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IM LABYRINTH DER NEONROSE

Ein Hochhaus

Nasse Wände, Beton

So alt und voller Tage

Wie eine Couch

Im Regen

Das Mädchen mit den Schmetterlingsaugen schloss die Lider und ließ den Regen über ihre Wangen laufen. Wind zerrte an ihren Haaren und einer Wolldecke, die sie um den nackten Oberkörper geschlungen hatte.

Ein Song drang auf den Balkon hinaus.

»Du wirst krank, komm rein!« Die Stimme kam aus dem Raum hinter ihr, männlich, jung.

»Gleich«, sagte das Mädchen und öffnete die schillernden Augen. »Die Luft ist sauber heute Nacht.«

»Liegt am Regen!«

»Nee, nicht immer.«

Links wurde ein Schatten größer.

Das Mädchen drehte sich um. »Die Ratten der Stadtwerke streiken, Öfen und Schornsteine sind abgeschaltet.«

»Komm rein«, wiederholte der Junge, diesmal fester – ein Punk, verkniffene Augen, prismatische Haarspikes; außer einer Narbe am Ohr war nichts Besonderes an ihm. Er führte das Mädchen zurück ins Zimmer. »Du musst jetzt gehen.«

»Schon?« Sie ließ die Wolldecke fallen und suchte nach ihrer Hose und dem Longshirt, beides schwarz.

»Muss gleich los«, erklärte der Punk, während auch er nach seinen Klamotten suchte, Ledermantel und Nietenhose. »Besorgungen machen.«

Das Mädchen zog ihren Plastikmantel über. »Du?«

»Ja?«

»Sehen wir uns … Ich meine …«, begann sie.

»Möglich«, erwiderte der Punk und grinste. »Wie heißt du eigentlich?«

»Céline.«

»Hübscher Name, passt zu dir.«

»Ich hau dann mal ab.« Céline verschnürte die Schuhe, nahm ihre Tasche und stand auf. Zügig ging sie auf die Haustür zu.

»Warte!« Der Punk kam herüber, umarmte sie. »Pass auf dich auf, okay?«

»Aber klar«, sagte Céline. Sie löste sich von ihm. »Mach’s gut.« Schnell öffnete sie die Tür und lief den Korridor entlang zum Fahrstuhl.

In Musik gebrannt

Ein Stuhl, ein Fenster

Buntes Licht

In Musik gebrannt

Atem, Haut

Zwei Risse an der Wand

»Also, an deiner Stelle würd ich sie behalten.« Die Verkäuferin zog die Haftung von der Stirn, ehe sie die Drähte um den goldenen Kubus wickelte; ein Transmitter für Memories. »Eine schöne Erinnerung, nette Musik. Von letzter Nacht?«

»Wie viel?«, fragte Céline und streifte die zweite Haftung ab.

»Fünfzig bar auf die Kralle, zweihundertfünfzig, wenn ich vorher einen Käufer ausfindig mache.«

»Was, nur?« Céline senkte den Kopf. »Ich dachte, die laufen immer, ich …«

»Sicher, werden gern genommen«, antwortete die Verkäu-ferin und nickte gutmütig. »Schau mal, erst gestern kamen zwei Jungs rein, bisschen älter, fünfzehn vielleicht, und …«

»Ich verstehe.«

»Aber wenn du ’ne Woche wartest, könnte ich jemanden finden, der auf Direktübertragung steht, Koreaner, Japse.« Sie lächelte ihr zu. »Nun?«

»Nein, danke«, sagte Céline und streifte die Kapuze über. »Ich versuch’s noch woanders.« Kurz schaute sie die Verkäuferin an: eine Kubanerin, sandgelbe Dreadlocks. »Wiederseh’n.« Ohne ein weiteres Wort verließ Céline den Krämerladen und lief an Bars und einer Spielhalle vorbei zur Bernsteingasse. Der Regen wurde stärker; Céline rannte noch ein Stück und stellte sich dann an einem Studio für Flüssigtattoos unter. Etwa fünf Meter entfernt kniete ein Penner auf der Straße und malte mit Sprühdosen wässrige Bilder auf den Asphalt. Sein Mantel und die Haare waren durchnässt, doch es schien ihn nicht zu stören.

»Hey!«, rief Céline und schüttelte die Tropfen ab. »Was soll’n das sein? Sieht wie ’ne Tarotkarte aus!«

Der Penner drehte den Kopf und lächelte; ihm fehlte ein Schneidezahn. »Kennste Miró nicht?«

»Miró?«, fragte Céline nach. »Doch, kommt mir bekannt vor.«

»Elvira Miró, 2189 bis 2218. Begründerin des Neoschock. Gestorben letzte Woche.«

»Was bist du? So ’ne Art Künstler?«

»Ich?«, grinste der Penner. »Nicht mehr.«

Zögernd trat Céline in den Regen hinaus. »Suche Arbeit, weißt du was?«

»Frag den Flamen, wie alle hier.« Der Penner zeigte auf eine alte Diskothek – ein Zentaur als Neonschild, halb erleuchtet. »Hat bestimmt ’n Botenjob für dich.«

»Danke.« Céline studierte sein fertiges Bild, die Figuren, Farben. Dann überquerte sie die Straße, klingelte an der Tür und wurde reingelassen.

Der Schädel

Wie ein Cadillac lackiert

Zwei Münzen

In den Augenhöhlen

Patronen als Zähne

Dahinter Krieg

»Was traust du dir denn zu, Mädchen?« Der Flame, ein Rothaariger mit Sommersprossen hinter der Brille, legte die Hände auf den Glastisch. Geklebte Poster an den Wänden, Pin-ups, Motorräder, Palmen am Meer, dazwischen ein Schrank.

»Weiß nicht.« Céline biss sich auf die Unterlippe. »Botenjobs und so?«

»Botenjobs«, wiederholte der Flame und nahm die Brille ab – links ein Auge, rechts ein konvexer Monitor, der ein Auge simulierte: Pupillenverengung und Wimpernschlag. »Kuriere habe ich genug.«

»Dann vielleicht …« Ihre Schmetterlingsaugen schillerten unruhig.

»Setz dich erst mal«, sagte der Flame und deutete auf den zweiten Sessel vor sich.

»Ja, gut.« Céline zögerte, dann nahm sie Platz, legte die Knie aneinander.

»Rauchst du?«

»Nee.«

»Also, ich hätte tatsächlich einen Job für dich«, erklärte der Flame, wobei er eine Zigarette in seinen Mundwinkel schob und anzündete. »Nicht ganz leicht, wird aber gut bezahlt.«

»Wie viel?«

»Fünfzehnhundert, wenn du alles richtig machst.«

Céline starrte auf die blassen Poster. Ihr Mund wurde schmal. »Nein, so Sachen mach ich nicht.«

»Was?«, fragte der Flame, ihrem Blick folgend. Sein Lachen war hart, aber offen. »Scheiße, was glaubst du von mir, Mädchen, dass ich Zuhälter bin! Du solltest wissen, bei wem du vorstellig wirst.«

»Ich …«

»Jetzt pass mal auf, ich hatte einen guten Tag, einen echt guten Tag, verstehst du? Die Geschäfte laufen, gute Nachrichten, viel Profit. Deshalb geb ich dir ’ne Chance.« Er hob den Zeigefinger. »Eine Chance, drin oder draußen?«

»Drin«, sagte Céline und sah ihn an.

»Okay.« Der Flame zog eine Schublade auf, bevor er einen Kubus mit zwei Haftungen, eine Gasmaske, eine Keycard und eine Pistole auf den Tisch legte. »Wie gesagt, der Job ist nicht ganz einfach. Du wirst mir Memories beschaffen.«

»Von wem?«

»Die Frau heißt Eva Conklin, lebt im goldenen Viertel, Haus Nummer 253, erstes Geschoss. Du steigst nachts bei ihr ein, verwendest diese Gaspatrone …« Mit spitzen Fingern legte er einen Zylinder zu den Sachen. »… benutzt den umgebauten Kubus und haust ab. Eigentlich ein Kinderspiel.«

»Wozu die Waffe?«, fragte sie und beugte sich vor. In ihrem Kopf rasten die Gedanken; sie ließ sich nichts anmerken.

Der Flame lächelte dünn. »Wenn’s schiefgeht, Mädchen.«

»Ich mach’s.« Vorsichtig begann sie, die Sachen in ihre Tasche zu stecken. »Was brauchst du?«

»Conklin arbeitet als Putzfrau bei Nova Medicals, hol mir alles, was sie weiß: Zugangscodes, die Korridorwege. Alles.«

»Wofür denn?« Céline bereute die Frage sofort, als der Flame das Lächeln fallen ließ und sie mit dem Monitor fixierte:

»Die Erinnerungen sind morgen hier, ansonsten gehst du leer aus. Wird der Kubus beschädigt, schuldest du mir Geld, viel Geld. Alles klar?«

»Sicher«, sagte Céline und stand auf. »Keine Angst, ich mach das schon.«

Frauen auf Papier

Blass, gelb verfärbt

Leergesaugt

Von tausend Augen

Ein Klebestreifen

Über Brüsten

Nachts ließ der Regen nach und es war mehr los auf den Straßen; zwielichtige Gestalten, manche gefährlicher als andere: Gangs prügelten sich mit Gangs, Harlekine gegen Molotows, später Polizei.

Céline kauerte hinter dem Rahmen eines ausgeschlachteten Motorrads. Immer noch brannte die kahle Glühbirne am Fenster von Haus Nummer 253. Sie fror; ihre Finger waren steif vor Kälte. »Geht ins Bett«, flüsterte sie, zum wievielten Mal. »Geht bitte ins Bett.«

Noch einmal rieb sie ihre Handflächen aneinander, als plötzlich das Fenster schwarz wurde und Céline im Dunkeln saß. »Endlich«, sagte sie befreit, lächelte; dann zog sich ihr Magen zusammen. Noch eine Viertelstunde ließ sie verstreichen, bevor sie ihre Tasche öffnete und die Gasmaske hervorholte. Céline zog die Kapuze runter, band ihr schwarzes Haar zu einem Knoten, atmete tief durch. Zerrend stülpte sie die Maske übers Gesicht und drückte den Rücken an der Wand hoch.

Ihr Keuchen drang dumpf an ihre Ohren, sie atmete in kurzen Zügen, ein, aus; Céline versuchte, an nichts zu denken, während sie in den Hauseingang trat und die Stufen zur Wohnung emporstieg. Conklin – das Metallschild war rostig, der Name kaum im Schatten des Korridors zu lesen. Mit fahriger Hand holte Céline die Keycard hervor und schob sie durch den Leseschlitz; eine Diode wurde grün.

Célines Atem ging jetzt stockend und ließ die Gasmaske beschlagen, sodass sie kaum etwas sehen konnte. Schweiß brannte in ihren Augen. Lautlos tastete sie sich in den Flur vor – tiefe Decke, schmale Wände, die mit einer vergilbten grünen Tapete bedeckt waren. Drei Türen, ein Spiegel; Céline vermied es, hineinzusehen, als sie zur ersten Tür schlich und sie öffnete: ein Wohnzimmer, unaufgeräumt und muffig, überall lagen Bücher auf dem Boden verstreut; weiter hinten erkannte Céline eine alte Couch und einen verstaubten 5Sense-Fernseher. Sie schloss die Tür.

Die zweite Tür, die Céline öffnete, war das Schlafzimmer. Eine Frau lag im Bett, allein; ihre großen Brüste hoben und senkten sich im Schlaf. Mit hämmerndem Herzen kam Céline heran und musterte die Gestalt: üppig, dicker Hals und graues Haar, das über ihrem Nachthemd lag; Eva Conklin schnarchte.

Vorsichtig griff Céline in ihre Tasche, holte den Kubus heraus und stellte ihn auf der Bettkante ab. Sie hielt die Luft an, sammelte sich, ehe sie eine der Haftungen an der Stirn anbrachte. Schlagartig fiel ihr ein, dass sie die Gaspatrone bis jetzt nicht eingesetzt hatte.

Egal, dachte sie. Ich mach das so. Céline schob die zweite Haftung unter die Gasmaske, schloss die Augen und drückte den Transmitter-Knopf:

Unterm Neonschild, die Frau

Den Blick gesenkt

Das Mädchen auf dem Bordstein

Gleiche Augen, gleiches Haar

Das Kind in den Ruinen

Lachen, irgendwo

Der Regen fällt

Céline schlug die Augen auf; ihr Herzschlag ging jetzt ruhiger, fast normal. Im Raum war es dunkler geworden. Motorengeräusche von draußen, die Jalousien flatterten.

Das ist es noch nicht, dachte sie verbissen, während sie zum Kubus langte. Ich muss ihr Kurzzeitgedächtnis finden, die Erinnerungen von heute. Erneut drückte sie den Knopf.

Grüne Götter

mit Vogellippen

5643843

Im OP-Saal

Kopf zu Kubus

Und zurück

Tote Namen, jeder ein …

»Was geht hier ab, verdammt!« Ein Mann stand schwankend im Türrahmen, groß und hager, kurzes Haar. Er hielt eine abgesägte Flinte in den Händen. »Rede, du Pisser, sonst puste ich dir dein verschissenes –!«

»Ich … ich weiß nicht!«, rief Céline starr vor Schreck; die Drähte des Kubus baumelten von ihrer Schläfe.

Der Mann kam näher, drohend den Lauf der Waffe auf sie richtend. »Dir werd ich’s zeigen, Punk!«

»Bitte nicht!« Céline wich zurück. »Das ist alles … ein Missverständnis.«

»Klar, hast dich nur verlaufen, was?« Ein bellendes Lachen, dann blieb der Mann stehen. »Runter auf den Boden, das sag ich kein zweites Mal!«

»Ja, gut«, keuchte Céline und überlegte fieberhaft, ob sie die Waffe oder die Gaspatrone einsetzen sollte. Ihre Finger glitten in die Tasche – etwas zu hastig; noch ehe sie einen der Gegenstände packen konnte, schoss der Mann ihr eine Ladung Schrot ins Bein.

Die Gasmaske dämpfte den Schrei, als Céline das Gleichgewicht verlor und auf dem Teppich zusammensackte. Heftiger Schwindel kreiste durch ihren Kopf, drehte sich schneller – Wand, Kommode, Tür, Mann, Bett. Wie in Zeitlupe holte Céline die Patrone heraus, zerdrückte sie zwischen den Fingern. Sofort explodierte Dampf im Zimmer und verteilte sich rasch. Eva Conklin, die soeben vom Knall aufgewacht war, sank betäubt aufs Bett zurück; auch der Mann kippte nach hinten und prallte bewusstlos gegen einen Schrank.

Céline versuchte, flach zu atmen, doch der Schock war zu stark. Sie keuchte, kämpfte gegen das Flimmern vor ihren Augen an. »Werd mir jetzt bloß nicht ohnmächtig«, flüsterte sie, wobei ihr Tränen in die Augen stiegen. »Nimm den Kubus und … hau ab!«

Unter Schmerzen zwang sie sich, aufzustehen und zum Bett zu taumeln. Sie griff nach dem Transmitter. Steckte ihn ein. Schleppte sich zur Tür. Den Korridor entlang. Die Treppe runter. Auf die Straße hinaus. Alles wirkte verschwommen und traumhaft. Céline tastete sich an einer Wand entlang; am Ende der Häuserschlucht bog sie rechts ab und riss sich schreiend die Maske vom Kopf. Ihr Bein gab nach, sie hatte mehr Blut verloren.

Rote Gänge

Schwarze Pforten

Stiergesichter

Huf und Nüstern

Lachend, höhnend

Nur ein Faden

Céline fiel ihm entgegen, als die Tür beiseiteglitt. Fast hätte sie der Punk nicht aufgefangen, das eingeworfene Twisted lähmte seine Reflexe; er sah nur einen spektralen Schatten auf sich zufließen. Schwerfällig breitete er die Arme aus, und Céline sank in seinen Ledermantel.

»Ich wusste nicht, wohin«, keuchte sie und klammerte sich an seiner Schulter fest. »Mein Bein … Ich bin angeschossen worden.«

»He, Mädchen«, sagte der Punk benebelt. Er sackte in die Knie, warf Céline auf den Teppich. Nur schleppend kamen ihm neue Worte über die Lippen: »Ist echt ungünstig … gerade.«

»Kapierst du nicht? Ich verblute!«, schrie Céline panisch und streckte das Bein vor, damit er die blutnasse Hose sehen konnte.

Mit großen Pupillen glotzte der Punk auf den bunt schillern-den Fleck. »Mann, was willst du von mir?«, hörte Céline ihn noch fragen, dann wurde ihr schwarz vor Augen.

Die nächsten Stunden verliefen ruckweise, wie ein Diaprojektor, der auf Automatik stand, ein Foto nach dem nächsten: Taschenlampe vor ihren Augen. Eine Frau, die ihr das Hosenbein aufschnitt. Stimmen. Jemand steckte eine Kanüle in ihren Arm. Klare Flüssigkeit rann durch einen Schlauch. Drei Spritzen, danach taube Dämmerung. Die Frau vernähte ihre Wunden, eisblaue Fäden. Der saure Geruch von Erbrochenem. Zigarettenrauch, eine Kaffeetasse. Von irgendwo Musik. Noch immer Nacht.

»Wie fühlst du dich?«, fragte der Punk und lächelte. Er strich Céline eine Strähne aus den Schmetterlingsaugen. »Hast du Schmerzen?«

»Geht so«, erwiderte sie leise; ihre Stimme war spröde und kaum zu verstehen. »Danke.«

»Schon okay.« Der Punk, er saß jetzt neben Céline auf der Bettkante, trank einen Schluck vom Kaffee. »Du schuldest mir dreihundert für die Schwarze Ambulanz und hundert extra für die Präparate.«

»Hast mir das Leben gerettet, ähm …«

»Ska, mein Straßenname.« Ein schiefes Grinsen. »Na, so schlimm war’s ja nicht. Ein Überfall oder so?«

Céline hustete. »Kann ich was zu trinken haben?«

»Sicher«, sagte der Punk und ging zu einer Kochnische, die im selben Raum stand. Unter fließendem Wasser säuberte er ein Glas, füllte es auf und kehrte damit ans Bett zurück. »Also, was ist mit dir passiert?«

Ehe sie antwortete, nahm Céline das Glas und trank einen Schluck.

Dann erzählte sie alles.

»Was, du hast Memories geklaut?« Ska schüttelte den Kopf, seine Prismastacheln wackelten. »Bist doch viel zu jung für so’n Scheiß!«

»Na ja«, begann Céline und schlug die Decke zurück; eine Bandage am Bein, Blutflecken drangen durch den Stoff. »Der Flame will mehr über einen Pharmakonzern wissen, Nova oder so. Pläne und Zugangscodes.«

»Nova Medicals?«

»Kann sein«, sagte Céline, die ihren Verband betastete. »Da drin gehen komische Sachen ab.«

»Hm, hab davon gehört … künstliche Neuronen, Gedächtnisspeicherung.«

Vorsichtig zog Céline ihren Rücken aufs Kissen und richtete sich auf. Sie musterte seine Narbe am Ohr. »Sagt dir der Name Elvira Miró etwas?«

»Schaust wohl kein 5Sense, he?« Ska griff nach der Kaffeetasse. »Miró war Anführerin der Schocksprayer: Künstler, Terroristen, die sich seit Jahren mit den Bullen ein Katz-und-Maus-Spiel liefern. Ist letzte Woche erschossen worden, auf offener Straße.«

»Ihr Kopf liegt bei Nova im Cryotank.«

Prustend spie Ska seinen Kaffee in die Tasse. »Was?«

»Wie, was?«, gab Céline zurück. »Die arbeiten an ihr.« Mit einer Hand stützte sie sich auf, schwang beide Beine zum Bettrand. »Muss langsam los. Das Geld kriegst du morgen, versprochen.«

Ska hielt sie zurück. »Warte mal, wo willst du denn hin?«

»Zum Flamen, die Memories tauschen, die Kohle abgreifen. Was sonst?« Céline hob ihre zerschnittene Hose vom Fußboden auf und zog sie umständlich über.

»Hör zu«, sagte Ska und ein seltsamer Unterton schwang in seiner Stimme mit, halb nervös, halb aggressiv. »Denk doch mal nach, was du da hast, könnte unsere Fahrkarte raus aus diesem Rattenloch sein!« Die letzten Worte überschlugen sich fast. »Das Gedächtnis von Elvira Miró … Mann, das ist zwanzigtausend wert, bestimmt sogar mehr! Müssen es nur an die richtigen Leute verhökern.«

Céline schob seinen Arm beiseite. »Na und? Ich hol jetzt mein Geld und hau –«

So hastig hatte Ska sein Messer gezogen, dass Céline es erst bemerkte, als sie auf einem Bein stand, das andere angewinkelt. »Was denn?«, zischte sie. »Erst lässt du mich flicken, jetzt willst du mich abstechen?« Wütend griff sie nach ihrer Tasche.

Ska ließ die Waffe sinken. »Mann, Céline, diese Chance kriegst du nie wieder. Wir beide nicht.«

»Du redest Mist«, sagte sie und hinkte zur Tür. »Da spiel ich nicht mit.«

»Céline, warte! Hey, du schuldest mir was!«

Die Tür schloss sich; öffnete sich wieder. Céline humpelte zurück ins Zimmer. »Okay, Ska, du hast fünf Minuten, mir zu erklären, wie du’s anstellen willst.«

Konzentriert verfolgte Ska ihre Bewegungen, von der Tür zum Stuhl, auf dem sie Platz nahm. Sein Gesicht war ernst, die Lippen schmale Striche. »Ich kenne Leute, mit denen ich solche Sachen abziehen kann, Einbrüche, kleinere Überfälle.«

»Mit wem?«, fragte Céline; sie streckte das verletzte Bein aus.

»Techniker vom goldenen Viertel, Schutzwehr.«

»Schutzwehr?« Sie erwiderte seinen Blick.

»Na Typen, die schießen können«, erklärte Ska. »Wenn’s schiefgeht.«

»Das habe ich heute schon mal gehört. Bringt Unglück, das zu sagen.« Céline atmete tief durch. »Also … ich weiß nicht.«

Langsam knöpfte Ska seinen Mantel zu, während er herüber kam und ihr Gesicht in die Hand nahm, ihr Kinn anhob. »Es wird laufen, ich habe Kontakte und ein Fahrzeug, kann einen Mittler für uns finden.«

»Nur Sprüche«, sagte Céline. Sie zog die Hand von ihrer Wange; er ließ sie fallen.

»Céline«, sagte Ska ernst und ging in die Hocke. »Vertrau mir, okay?«

Sie sahen einander an, musterten die Augen des anderen, dann beugte sich der Punk vor und küsste Céline auf die Stirn, auf die Nase und den Mund; ihre Zungen glitten ineinander. Er nahm ihre Hand. Als sie sich voneinander lösten, lächelte er.

»Ska?«

»Hm?«

»Verarsch mich nicht, bitte.«

Mit zwei Fingern kämmte er ihr das halblange schwarze Haar hinters Ohr, küsste sie. »Versprochen, echt!«

Céline nickte. »Du solltest ein paar Anrufe machen.«

Januskopf mit Stacheldraht

Ein Stück Marmor fehlt am Ohr

Links das Lachen

Rechts das Brüllen

Welche Maske ist die echte?

Sie saßen in einem Auto, das an vielen Stellen zerschweißt war; der Motor stockte, sobald das Gas zurückgenommen wurde. Vier Plätze für vier Leute: Ska steuerte, Céline saß neben ihm und verfolgte, wie Industrielichter wässrig am Fenster vorbeischweiften; Nieselregen, monoton quietschten die Wischblätter über die Windschutzscheibe.

Auf der Rücksitzbank zwei Typen: ein Fettsack mit tätowierten Armen, geflügelte Cherubim; der andere ein Mexikaner, maisgelbe Haut und eine Sonnenbrille, die er bis jetzt nicht abgenommen hatte. Alle schwiegen, bis Céline sich umdrehte und fragte: »Wie lange braucht ihr dafür?«

»Kommt drauf an, wie schnell ich die Schleuse zu den OP-Sälen aufkriege.« Der Tätowierte zeigte auf einen pinkfarbenen Koffer. »Die anderen Codes kriegen wir von dir?«

»Ja«, sagte Céline und nickte. »In zwei Stunden fängt die Putzkolonne an, bei Nova aufzuräumen, wenig später muss ich beim Flamen sein.«

»Bleib cool«. Ska legte ihr eine Hand aufs Knie. »Bis dahin ist alles längst gelaufen.«

Der Wagen beschleunigte, und neue Industrieanlagen tauchten auf, größer und moderner; Chromrohre, Schornsteine abseits der Straße. Vor einem Flachbau bremste Ska das Fahrzeug und stellte es an einem Neonschild ab: Nova Medicals. Das Eingangstor war hundert Meter entfernt. »Wo sitzen die Nachtwächter?«

»In diesem Verschlag da.«

»Wie viele?«

»Zwei.« Céline griff in ihre Handtasche und holte einen Zettel hervor. »Das sind die Codes und die Wegbeschreibung, falls die Verbindung abreißt.«

»Danke«, sagte Ska. Er nahm das Papier und reichte es nach hinten weiter.

Der Tätowierte studierte die Angaben, nickte. »Und du willst echt nicht mitkommen?«, fragte er. »Ne vierte Waffe könnten wir gebrauchen.«

»Mit dem Bein hält sie nur auf«, erklärte Ska, öffnete die Tür und stieg aus. »Gib ihr das Headset. Wenn’s Stunk gibt, soll sie uns am Tor abholen.« Er steckte den Kopf ins Fenster. »Du kannst doch fahren?«

»Klar«, log Céline. »Für irgendwas muss ich ja gut sein, was?« Sie zwang sich zu einem Lächeln.

»Arriba!« Ruppig schob der Mexikaner seinen Sitz nach vorn und schälte sich aus dem Fahrzeug. Der Tätowierte folgte ihm; als er draußen stand, hievte er seinen Koffer auf die Motorhaube, um das Equipment zu verteilen: Headsets und drei Lautmasker, Geräte, die konträre Schallwellen erzeugten.

Ska bückte sich, befestigte den Masker am Fußknöchel. »Und die Kameras?«

»Dieser Zauberkasten hier verschafft uns zwanzig Minuten«, antwortete der Tätowierte. Er zeigte ihm eine schwarze Box. »Macht hübsche Übertragungsschleifen.«

»Okay, dann los.«

»Hier.« Der Tätowierte gab Céline das Headset. »Einfach aufsetzen.«

»Viel Glück«, sagte sie, kaum hörbar. Zögernd wechselte sie den Sitzplatz und legte beide Hände ans Lenkrad.

Ska beugte den Kopf runter, lächelte, dann gab er Céline einen Kuss auf die Stirn. »Wird schon schiefgehen, Mädel.«

Auf grünem Filz die Karten

Schwerter, Tod und Teufel

Der Gehängte

Und die Liebenden

Manchmal Glück

Meist Nacht und Kälte

Ein Schuss schreckte Céline aus ihren Gedanken; zwölf Minuten waren vergangen, seit Ska und seine Kumpane über den Zaun geklettert und reingelaufen waren, an den Wächtern vorbei, den Kameras, den Lichtern. Neue Schüsse dröhnten aus dem Headset, sie hörte den Tätowierten schreien. Skas Stimme hing dazwischen, Céline verstand nicht, was er sagte. »Was ist da los?«, rief sie ins Mikrofon. »Ska?«

Da waren andere Stimmen, genauso verworren, drei oder vier. Wieder Schüsse, Gewehrsalven. Reglos saß Céline im Fahrersitz und hörte zu – starrte auf das Neonschild, das vor ihr brannte. Sie fühlte sich dumpf, wie betäubt. »Ska?«, wieder-holte sie. »Ska!«

Statisches Rauschen und Schüsse, ein Heulen, dann brüllte Ska verzerrt: »Hörst du mich, Céline?!«

»Ich bin hier!«, schrie sie zur Antwort. »Was passiert …?«

»Bring den Wagen zum Tor, wir kommen raus! Beeil dich, hier ist die Hölle …!«

Sie hörte ihn aufschreien, als die Verbindung abbrach. »Ska?«, fragte sie ängstlich.

Keine Antwort.

Nach kurzem Zögern drückte Céline den Zündknopf; der Motor startete, sie legte den ersten Gang ein und gab mehr Gas. Einmal holperte das Fahrzeug über den Bordstein, ehe sie das Lenkrad in den Griff bekam und geradlinig dem Zaun folgte. Achtzig Meter, sechzig Meter – Céline beschleunigte, fand den zweiten, dritten Gang und knallte ihn rein. Links von ihr sah sie, wie eine Gestalt gekrümmt aufs Tor zustolperte, Ska; sein linker Arm baumelte schlaff, Blut glänzte an seinen Fingern.

Drei Gestalten rannten hinter ihm her, Gewehre in den Händen; eine feuerte, während Ska das Tor passierte und auf die Straße zuwankte. Ruckartig drückte Céline auf die Bremse; der Wagen machte einen Sprung, stockte und brach aus; sie kurbelte dagegen, die Räder schlingerten über den Asphalt – dann ging stotternd der Motor aus. Wieder und wieder presste Céline auf den Zündknopf, doch erst, nachdem Ska die Tür geöffnet und sich auf den Beifahrersitz gezogen hatte, sprang der Wagen erneut an und kroch im dritten Gang vorwärts, zur Kreuzung.

Eine Gewehrsalve pflügte über die Kofferraumhaube; das Fenster platzte, als mehrere Kugeln in den Innenraum schlugen und die Polster zerfetzten. Céline schreckte auf, hätte fast die Kontrolle über das Lenkrad verloren. »Mein Bein«, schrie sie, »ich kann nicht runterschalten!«

»Gib vorsichtig … Gas«, keuchte Ska, seinen Kopf gegen die Lehne stützend. Er stöhnte. Blut sickerte ihm aus Mund und Nase. »Der Flame kam rein, als ich die Apparaturen, den Kubus … benutzte. Hab nur ein Drittel der Memories im Kopf.«

Kurz musterte sie ihn, die kalkweiße Haut, den Schweiß auf seiner Stirn; er zitterte stark. »Du, wie schlimm bist du verletzt?«

»Ich glaub, ich pack’s nicht«, keuchte Ska und hustete Blut.

»Quatsch«, sagte Céline hart, doch Tränen sammelten sich in ihren Augen, verschleierten ihr die ohnehin schlechte Sicht. »Klar kommst du durch, ich bring dich ins St. John.«

»Nein!« Skas Brustkorb pumpte Luft. »Die stellen Fragen, bring mich nach Hause, ruf die Schwarze Ambulanz.«

»Okay.« Mit der Handfläche wischte sie sich die Tränen ab, neue kamen nach. Céline fuhr einfach geradeaus, über die Kreuzung, weiter; und endlich zog der Wagen an und wurde schneller.

Zwei Häuserblocks später griff Ska nach ihrem Arm. »Céline, halt an. Du musst dir die … Erinnerungen rausholen, jetzt sofort.«

»Halt durch, ja?«

»Sei … sei nicht dumm, fahr den Wagen rechts ran.«

»Also gut«, sagte Céline erstickt. Etwas schnürte ihr die Kehle zu, sie konnte kaum atmen, als sie abbremste und den Wagen im Neonschatten einer Wäscherei stoppte. Von hinten wehte kalter Regen zu ihnen hinein.

»Beeil dich, gleich bin ich weg.« Seine Augenlider flatterten, Ska starrte ins Leere. »Los!«

Mechanisch holte Céline die Pistole und den Kubus aus der Tasche, legte beides aufs nasse Sitzpolster. Ein Kurzschluss knisterte über das Gehäuse; Céline bemerkte es nicht, als sie beide Haftungen anbrachte. »Okay«, flüsterte sie, hämmerte auf den Knopf:

Und ein Strudel von Memories drang in sie ein – Bilder, Klänge und Empfindungen aus einem Leben, das nicht ihr eigenes war, und sich dennoch seltsam vertraut anfühlte: Kindheit, goldenes Viertel, Mord an ihrer Mutter, gravierte Klingen, Drache, Teufel, Schulfabrik, Einsamkeit, Untergrund, Spraydosen, Gefängnis, Waffen, Feuer über Feuer, ein Blitz, ein blauer Hund und dann Graffiti mit Knochen und Blumen und Tod, surreal und doch so echt, dass sich Mirós Erinnerungen mit den ihren mischten, sich beim dritten Kurzschluss miteinander verzahnten. Céline schrie auf, während sich das letzte Memory in ihr aufblähte wie eine Seifenblase und – zerplatzte! Schwärze und Rauschen. Skas Körper war kollabiert.

Eine Neonrose als Schädel

In den Dornenaugen

Sterne

Flaggen sprießen

Aus dem Kiefer

Farben der Revolution

»Er ist tot, steig aus.« Das nachtblaue Auto hatte neben Céline angehalten, ein Fahrer und ein Mann hinten, der eine Waffe auf sie richtete, ebenso wie der Flame; er stand vor ihrem Fenster und blickte düster auf sie herab. Sein Monitorauge simulierte einen schnellen Wimpernschlag. »Steig aus, hab ich gesagt. Pronto!«

»Ja, gut.« Unauffällig ließ Céline die Pistole in ihren Rückenbund gleiten und zerrte den Plastikmantel drüber. Sie nahm die Haftungen ab und stieg aus. Draußen trommelte Regen auf die Motorhauben.

»Gutes Mädchen«, sagte der Flame und trat zwei Schritte zurück. »Du hast doch nicht etwa geglaubt, mich verarschen zu können?«

»Wieso bist du schon hier?«, fragte Céline. »Ich sollte dir die Memories erst morgens bringen.«

Der Flame lachte freudlos. »Glaubst du wirklich, dass ich das Gelingen meiner Geschäfte allein in die Hände eines Kindes lege? Vier Sammler waren heute Nacht für mich unterwegs.« Der Gewehrlauf zeigte jetzt auf ihren Kopf. »Hast etwas, das mir gehört, Mädchen. Wir werden deinen Kubus be–«

»Ka!« In einer geübten Bewegung sprang Céline über den Kofferraum, rutschte und fiel, drehte sich, zog die Waffe, kam hoch und feuerte drei Kugeln auf den Flamen und seine Begleiter ab. Mirós Erinnerungen halfen ihr; sie wusste, was sie tun musste. Die vierte Kugel durchschlug die Scheibe und den Brustkorb des Fahrers, die fünfte traf den Flamen an der Schulter, die sechste ging in seinen Kopf. Augenblicklich verlosch der Monitor und wurde grau, als der Flame steif wie eine Puppe nach hinten stürzte und reglos auf der Straße liegen blieb. Sein Blut trieb in eines der Abflussgitter.

»Hau ab, sonst mach ich dich kalt!«, brüllte Céline den letzten Mann an. »Bitte, hau endlich ab!«

Dieser ließ zögernd die Waffe fallen, kletterte aus dem Fahrzeug und rannte, rannte die Straße entlang und verschwand an einer Werbesäule.

Céline atmete tief durch; sie ließ die Pistole sinken. Und dann übermannten sie Schock und Trauer, und sie heulte, mit zitternden Schultern, während der Regen fiel und fiel.

Vom letzten Krieg

Ein alter Bunker

Jede Wand

Bunt wie ein Falter

Unten die Stahltür

Mit Fabelwesen drauf

»Mehr hast du nicht?« Der Schocksprayer schaltete den Kubus ab.

»Eure Namen, eure Ziele, die Memories von eurem Versteck«, wiederholte Céline; sie nickte ihm zu. »Macht achttausend, plus ein warmes Abendessen.«

»Okay«, sagte ihr Gegenüber und lächelte. »Dann sind wir im Geschäft.«

Prothesengötter

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