sind seit einer Weile ein Paar … gewesen.« Flieger schluckte und kämpfte mit sich.

Es fiel ihm wirklich nicht leicht, dachte Tauner und beschloss, dem Mann Zeit zu geben. Auch wenn es aussah, als würden sich seine Urlaubspläne gerade zerschlagen, und auch wenn es aussah, als würde Flieger keinen einzigen Satz abschließen können.

»Vorher war Bormann mit ihr zusammen«, schaffte Flieger zu sagen.

»Das ist interessant, aber was hat das mit dem Unfall zu tun?«, meinte Uhlmann brüderlich.

»Ja, er war noch mit ihr zusammen, da waren sie und ich schon … also das ging fast ein Jahr so. Sie hat es ihm erst vor einer Weile gesagt. Also genau genommen kurz vor Weihnachten. Er war wütend, also richtig wütend, verstehen Sie?«

»Ich verstehe das«, sagte Uhlmann schnell, wahrscheinlich um Tauner zuvorzukommen, aus Angst, er könnte den armen Kerl zu sehr einschüchtern. »Bloß, Bormann war gar nicht anwesend, als der Unfall passierte.«

Flieger holte tief Luft und schüttelte heftig den Kopf. »Nein, das ist auch alles falsch, das wollte ich gar nicht sagen. Ich bin nur so … ich war so lange allein und dann war ich so glücklich und jetzt … ich bin nicht wegen Bormann hier!«

»Na, warum dann?«, fuhr Tauner den Mann an, ehe Uhlmann und er sich selbst daran hindern konnten.

Flieger sah ihn leicht befremdet an.

»Bleib mal locker!«, mahnte Uhlmann. »Weshalb sind Sie nun hier, haben Sie einen anderen Verdacht?«

Flieger wandte sich an Uhlmann, kehrte Tauner halb den Rücken zu. »Ich will Bormann nicht verdächtigen. Ich bin hier, weil es einige Dinge gibt, die Sie beachten müssen. Ich habe eine lange Zeit mit den Menschenaffen gearbeitet, ehe ich zu den Kriechtieren versetzt wurde. Es ist eher unwahrscheinlich, dass Theo einen weiblichen Pfleger angreift. Männchen verteidigen ihr Revier immer gegen andere Männchen. Hätte der Affe Bormann angegriffen, hätte ich das verstanden. Außerdem … ich weiß nicht richtig, wie ich es ausdrücken soll.« Flieger dachte nach. »Wie er sie umgebracht hat, ist untypisch. Er hat sie erwürgt, normalerweise gehen Affen mit ihren Opfern anders um. Meist sieht die Sache sehr schlimm aus, sehr, sehr schlimm, verstehen Sie?«

Uhlmann warf Tauner einen Blick zu, der hob für beide die Schultern, weil Uhlmann das nicht konnte.

Flieger fühlte sich zu Recht nicht verstanden. »Affen sind sehr kräftig. Kämpfe gehen bei ihnen immer furchtbar aus. Sie haben nachher meist schreckliche Wunden. Orang-Utans sind Einzelgänger, sie gehen sich normalerweise aus dem Weg im Dschungel. Kündigen geräuschvoll ihr Kommen an, damit die anderen Bescheid wissen. Aber wenn es zum Kampf kommt, kennen sie kein Erbarmen. Wenn Theo Martina umgebracht hätte, hätte sie viel schlimmer ausgesehen. Große Fleischwunden, sogar herausgerissene Gliedmaßen, alles Mögliche kann da passieren.«

Tauner beugte sich vor und suchte nach passenden Worten. »Ich habe so den Eindruck, als reicht es Ihnen nicht, dass Frau Weigelt erwürgt wurde.«

»Falk, du Idiot!«, sagte Pia.

Doch die falschen Worte, dachte Falk Tauner, doch anders war die Frage nicht zu stellen, denn genau den Eindruck musste man von Flieger haben. »Entschuldigen Sie bitte meine Ausdrucksweise«, bat er so freundlich wie ein Polizist, der nach den Fahrzeugpapieren verlangte. »Sie scheinen nicht zu verstehen, dass ich es gesehen habe. Die Stern hat sogar versucht, die Finger des Affen zu lösen. Ich stand erst draußen vor dem Freigehege, dann bin ich hinten rein, Bormann hat mir aufgemacht, doch er selbst hatte die Anlage gerade erst betreten, das haben alle Zeugen bestätigt.«

Flieger ließ den Kopf hängen. »Tut mir leid, vielleicht bin ich auch einfach zu aufgewühlt. Ich weiß gar nicht, was ich tun soll. Ich muss doch wieder auf Arbeit, aber jedes Mal, wenn ich am Gehege vorbeikomme, weiß ich, dass da drinnen Martina gestorben ist. Und jetzt muss ich mich auch um die Beerdigung kümmern, und Martinas Eltern, denen muss ich das irgendwie beibringen. Die konnten mich noch nie leiden, die mochten Bormann viel mehr!« Flieger schüttelte verzweifelt den Kopf.

»Wissen die Eltern von Frau Weigelt noch nichts davon?«, fragte Pia.

»Ich glaube nicht. Die lesen keine Zeitung und sehen kaum fern.«

»Es war doch vor drei Tagen, irgendjemand hat es ihnen schon gesagt.«

Flieger hob müde die Schultern.

»Und ihre Enkel, die Kinder von Frau Weigelt?«

Tauner wusste nicht, was Pia mit der Fragerei erreichen wollte. Am Ende beschwor sie einen Nervenzusammenbruch herauf, und er musste die Eltern der Toten aufsuchen.

Fliegers Blick konnte Blumen welken lassen. »Die Kinder haben mit ihren Großeltern kaum etwas zu tun, die haben bestimmt keinen Kontakt aufgenommen, da gibt es irgendeinen Zwist in der Familie.«

Ja, bei wem nicht, dachte Tauner und ignorierte Pias Blicke. Sollte die starren, wie sie wollte, er fuhr Flieger nicht zu den Eltern der Weigelt.

»Wie alt sind die denn, die Kinder?«, fragte Uhlmann, obwohl er Tauners Meinung nach lieber den Mund hätte halten sollen.

»26 und 29 Jahre.« Herr Flieger sah auf und Uhlmann hoffnungsvoll an.

»Könnte es sein, dass Frau Weigelt den Affen falsch behandelt hat?«, fragte Pia plötzlich halb laut.

Jetzt warf Tauner ihr einen bedeutungsvollen Blick zu. Einer der bedeuten sollte, sie solle den Mund halten und sich nicht in die Polizeiarbeit einmischen. Doch anscheinend war seine Mimik nicht ausgereift, denn Pia schien es eher als Aufforderung zu sehen, weiter nachzuhaken.

»Ich meine, werden die Tiere vielleicht gequält?«

»Also …« Flieger schien völlig konsterniert. Gerade von Pia hätte er das nicht erwartet.

»Tja, so ist das hier bei uns!«, gab Tauner seinem Gedanken eine Ausdrucksform. »Und, kann es denn sein?«

Jetzt begann der Tierpfleger heftig mit dem Kopf zu schütteln. »Das ist unmöglich. Wirklich. Das geht bei Affen nicht. Man muss sie sachte behandeln, man muss ihnen zeigen, was sie tun dürfen und was nicht, auf eine sanfte Art. Wenn man sie misshandeln würde, könnte man sie gar nicht halten. Die würden durchdrehen oder die Nahrung verweigern.«

»Oder sie merken sich den Übeltäter und nutzen die Gelegenheit zur Rache, sobald sie sich ergibt«, setzte Pia ihre Ausführung fort.

»Nein doch, glauben Sie mir. Erst recht nicht Martina.«

»Aber Elefanten merken sich so etwas auch und Wale.« Pia hatte sich ein wenig festgebissen an diesem Gedanken. Dass ein Orang-Utan einfach so jemanden tötete, wollte sie nicht akzeptieren.

»Es sind keine Elefanten, sondern Primaten, Orang-Utans, und Theo hatte keinen Grund, Martina umzubringen. Das passiert manchmal, Sie müssen mal Bücher darüber lesen.« Flieger sah sich verzweifelt nach Hilfe um.

Pia schien Gefallen an der Rolle der Polizistin gefunden zu haben. »Aber gerade kamen Sie doch zu uns und meinten, etwas stimme da nicht und dass ein männlicher Affe keine Frau angreift.«

Flieger hob die Hände und schien den Tränen nahe. »Das ist doch kein geschriebenes Gesetz.«

Tauner erhob sich. »Kommen Sie, ich fahr Sie zu Frau Weigelts Eltern!«

Uhlmann grunzte verblüfft, und Pia verschränkte die Arme. Und ob sie die Lippen aus Wut zusammenkniff oder weil sie sich ein Grinsen verkneifen musste, beschäftigte Tauner noch, bis sie das Polizeipräsidium verlassen hatten und im Auto saßen.

Sie fuhren bis fast nach Bautzen. Flieger saß im Fond von Tauners Dienstwagen, Uhlmann rechts von ihm. Flieger wagte es nicht mehr, auch nur einen Ton von sich zu geben. Ab und an warf Tauner einen Blick in den Rückspiegel.

»Passiert das öfters?«, fragte Uhlmann mitten in die halbstündige Stille. »So ein Unfall?«

Flieger zuckte zusammen, als wäre er beinahe eingeschlafen. »Wenn man solche großen Tiere hält, muss man damit rechnen.«

»Das ist keine Antwort«, beschwerte sich Uhlmann.

»Es passiert. Jeden Tag passiert etwas irgendwo. Man hört immer nur von den ganz schlimmen Dingen. Dann kommen immer gleich die Tierschützer.«

Uhlmann grunzte, und Tauner wusste, dass sein Kollege eine konkretere Antwort wollte.

Flieger schien das nun selbst zu bemerken. »Ich kann es nicht genau sagen. Einmal pro Jahr in Europa vielleicht …«

»Gibt es einen Toten?« Jetzt war Uhlmann verblüfft.

»Nein, einen Angriff. Normalerweise hätte man intervenieren können. Die Stern hätte Theo mit dem Wasserschlauch abspritzen sollen, das mögen die Affen gar nicht. Aber erstens war ich nicht dabei und zweitens ist sie nicht lange genug da, sie war bestimmt panisch. Vielleicht dachte sie so ähnlich wie Ihre Kollegin. Dass solche sanften Tiere nicht so sein können. Soviel ich gehört habe, hat sie ein Faible für Theo und umgekehrt auch.«

»Wie ist das denn gemeint?«, mischte Tauner sich ein.

Jetzt lebte Flieger ein wenig auf. »Bei Primaten ist das nicht einfach. Die Pfleger und die Affen müssen sich mögen. Da kann man nicht irgendjemanden hineinstecken. Man kann nur testen, ob die Affen gut mit dem neuen Pfleger können, und wenn nicht, hat es keinen Sinn, ihn da erst einzuarbeiten. Nora Stern hat offenbar einen guten Draht zu ihm. Ich schätze, wenn ihre Umschulung zu Ende ist, werden sie sie zu den Orang-Utans stecken.«

»Vorher macht sie eine Art Zoorunde? Eine Woche in jedem Revier?«

»Nicht nur eine Woche, aber im Prinzip ist es so. Im Primatenhaus ist sie wohl seit drei Wochen.«

»Kann man sich einfach so bewerben?«, fragte Tauner.

»Ich glaub schon, bin mir nicht sicher, fragen Sie da lieber mal den Wittstock. Der stellt die Leute ein und entscheidet, wer nach der Lehre übernommen wird. Martina hat damals auch …« Flieger verstummte abrupt, und Tauner, der sogleich vermutete, ihm würde etwas verschwiegen, erkannte im Spiegel, dass Flieger wohl gerade eben von der Realität eingeholt worden war.

»Warum hat Wittstock so energisch darauf bestanden, dass Sie Ihre Differenzen mit Bormann vor mir zurückhalten?«, fragte er, um Flieger gar nicht erst in zu tiefe Trauer fallen zu lassen.

»Das liegt doch auf der Hand, der Fall ist offensichtlich, und Sie mussten doch gleich die falschen Schlüsse ziehen!« Flieger verzog gequält das Gesicht.

Tauner musste erst einmal nachdenken, wie er das verstehen sollte. »Sie haben jetzt etwas gesagt, von dem Sie glauben, Wittstock sieht das so? Der Fall ist für Sie nicht wirklich offensichtlich. Sie selbst haben ja gleich vermutet, Bormann hätte seine Hände im Spiel!«

»Ja, das habe ich im ersten Affekt gesagt«, flüsterte Flieger.

Uhlmann war auch noch wach. »Nun sind Sie aber zu uns gekommen! War das der zweite Affekt?«

»Ich hab Ihnen doch gesagt, ich will nicht behaupten, Bormann hätte etwas damit zu tun. Mir kam der ganze Unfall seltsam vor und je länger ich darüber rede, desto dümmer fühle ich mich.«

»Viele Menschen brauchen nach dem Tod von einem geliebten Menschen jemanden, dem sie die Schuld geben können. Offenbar hilft das ein wenig über den ersten Schmerz. Jedoch passieren Dinge manchmal einfach, und es gibt nichts zu hinterfragen. Müssen wir da nicht raus?« Uhlmann zeigte auf ein Abfahrtsschild, Tauner bremste ab und wechselte die Spur.

Die Eltern der toten Tierpflegerin wohnten in einem kleinen Häuschen am Waldrand in der Nähe von Neschwitz. Das Grundstück sah gepflegt aus, das Häuschen selbst schien sich unter den Tannen zu ducken. Als Tauner den BMW auf das Grundstück lenkte, kam hinter dem Haus ein älterer weißhaariger Mann gelaufen, an der Hausecke blieb er stehen. Er hielt eine Schaufel wie ein Gewehr quer vor der Brust, als sei er bereit zuzuschlagen, machte jedoch einen eher lächerlichen als einen gefährlichen Eindruck.

»Ihr Vater«, flüsterte Flieger und fühlte sich offensichtlich nicht wohl. Ganz im Gegenteil, auf Tauner machte er den Eindruck, als müsste er sich gleich erbrechen. Deshalb kletterte er schnell aus dem Wagen und öffnete Flieger die Tür.

Als der Vater von Martina Weigelt Flieger erkannte, stellte er die Schaufel auf dem Boden ab. So wie er sie jetzt hielt, konnte man meinen, er brauchte sie als Stütze. »Du kommst zu spät!«, rief er aus und drehte sich um.

Flieger stand hilflos neben dem Auto, Schweiß perlte auf seiner Stirn.

»Wie meint er das?«, fragte Uhlmann, nachdem er sich ächzend aus dem Wagen gestemmt hatte.

»Sie wissen es wahrscheinlich schon«, sagte Flieger leise. »Ich sag es ja, die können mich nicht ausstehen.«

Mussten sie auch nicht mehr, dachte Tauner leicht erzürnt, denn nun waren sie völlig sinnlos eine Stunde lang gefahren. »Herr Weigelt, warten Sie!«, rief er. Er wollte nicht einfach stehen gelassen werden, auch wenn der Alte nicht wissen konnte, dass er Polizist war.

»Die heißen nicht Weigelt, die heißen Ambach, Rudolf und Helene Ambach.«

Besten Dank, dachte Tauner. »Herr Ambach!«, rief er und lief dem Alten nach. Er fand ihn in einem Gärtchen hinter dem Haus. Dort jätete er im Beet Unkraut, die Schaufel stand an die Hauswand gelehnt.

Der Alte richtete sich auf. Aus der Nähe schätzte Tauner ihn auf Mitte 70. »Wer sind Sie denn? Wir brauchen kein Bestattungsunternehmen! Ihr seid ja wie die Scheißfliegen!«

»Mag sein, dass ich Ihnen so vorkomme, aber ich bin Polizist!« Tauner zwang sich ein halbes Lächeln auf, den Rest wollte er sich für Frau Ambach aufheben.

»Und was wollen Sie schon wieder?« Der Alte sah zum Haus.

Tauner folgte seinem Blick, konnte allerdings nichts erkennen, das für ihn von Belang war. »Wieso wieder, waren schon die Kollegen da?«

Der Alte wurde ungehalten. »Ich meinte, was wollen Sie?«

Ja was, dachte Tauner in einem leichten Anflug von Panik. »Wir sind hierher gefahren, um Sie vom Tod Ihrer Tochter zu unterrichten. Anscheinend wissen Sie schon davon.« Zu kümmern schien es sie wenig, dachte Tauner.

»Natürlich!«

»Wer hat es Ihnen erzählt?«

»Es hat sich herumgesprochen. Wenn dieser Scheißkerl es nicht über sich bringt, uns wenigstens anzurufen. Wir haben es beim Bäcker erfahren, vorgestern. Es stand in der Zeitung, und viele kommen nicht infrage, wenn bei den Orang-Utans eine 50-jährige Frau ums Leben kommt. Ich hab ihr gesagt, sie soll sich etwas anderes suchen. Diese hinterhältigen Mistviecher, es musste ja so kommen.«

»Es war ein Unfall!«

»Ein Unfall, ist klar!« Der Alte lachte auf und winkte ab. »Der hat sie umbringen wollen. Die sind schlau! Haben Sie die mal beobachtet? Ihnen mal in die Augen gesehen? Die wissen, was Sie denken! Die wissen das besser als Sie selbst! Ich lasse mich nicht von denen täuschen. Der Drecksack sollte eingeschläfert werden!«

»Rudolf«, rief vom Haus eine Frau.

Ambach wandte sich von Tauner ab und setzte seine Gartenarbeit fort. Tauner ging zu Frau Ambach, die aus dem Fenster sah. »Mein herzliches Beileid. Ich bin von der Kriminalpolizei Dresden. Ich soll den Unfall untersuchen.«

»Und was machen Sie dann hier?«, fragte die alte Frau entrüstet. Sie hatte schmutziggraue Haare und ihr Mund schien versteinert.

Das war keine nette Omi, dachte Tauner alarmiert und investierte ein ganzes Lächeln. »Vielleicht können Sie ein paar Aussagen über die persönlichen Verhältnisse Ihrer Tochter machen.«

Die Ambach beugte sich aus dem Fenster und verengte ihre Augen zu Schlitzen. »Glauben Sie, der Flieger hat sie umgebracht?«, flüsterte sie.

Tauner beugte sich ebenso vertraulich nach vorn. »Er hätte den geringsten Grund dazu, oder? Vielleicht hatte der Herr Bormann seine Hände im Spiel?«

Ambach schüttelte bedächtig und doch bestimmt den Kopf. »Das glaub ich nicht, der hätte eher dem Flieger den Hals umgedreht.«

Tauner speicherte diese Aussage als nutzlos ab, er hatte sich nicht wirklich etwas erhofft. Was auch immer der Flieger zu sagen gehabt hatte, es war eine Art Schockreaktion, da hatte der dicke Uhlmann schon recht. »Ich habe gehört, Ihre Enkel stehen Ihnen nicht sehr nahe? Hatten Sie einen guten Kontakt zu Ihrer Tochter?«

Frau Ambach wich ein paar Zentimeter zurück. »Sie stellen hier recht persönliche Fragen!«

»Ich frage mich nur, ob die Kinder von Frau Weigelt es schon wissen.«

»Bestimmt, der Zoodirektor wird es ihnen schon gesagt haben.« Frau Ambach sah an Tauner vorbei, und Tauner folgte dem Blick mit einer halben Drehung. Wie zufällig war ihm Herr Ambach näher gekommen, hielt seine kleine Unkrautharke in der rechten Hand.

Tauner trat ein wenig zurück, einfach nur, um beide im Blick zu haben. »Es ist kein Geheimnis, Sie können Flieger nicht ausstehen.«

Das war das richtige Thema für Herrn Ambach. »Er ist ein Feigling, ein Schleicher, er kommt sogar mit Polizeischutz zu uns.« Ambach lachte böse. »Der soll sich trauen, zur Beerdigung zu kommen.«

Nun hielt es Tauner für angemessen, sich einzumischen, schließlich wollte er von Pia nicht genötigt werden, zur Beerdigung zu gehen, um Flieger zu beschützen. »Immerhin hat Ihre Tochter sich den Mann ausgesucht.«

»Meine Tochter hat schon viele seltsame Entscheidungen getroffen«, sagte Frau Ambach leise, dann zog sie sich zurück und schloss das Fenster.

»Da geht’s zum Tor!«, sagte Ambach und deutete in die entsprechende Richtung.

Frau Diekmann-Wachte seufzte leise und schob ein paar Papiere auf ihrem Schreibtisch zurecht. Tauner wartete geduldig, es war angenehm kühl im staatsanwaltlichen Büro, eine Wohltat nach der staubigen Hitze der Autobahn. Der Tag war schon sehr fortgeschritten, es roch nach Feierabend. Uhlmann sah aus, als wäre er in seinem Stuhl eingeschlafen, doch das täuschte. Es war die Spezialität von Tauners Kollegen, völlig regungslos dazusitzen und durch schmale Augenschlitze alles zu beobachten.

»Was stellen wir jetzt damit an?«, fragte die Staatsanwältin ein wenig ungehalten. Tauner konnte sie sogar verstehen. Für sie, wie für ihn und alle anderen, schien der Fall abgeschlossen, noch ehe er begonnen hatte. Und nun kam plötzlich dieser schmale Mann, der seinen Verlust nicht verarbeiten konnte, und machte eine solche Aussage. Eine solche vage Aussage, mit der niemand etwas anfangen konnte, der nicht täglich mit den Tieren etwas zu tun hatte.

Die Staatsanwältin legte die Unterarme auf den Tisch und sah Tauner fragend an. »Nun?«

Tauner hob die Schultern. Ab und an dürften auch andere etwas entscheiden. Und einfach so dazusitzen und die Diekmann-Wachte zu betrachten, war auch ganz nett. Heute hatte sie sich für den Schneewittchen-Look entschieden. Ihre Haare waren seit einigen Monaten schwarz, wodurch ihr Gesicht fast weiß wirkte. Sie trug einen schwarzen Rock und eine weiße Bluse. Der knallrote Lippenstift hätte wohl an jeder anderen Frau ein wenig aufdringlich oder gar nuttig gewirkt, bei der Staatsanwältin war jedoch die Farbe ein gezielter Akzent mitten im schwarz-weißen Ensemble. Tauner fragte sich, in welches Fitnessstudio sie ging und ob die Männer dort ab zu etwas von dem sahen, was die Diekmann-Wachte unter ihrer Kleidung verbarg, in der Sauna vielleicht.

»Wenn Sie fertig sind mit Starren, erzählen Sie mir, welchen Eindruck Sie von den Eltern der Toten haben«, meinte die Staatsanwältin. »Mich macht Ihre Aussage stutzig, die hätte das scheinbar gar nicht richtig interessiert.«

Hätte er nur nichts davon gesagt, dachte Tauner und richtete sich in seinem Stuhl auf. »Der Flieger meinte, es gäbe da wohl einen Disput in der Familie, offenbar zieht der sich durch alle Generationen. Der Tod ihrer Tochter hat sie anscheinend nicht sehr getroffen.«

»Wissen denn die Kinder von Frau Weigelt davon?«

»Woher soll ich das denn wissen?«, fragte Tauner. Und was sollte die Frage, war er jetzt zum Boten für schlechte Neuigkeiten degradiert?

»Sie waren doch bei den Eltern, haben Sie sich nicht mit denen unterhalten?« Diekmann-Wachte blickte ihn ehrlich an. Jeder andere Mensch hätte ihr das abgenommen, Tauner nicht, dazu kannte er die junge Frau zu gut. Der Lippenstift war bezeichnend für sie. Er verhieß das Paradies, entpuppte sich jedoch schnell als das Gegenteil, und zwar als Jüngstes Gericht.

Tauner beschloss, es auf eine andere Weise zu probieren, anstatt direkt auf Konfrontationskurs zu gehen. »Die Ambach nahm an, der Zoodirektor hätte die Kinder der Weigelt informiert. Dem bin ich nicht weiter nachgegangen. Und bestimmt habe ich 20 andere Fragen vergessen. Morgen fahren wir noch einmal dahin!«

Uhlmanns Stuhl drehte sich ihm ein paar Zentimeter zu, so weit, bis der Dicke seinem Kollegen aus dem Augenwinkel einen Blick zuwerfen konnte.

»Ich sage Ihnen, was Sie beide morgen machen! Zuerst gehen Sie in den Zoo und führen ein paar Gespräche. Drohen Sie ruhig mit Vorladungen, falls jemand nicht dazu bereit ist. Versuchen Sie der Aussage auf den Grund zu gehen. Außerdem können Sie ein wenig Recherche betreiben, über Unfälle in Zoos. Sie haben nicht zufällig ein paar Zeugen vom Unfall aufgenommen?« Diese Frage ging an Tauner.

Der schüttelte den Kopf. »Ich bin meinen Kindern nachgelaufen.«

»Sind die nicht schon groß?«, fragte die Staatsanwältin.

»Ja, sind sie, aber deshalb nicht weniger beleidigt, weil meine Arbeit mir wieder einmal wichtiger war.«

»Das war ja nun wirklich akut, da hätten Sie nicht einfach untätig bleiben dürfen!«

Tauner setzte ein Lächeln auf, eines, mit dem er eine seiner harmloseren Sarkasmen ankündigte. »Ich gebe Ihnen die Telefonnummer, dann können Sie es ihnen erklären.«

Der Staatsanwältin schien die Ironie jedoch nicht zu bemerken. »Na immer her damit!«

»Ach was, das war nur Spaß!« Tauner winkte ab und erhob sich. »Wir sind doch fertig für heute, oder?«

»Nein, ich wollte Sie noch fragen, ob Sie heute Abend mit mir Essen gehen?«

Uhlmann verschluckte sich fast an dem Gehörten, und Tauner wusste nicht, wie er die Frau ansehen sollte.

»War nur Spaß!« Diekmann-Wachte schüttelte den Kopf über so viel Naivität. »Wenn Sie mit dem Zoobesuch fertig sind, würde ich Sie bitten, die Kinder der Verstorbenen aufzusuchen. Sollte es keine weiteren Auffälligkeiten geben, werde ich den Fall übermorgen abschließen und den Leichnam freigeben. Schönen Abend noch!«

»Ich finde das nur fair!«, hatte Pia eine halbe Stunde später dazu zu sagen.

»Fair? Wem oder was gegenüber?«, fragte Uhlmann. Was ihm jetzt zum Glück fehlte, war Ruhe und eine Flasche Bier, alles andere hatte sich auf morgen verschoben.

Pia tat, als wäre es offensichtlich und die Frage völlig überflüssig. »Fair dem Affen gegenüber«, sagte sie, während sich Tauner Aktennotizen machte und fest entschlossen war, sich heute auf keinerlei Verbalgeplänkel einzulassen.

»Dem ist das doch egal«, grunzte Uhlmann.

»Er wird in der Presse als Mörder gehandelt. Hier!« Pia hob eine Boulevardzeitung in die Luft und klopfte auf das Titelblatt. ›Mörderaffe‹, stand da geschrieben. Tauner hatte schon schlechtere Schlagzeilen gelesen.

Uhlmann ließ seinem Mund ein unflätiges Geräusch entweichen. »Na, wenn der Affe einer ist.«

»Es ist kein Mord, der Mörderaffe ist immer noch ein Tier. Es war ein Unfall! Die Folge davon, dass er eingesperrt ist und schlecht behandelt wird. Bestimmt war es einfach eine Instinkthandlung und niemand hat das Recht, ihn als Mörder zu bezeichnen. Außerdem kommen jetzt jeden Tag ein paar Tausend Leute in den Zoo und starren ihn an und können es offenbar kaum erwarten, dass er noch jemanden umbringt. So ein Primat ist nicht einfach nur ein Tier, er hat Gefühle, er nimmt die Stimmung wahr, und bestimmt schlägt sich diese auf seinen Gemütszustand nieder. Das ist wie beim Menschen. Ein Mensch merkt es doch auch gleich, wenn niemand ihn leiden kann.«

Uhlmann grinste breit. »Du widersprichst dich fast im selben Satz. Wenn er ein so sensibles Wesen ist und Gefühle hat wie ein Mensch, dann hat er vielleicht auch aus Mordlust gehandelt, auch ein sehr menschliches Gefühl.«

Zum Glück hatte er das nicht gesagt, dachte Tauner.

»Du bist genauso blöd wie du dick bist!«, fauchte Pia.

»Ich hab schon sechs Kilo abgenommen!«, freute sich der Beleidigte ungerührt.

Pia nahm ihre Tasche. »Tschüss«, sagte sie knapp und verschwand aus der Tür, die ein wenig lauter zufiel als nötig.

Uhlmann drehte sich zu Tauner. »Ich habe geschwindelt, es sind nur zwei!«

Revierkampf

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