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DAS LICHTWERK

»Krieg ist scheußlich, Junge.

Er sprengt die Menschen entzwei.«

(Rhombus)

Im Windglas der Laterne schwirrten die Feuerfalter auf, als das Boot gegen den Kai stieß. Paul legte das Paddel quer, deckte es mit einem Öltuch zu, bevor er das Anlegetau um einen Poller schlang und breitbeinig ausstieg. Kurz lockerte er seinen Nacken, seine Arme und streckte den Rücken durch – eine Fahrt durch die Katakomben war anstrengend, doch der Junge grinste, während er nach dem Bündel griff, das groß wie ein Buch auf einer Munitionskiste lag, es an seine Rippen presste:

Es wog ungewöhnlich viel für seine Größe.

Außer den Wellen, dem Knarzen der Lederjacke, wenn er sich bewegte, hörte Paul nur noch das leise Raunen der Geistervögel, die unsichtbar, in weiter Ferne, durch die Finsternis segelten.

Ein Signal pfeifend wandte er sich nach vorn, um dann den Henkel der Laterne vom Haken zu streifen.

So blieb er stehen und wartete. Durch das Glosen der Falter konnte Paul das kleine Motorboot am vorderen Steg – und die Treppe zum Flakturm ausmachen; oben, auf einem Plateau, stand ihre Hütte, noch höher die alte Kanone und der Suchscheinwerfer als breite Schatten in der Dunkelheit.

Ein Bellen erklang.

Paul pfiff, lauter diesmal, obwohl er den Hund schon erkennen konnte, der in langen Sätzen die Stufen abwärts sprang; ein altes Tier, mit grauen Flecken im Fell, das hechelnd zu ihm kam und die Schnauze an Pauls Stiefel drückte, schnüffelte.

»Ludwig!«, rief der Junge fröhlich und kraulte dem Hund die Hängeohren. »Riecht nach Heizkeller, was? Ich sterbe vor Hunger … los, komm.«

Beim Aufstieg blickte er zur Glaskuppel hoch, die auf den Stadtmauern lag wie der Deckel einer riesigen Taschenuhr, von außen bedeckt mit der Asche des Krieges, eine meterdicke Schicht, durch die kein Sonnenlicht mehr einfiel …

Immernacht.

Noch nie hatte Paul den Himmel gesehen, keine Wolken, keine Sterne, die er nur aus Büchern kannte; denn als die Bombe zündete, war er gerade erst zur Welt gekommen.

Ganz nah hörte er, wie der Hund schnaufte und fühlte sich sicherer; hier schienen keine Gefahren zu lauern, und er war nicht mehr allein. Noch wenige Stufen, dann glomm der Schein des Kamins über ihm, ehe ein Fenster und die Vordertür aus der Schwärze rückten: Ihre Hütte bestand aus Brettern und Kupferblechen, die sie aus allen Vierteln herbeigeschafft hatten. Mit Tarnfarbe bestrichen und ausgebaut war sie über der Stadt ein Zuhause geworden – und warme Luft begrüßte Paul, als er die Klinke runterdrückte und ungestüm eintrat, das Paket im Arm, Ludwig an seiner Seite.

Die Scharniere der Tür quietschten so laut, dass Lisa in ihrem Sessel aufschreckte. Sie saß am Kamin, eingehüllt in eine Wolldecke, und hatte dem Grammophon zugehört, dessen Schalltrichter im Flackern des Feuers glänzte. »Geht das wohl leiser«, tadelte sie, wobei sie den Tonarm kratzend von der Platte nahm.

Das Lied verstummte.

»Wo bist du gewesen?«

»Draußen«, wich er ihrer Frage aus und klopfte Dreck aus den Stiefeln, bevor er die Laterne an einen Wandhaken hängte und von der Fußmatte stieg.

»Ach; Paul, du sollst die Treter ausziehen, weil du mir sonst den Matsch reinträgst.«

»Aber, schau«, entgegnete er und zeigte die Sohlen vor. »Ganz sauber.«

»Wie, das nennst du sauber? Wenn du nur einmal auf mich —«

»Schluss, ihr zwei«, ging Rhombus dazwischen. »Tu, was das Mädchen dir sagt.« Der alte Soldat saß am Esstisch, das bärtige Kinn trübsinnig auf die Fäuste gestützt, und studierte einen Bildband über moderne Fliegerei.

»Na schön.« So schmutzig waren die gar nicht! Trotzig zog Paul seine Stiefel aus, pfefferte sie in eine Ecke, um sich danach an den Tisch zu setzen. »Wann gibt’s Essen?«

»Du bist spät dran. Die Suppe hast du verpasst.«

»Was, ich bekomm nichts mehr?« Paul knallte das mitgebrachte Paket hin. Und dafür die ganze Mühe …

Zögernd, er schien mit seinen Gedanken weit weg gewesen, hob Rhombus den Kopf; und es klickte wie bei einer Uhr, als sein Maschinenauge zuerst das Paket und dann den Jungen fixierte. »Was ist das?«

»Da musst du wohl selbst nachschauen«, sagte Paul, die Arme verschränkt, und lehnte den Rücken an. Nicht mal lausige Suppe, so was Blödes!

Mit seiner Hand, die von Narben gekerbt war, griff Rhombus nach dem Bündel und schlug das Ledertuch zurück; ein schwarzer Kasten kam zum Vorschein, groß wie eine Schatulle. »Das ist ja …«, begann er, sichtlich erstaunt.

»Ein Stromkonverter, ganz recht.«

»Bengel, wo hast du den her?«

»Ist das so wichtig?« Paul gähnte, obwohl er nicht sonderlich müde war. »In den Katakomben hinterm Marktplatz. Deswegen bin ich spät dran.«

»Viel zu gefährlich dort«, sagte Lisa vorwurfsvoll, während sie ihm einen Teller hinstellte: Speck und Erbsen aus der Konserve.

Paul nahm ihr den Löffel ab. »Unten ist nichts mehr. Alles verrostet, kaputt und verfault. Oder der Sporennebel hängt drin, und ich hatte meine Gasmaske nicht dabei.«

»Eine Maske sollst du immer mit dir tragen.«

»Weiß ich doch. Hör auf zu schimpfen.«

Vom Geruch angelockt winselte Ludwig herbei und legte die Schnauze auf sein Bein. »Ich lass dir was übrig«, seufzte Paul und kraulte ihm Lefzen und das graue Fell, worauf er die kalten Erbsen verschlang.

Gerade als Lisa das Grammophon wieder ankurbelte, wurde die Hütte von einem leichten Beben durchgeschaukelt; Tassen und Besteck klirrten auf den Regalen. Sie ließ den Porzellangriff los. »Das geht schon den ganzen Tag so.«

»Wieder diese Phase, wie?«, fragte Paul, der seinen Teller fast leer hatte und nun die letzten Speckstücke an den Hund verfütterte. Richtig satt war er nicht.

Rhombus schob den Stuhl zurück und stand auf. »Das wird holprig diese Nacht. Mittlerweile ist der Pegel so stark, dass ich mir ernsthaft Sorgen mache. Jeden Monat wird es schlimmer.«

»Sollen wir die Maschinen festbinden? Weiß aber nicht, ob unten am Steg noch viele Taue rumliegen.«

»Wir warten ab und hoffen das Beste, Junge.«

Auf einer Kommode stand das umgebaute Radio, und Rhombus ging hin und schaltete es ein – verdrehte die Skala, bis ein ätherisches Flüstern erklang, das nicht aus dem Lautsprecher kam. »Hört ihr? Ganz nah.«

»Ich krieg bestimmt kein Auge zu.« Paul gähnte und rieb sich die Wangen und das Kinn. »Morgen raus zum Bahnhof.«

»Na fein«, sagte Lisa gereizt, während sie ein Buch aus der Vitrine nahm. »Und ich hab wieder keine Ruhe.«

»Der Bub kann schon auf sich aufpassen.«

»Kann ich, hörst du?«

»Nimm wenigstens den Hund mit.« Schwer ließ sie sich in den Ohrensessel fallen, schlug das Buch auf und las, ohne einmal den Kopf zu heben.

»Jetzt sei nicht sauer«, sagte Paul. Immer die gleiche Leier. »Er kann doch nicht raus, wegen dem Bein …«

»Ja, mein Bein. Ich will nichts hören davon!« Rhombus, der einen Schlüssel aus der Uniform geholt hatte, öffnete damit eine Schublade und zog sie heraus. »Wir brauchen mehr Benzin. Schau, ob du Automobile oder Lastwagen findest.«

Hinter ihm war Paul an eine Waschschüssel herangetreten, griff nach der Kanne, schüttete Wasser ins Becken, um sich mit dem Schaum einer Seife die Hände und sein Gesicht zu waschen. Er nahm ein Handtuch vom Stapel.

»Sieh her, Junge«, klang Rhombus’ tiefe Stimme auf, und Paul knüllte das Handtuch zusammen, warf es in den Wäschekorb, bevor er sich zu ihm umdrehte.

Mit einer Faust auf Augenhöhe stand der Alte da, die Lippen schmal, das Auge verschlagen – doch dann lachte er hart, es klang wie ein Bellen, und öffnete die Hand, sodass ein silbernes Kleinod an einer Kette herausfiel. Es war ein Orden.

»Für deine Verdienste im Namen der …« Rhombus brach ab, sein Maschinenauge klackte. »Na, weil du mir beim Lichtwerk geholfen hast, zeichne ich dich mit dem Adlerkreuz erster Klasse aus. Gute Arbeit, Rekrut.«

»Oh«, machte Paul, über beide Ohren strahlend, als der Veteran ihm den Orden umhängte. Das war alle Mühe wert!

Lisa schmunzelte. »Nicht, dass dir noch die Brust platzt, Kleiner.« Dann, mit strengerer Mine, zu Rhombus: »Du solltest ihn nicht ermutigen, sich an gefährlichen Orten rumzutreiben. Irgendwann wird er sich verletzen, oder Schlimmeres passiert.«

»Nur hat der Bengel recht«, seufzte Rhombus, als er beide Hände auf Pauls Schultern legte. »Ich brauche seine Augen und seine flinken Beine. Sonst wird das Lichtwerk niemals fertig.«

»Ach was«, sagte Paul, der verlegen den Orden bestaunte: »Schön ist der. Wofür hast du ihn bekommen?«

Doch Rhombus überhörte die Frage. »Es ist schon spät, Kinder«, brummte er und streckte den Arm vor. »Verriegelt die Fenster. Und legt euch hin.«

In einer Nische rechts vom Kamin stand ein großes Ehebett, dessen Gestell in der Mitte geteilt war: Wolldecken hingen zwischen den einzelnen Hälften – so hatte jeder sein Abteil, links sie, und rechts schlief Paul. Nachdem Rhombus den Nebenraum hinter sich abgeschlossen hatte, zupfte Lisa ihr Nachthemd unter dem Kissen hervor. »Dreh dich weg, ich will mich umziehen.«

»Und wenn ich die Augen zumache?«

»Ha, den Trick kenne ich schon«, sagte sie und strich derweil ihr Nachthemd glatt. »Sei so lieb, Paul. Du bist zu alt, mir dabei zuzuschauen.«

»Was du immer hast …« Er streckte ihr die Zunge raus, wandte sich aber zum Fenster ab.

Draußen die Immernacht.

Im Halbschlaf lauschte er dem steten Knacken des Feuers, als würde das Grammophon noch auf leerer Rille laufen. Der Geruch des Kissens, das ruhige Atmen von Lisa, die sofort eingeschlafen war – und ein Flüstern, ganz leise, obwohl der Phasenmesser abgeschaltet auf der Kommode stand: ein seltsames Fisteln, wie Luft, die einem Rohr entströmte; doch Paul war zu müde, um länger darauf zu achten. Es schien ohnehin weit weg …

Und so zog er die Bettdecke bis zum Hals, räkelte sich, rieb die Füße aneinander, bis er in einem Traum versank:

Wasser, Wasser, und hohe Wände, von denen die Farbe abblätterte: Paul glitt durch die Katakomben, und das Licht der Feuerfalter schwamm auf den Wellen voraus, kroch an den Stützpfeilern hoch, die das Kuppeldach mittrugen, weit über ihm im Schatten.

Die Asche lag dicht.

Langsam, unwirklich langsam, trat das verfallene Schulgebäude aus der Dunkelheit. Der Türsturz hing abgesackt und schräg wie eine Guillotine ins Eingangsportal runter – und als der Kiel gegen den Bordstein stieß, erzitterte das ganze Gebäude wie von einer Bombe getroffen.

Ein fremder Wille ließ Paul nach der Laterne greifen, das Boot verlassen und die Treppen hochsteigen. Sand knirschte unter seinen Stiefeln, während er die Schule betrat:

In der Aula herrschte ein Wispern, ein Raunen, tausend Stimmen schienen hektisch zu sprechen, aber niemand war hier, außer Schemen, die über die nackten Wände huschten. Um sie zu verscheuchen, hob Paul die Laterne höher, schwenkte sie nach links, nach rechts, dann nach unten, wobei er hastig den Boden absuchte:

Fliesen, gesplittert, und ölige Pfützen spiegelten das Licht; eine Glasvitrine, in Scherben; ein Schulranzen; eine Mütze; ein rostiges Fahrrad. An der Stirnseite führten Wendeltreppen zum oberen Stockwerk und runter, zur Sporthalle, zu den Umkleiden; und in den Heizkeller, wo Paul den Konverter gefunden hatte.

Etwas zog ihn magisch dorthin. Mit aller Kraft stemmte er sich dagegen, doch die Beine gehorchten ihm nicht mehr: Paul musste vorwärts marschieren, jede Bewegung mechanisch, als wäre er ein Spielzeugsoldat. Nein; er wollte nicht weiter, bloß nicht nach unten, zu diesem Ungetüm aus Rohren und Kesseln, dort, wo die Schiefertafel und die Schulbänke standen und fleckige Matratzen lagen, in denen noch Gespenster schliefen!

Danach verdunkelte sich alles, und die Stufen verschwanden bei jedem Schritt, den er abwärts folgte, bis ein sternenschwarzes Maul den Kellertrakt verschlang.

Paul riss die Schultern zurück, drehte sich; und dabei flog ihm die Laterne aus der Hand, die klirrend auf dem Boden zerschellte. Finsternis brach über ihn herein, als die Falter wie Aschefunken aus dem Windglas aufstiegen; davonwirbelten, verloschen.

In seinen Ohren brausten die Stimmen.

Er schrie!

Die Hütte schwankte. Ein Gekreisch und flüchtige Schatten, als Paul die Augen aufriss. »Was …?«

»Unter die Bettdecke, schnell!« Mit bloßen Händen hielt Lisa einen Geistervogel in Schach, der durchs offene Fenster hereingekommen war. Auch der Hund saß aufrecht, die Ohren steif, die Zähne gefletscht, und knurrte und bellte nach Leibeskräften, traute sich dennoch nicht näher.

Im Dunkel schienen die Flügel wie Spinnweben; ihre Knochen glühten eisblau, wurden grell und blendeten, ehe der Vogel blitzartig zuschnappte. Um Haaresbreite konnte Lisa dem Schnabel ausweichen, stolperte unglücklich und fiel; schürfte sich die Knie wund ...

Sie heulte.

»Pass auf!« Paul stürzte aus dem Bett zum Kamin, nahm den Schürhaken vom Ständer.

»Du musst ihn verjagen«, stöhnte Lisa und schlug die Hände über dem Kopf zusammen, während Paul zu ihr hastete, sich schützend hinter sie stellte, indem er das Eisen schwang – doch sein Schlag ging ins Leere. Erst als der Vogel die Krallen vorstreckte und mit den Flügeln wild um sich peitschte, Töpfe aus dem Regal und das Grammophon wegriss, gelang es ihm, einen seitlichen Treffer zu landen. Noch einen. Und noch einen gegen den Hals, bis die Bestie taumelnd abdrehte.

Na warte! Paul setzte dem Vogel nach, seinen Schürhaken in beiden Händen, schlug und stach damit zu, drängte ihn zum Fenster hin; und wollte gerade einen langen Hieb austeilen, als in der Tür neben ihm ein Schlüssel gedreht wurde: Sie sprang auf.

»Zur Seite«, brüllte der Alte, mit seiner Pistole bewaffnet. Er hob sie an, zielte, feuerte – schoss zwei Kugeln durchs offene Fenster. Vom Knall nach hinten gescheucht, prallte das Tier gegen die Holzblende, rutschte und flatterte nach draußen, wo ein ganzer Schwarm dieser Vögel in Schleifen um die Hütte kreiste. Ihr Flügelschlag klang wie das Flüstern von Stimmen.

»Zumachen«, rief Rhombus, noch immer die Waffe im Anschlag. »Mach hinne, Junge.«

Sofort ließ Paul den Schürhaken fallen, schlug die Fensterblende zu, dann wollte er rasch den Riegel vorschieben, aber der lag am Boden verstreut, zerborsten in Splitter. »So ein Mist«, keuchte er, ganz außer Atem.

»Dieses Viech war … im Zimmer und schrie … da bin ich aufgewacht.« Lisa, die wieder stand, rieb sich die verletzten Knie. »Hatte alles verriegelt, wirklich.«

»Ich glaube dir, Mädchen«, sagte Rhombus und legte die Pistole auf den Esstisch, bevor er zu Paul hinüber kam. Im Vorbeigehen wurde er von Ludwig angejault, der zitternd im Korb lag, die Pfoten über der Schnauze. »Gib schon Ruhe, du großer Held.«

»Die Blende ist abgebrochen, schau.«

»Wird das Beben vorhin schuld sein. Müssen ein Brett vornageln.«

»Unheimlich, irgendwie.« Die flogen zu tief und viel zu weit draußen. Wachsam die Geistervögel im Blick, kniete Paul nieder, um alle Bruchstücke aufzulesen. Er wollte sie an Rhombus geben, der seine Hand aber nicht ausstreckte.

»Das kann man nicht leimen«, erklärte der Alte. »Wirf die Reste ins Feuer.«

»Oh nein …!«

Beide fuhren herum.

Lisa hatte das Grammophon entdeckt und ging hin und nahm es hoch in den Arm; sie streichelte über den eingedrückten Trichter, ganz behutsam, als wäre er ein verletzter Kater, vielleicht: »Jetzt sieh dich an, ganz verbeult bist du.« Vorsichtig stellte sie den Kasten auf der Anrichte ab und drehte an der Kurbel, bis ein dumpfes Knirschen erklang. Besorgt schaute sie über die Schulter zurück. »Der Plattenteller, er dreht sich nicht mehr.«

»Repariere ich später, Liebes.«

»Warum belagern uns diese Biester?«

»Kann ich nicht genau sagen. Segeln stramm auf der Phase… Wer weiß?«

»Was meinst du damit?«, fragte sie.

»Das Wellenmuster«, erklärte er nachdenklich. »Könnte sein, dass sie ihm nachjagen.«

Draußen zogen die Geistervögel ihre Kreise.

Rhombus schaute ihnen nach, sein Gesicht in tiefen Falten. »Die werden uns Ärger machen.«

Am Morgen wurde Paul von einer kühlen feuchten Hundenase geweckt, die gegen seine Stirn stupste. »Ach Ludwig, nicht«, raunte er schläfrig und wollte das Kissen schon über den Kopf ziehen, als er ein lautes Klappern hörte. Er fuhr hoch, blickte zum Fenster, doch von den Vögeln war nichts mehr zu sehen. Trotzdem stieg Paul aus dem Bett, streichelte den Hund und zog Schuhe an, bevor er zum Tisch ging, wo ihm Lisa eine brennende Kerze und einen Teller mit Marmeladenbrot hingestellt hatte.

Er war allein im Raum.

Also setzte er sich hin, frühstückte einen Happen, bis neues Geklapper, ein Hämmern, ein Schrauben durch das Kupferdach zu ihm drangen.

Rhombus baute den Konverter ein! Paul klatschte in die Hände, dann konnte ihn nichts mehr halten, und er stürmte zur Hintertür, riss sie weit auf und spurtete die Treppen des Flakturms empor.

Ludwig folgte ihm japsend auf den Fersen.

Oben fanden sie Rhombus bei seiner Arbeit am Lichtwerk. Auch Lisa war hier; auf einem Tuch kniete sie in den Gemüsebeeten, und darüber hingen Leinen mit festgeknoteten Flaschen, die wie Lichterketten strahlten: Eisblaue Würmer ringelten sich am Glasboden, auch etwas Erde war eingefüllt.

»Guten Morgen, ihr«, begrüßte Paul die beiden, und Lisa drehte sich zu ihm um, hob die Hand und winkte, worauf der Hund zu ihr hintrottete, die Nase schnüffelnd am Beton. »Dass du mir heute keinen Streifzug machst«, rief sie herüber. »Da wartet Wäsche auf dich.«

»Aber ich hab doch Letztens erst gewaschen …«

»Und alles wieder eingesaut. Ich bin nicht eure Dienstmagd, ihr könnt beide mit anpacken.«

Paul schnitt ihr eine Grimasse, während er zu Rhombus weiterging. Waschen, pah! Dafür bekam er keinen Orden.

»Soso, auch schon wach, ja?«, brummte dieser und streckte den Schraubenschlüssel vor. »Nerven wie Stahl hast du, Rekrut. Wir haben kein Auge mehr zugekriegt.«

»Ich war müde«, sagte Paul achselzuckend und betrachtete die Schäden am Lichtwerk: Von der Maschine waren Stangen und Zahnräder abgefallen, die verstreut auf der Plattform lagen; im Suchscheinwerfer spannten sich Risse durchs Glas; das Flakgerüst hing schief, als wären die Streben unten geschmolzen. Und einer der kleinen Propeller, die wie Windspiele auf der Brüstung standen, hatte einen Knick, sah aber sonst funktionstüchtig aus.

Ganz schön ramponiert alles.

Rhombus folgte seinem Blick zu einem Verteilerkasten, dessen Deckel nur noch an einer Angel hing; die Kabel baumelten bis zum Boden, ineinander verdreht und verknotet. »Eine Sauerei ist das! Kostet uns Tage, wenn nicht Wochen, das erneut instand zu setzen.«

»Die Vögel …«

»… sind abgezogen, als die Phase weitergerückt ist, zur Altstadt. Die Marienkirche hat ein paar Schindeln weg, dann ist irgendwo ein Haus eingekracht. Aber ich denke, wir haben Ruhe so weit.«

»Hoffentlich«, sagte Paul. Er hob ein schweres, rostiges Zahnrad auf, das er zu Rhombus herüberschleppte. »Baust du den Konverter heute ein?«

»Das kann warten, bis wir Strom haben.«

»Was soll das heißen?«

»Was das heißen soll, Bursche«, murrte Rhombus und trat beiseite, damit Paul freie Sicht auf den Benzingenerator und die galvanischen Säulen hatte, die gesplittert und ohne Säure im Schlagschatten der Flak standen. »Da kriegen wir doch kein Volt mehr raus.«

»Ist der Generator kaputt?«

»Nein, aber mit dem bisschen Benzin …« Der Alte wandte sich dem Gestänge zu, an dem er die lockeren Muttern festzog. »Reich mir die Ölkanne, Junge.«

Schweigend reparierten sie die gröbsten Schäden, bauten die Zahnräder ein, schraubten eine Konsole fest und lose Stahlplatten, ehe Rhombus das Werkzeug sinken ließ: »Ich kann nicht mehr stehen«, sagte er müde und wies auf die Brüstung nahe den Gemüsebeeten. »Wir haben uns eine Pause verdient.«

»Erzählst du mir vom Teutonium?«, fragte Paul, der neben ihm ging, sobald Rhombus eine Pfeife und Stopftabak aus dem Waffenrock gezogen hatte. »Es wurde im Krieg benutzt, richtig?«

»Woher weißt du davon?«

»Aus deinen Büchern«, sagte Paul verlegen und neigte den Kopf, zerstrubbelte sein kurzes blondes Haar. Er musste aufhören, solche Sachen auszuplaudern. Das gab nur Ärger …

»Hatte ich dir nicht verboten, meinen Raum zu betreten? Warum schließe ich wohl ab?« Langsam, um sein Bein zu schonen, ließ Rhombus sich auf einem Betonstein nieder. »Da sind Dinge drin, die dich nichts angehen!«

»Na gut, aber –«

»Das Teutonium«, schnaubte Rhombus verächtlich. »Dieses Teufelsmetall. Aber ich glaube, so langsam bist du alt genug, ein wenig mehr zu wissen.«

Was er wohl zu hören bekam? Neugierig setzte sich Paul in den Schneidersitz zu seinen Füßen. »Lisa, willst du herkommen?«

»Ich kriege schon alles mit«, antwortete sie, während sie eine fluoreszierende Blume von einem Topf in den nächstgrößeren verpflanzte.

Sie lächelte zufrieden.

Mit dem Daumen drückte Rhombus etwas Tabak in den Pfeifenkopf, dann entfachte er ein Zündholz, hielt es tiefer – und saugte am Mundstück, bis die Glut aufknisterte. Er blies den schweren Rauch durch die Nase, schloss träge die Augen.

»Am Ende des letzten Jahrhunderts wurde es zufällig von einem Geologen entdeckt. Im Boden schaut es aus wie gewöhnliches Erz. Kippt man beides in den Hochofen, entsteht nur das stinknormale Roheisen ohne spezielle Eigenschaften. Kannst du mir folgen, Bursche?«

Paul nickte. Dann schob er die Handflächen seitlich, um den Rücken abzustützen, und schaute den Alten an.

»Man braucht also Teutonium in Reinform, ohne Verunreinigungen durch andere Metalle – und auch ein anderes Schmelzverfahren, das seine wahren Kräfte weckt. Und jetzt willst du sicher wissen, welche das denn sind …«

»Spann mich nicht auf die Folter«, sagte Paul. Seine Wangen glühten. »Was war so Besonderes daran?«

»Du kennst doch Magneten? Ich hab dir mal einen gezeigt. Das Teutonium ist ähnlich, nur viel, viel stärker: Ein, ja, unsichtbares Feld schwebt über dem Metall – es fühlt sich wie ein Luftpolster an; nur mit ruhiger Hand kann man hindurch greifen und die Oberfläche anfassen. Aber wenn man es mit Kugeln oder einer Granate beschießt, prallen die Geschosse einfach davon ab … paff! Ein hübsches Feuerwerk gibt das; und mit Quarz gemischt kann man sogar Fenster draus machen.«

Paul zog Luft durch die Zähne und pfiff. »Du meinst …«

»Jawohl«, bestätigte der Alte, setzte die Pfeife an und rauchte. »Erst haben sie Flugzeuge gebaut, um den Flakkanonen eins auszuwischen. Unsere Hübsche hier, die war Altmetall, als der erste Teutoniumbomber kam, um seine Fracht abzuwerfen. Phosphor, schreckliches Zeug. Das Gerberviertel ist abgebrannt damals; man konnte die Feuer nicht löschen.«

Rhombus setzte die Pfeife ab.

»Na, so richtig schlimm ist es aber an der Front gewesen. Die alten Kriegswaffen aus Stahl haben wir ja noch geknackt, aber als dann Artillerien und auch die Tanks aus Teutonium waren … Um diese Monster zu kriegen, musste man schon dicht ran: denen auf den Pelz rücken und fettbeschmierte Haftgranaten anbringen, sonst half da nichts; die Tellerminen im Boden noch, auch wenn oft nur die Panzerketten zerbrachen. Ein feines Morden hat das gegeben, mein Junge; so viele Soldaten, die bei den letzten Großangriffen auf den Feldern totgeschossen wurden, nur um ein paar lumpige Maschinen zu sprengen. Da grub man sich lieber ein wie ein Maulwurf und blieb im Schützengraben hängen, bis sich dann überhaupt nichts mehr regte. Furchtbar ist das gewesen. Stille über dem Land. Sie haben zwar neues Spielzeug für uns Soldaten gemacht, ein Panzerhemd aus Teutonium oder gleich die Büchse, wie sie im Graben hieß, eine Art Ritterrüstung. Weißt du, was das ist?«

»Die kenne ich«, sagte Paul, der auf seinem Hintern hin und her rutschte. »Standen in Burgen herum.« Wo hatte er die gesehen? In einem Märchenbuch?

Rhombus schnaufte. »Der modernste Krieg, den die Welt gesehen hat, und wir, die Frontschweine, stapften im Harnisch durch die Bombentrichter. Ein Witz war das! Und nutzlos obendrein, weil einen das schwere Gerät in den Schlamm runterzog oder Schrapnelle zwischen die Platten pfiffen; und wenn erst Feuer oder Ätzgas wehte …«

Ehe er weitersprach, ließ Rhombus seinen Blick über die Plattform gleiten: Lisa hatte die Gemüsebeete verlassen, um Kleidung von einer Leine zu holen; neben dem Wäschekorb spielte Ludwig mit einer alten grauen Wollsocke.

»Nun ja, wie dem auch sei. Eine Weile blieben die Fronten wie eingefroren, bis der Feind uns endlich das Remis anbot, wie man beim Schach so sagt, wenn es keinen Sinn hat, die Partie überhaupt noch weiterzuspielen. Tja. Und ohne Sieger war der Krieg dann vorbei gewesen. Meine Güte, was haben wir Soldaten geflucht: tausende Kameraden verloren, für nichts und wieder nichts. Alle tot. Das war schon was …«

»Erzähl mir doch mehr«, bat Paul, weil Rhombus eine Weile nur schweigend dagesessen hatte, dicke Wolken paffend, bis das Kraut ganz verkohlt war. »Wann wurden die Kuppeln gebaut?« Kurz warf er einen Blick nach oben: Kaum Licht drang heute durch die Asche. An manchen Tagen fiel Kondenswasser, das sich an den Scheiben sammelte.

»Ach, das willst du auch noch wissen«, murrte Rhombus und klopfte Asche aus dem Pfeifenkopf, worauf er neuen Tabak aus der Dose zupfte. »Bloß weil du gestern den Orden gekriegt hast, glaub nicht, dass ich dir alles hinlege.«

»Aber ich will es jetzt hören«, drängte Paul und setzte sich aufrecht hin. Nie erklärte der Alte etwas: Warum die ganzen Leute tot waren, seine Eltern und alle, und weshalb sie das Lichtwerk bauten. Gemein war das!

»Bengel, ruhig. Das ist zu schwer für dich.«

»Denkst du, ich bin dumm?« Paul klang, als ob er Treppen hochgerannt wäre. »Der kleine blöde Junge, der immer deine Sachen herholt. Aber weißt du was? Das will ich gar nicht mehr machen!« Er schluckte, als ihm die Tränen kamen; schnell mit dem Ärmel abgewischt.

»Schon gut, Paul.« Unbemerkt hatte Lisa die Wäscheleine verlassen und stand nun dicht bei ihm, den Korb an ihren Bauch gedrückt. Zu Rhombus gewandt, sagte sie: »Du hast doch selbst gesagt, dass er groß genug ist.«

»Zu schwierig, Mädchen.«

»Ist es nicht. Und das weißt du auch.«

Rhombus ließ die Schultern hängen.

»Komm schon«, sagte Lisa lächelnd und stupste ihn mit dem Knie an. »Jetzt gib dir einen Ruck.«

»Nun denn.« Das Auge klackerte im Gehäuse, sobald er Paul, dann Lisa ansah: Beide nickten ihm aufmunternd zu. Also schob er seine Pfeife in den Mund, holte ein Zündholz aus der Tasche – und nachdem der Tabak brannte, fuhr er fort:

»Zähneknirschend wurden die Fronten geräumt, und wir sind nach Hause. Ein paar traurige Paraden haben sie abgehalten, ein paar Denkmäler gebaut, und dann kam der Wiederaufbau. Dem Feind hatte man nicht viel zu sagen, es gab ja keinen echten Verlierer, und so musste auch niemand auf gut Wetter machen und Kriegsschulden tilgen oder den Witwen und Waisen das Brot in den Rachen stopfen. Natürlich war der Zorn noch lange nicht weg, auch wenn der Kaiser und die Herren Generäle von Reue und Frieden daherschwafelten, aber im Volk brodelte es ganz gewaltig: Nach Rache und Vergeltung schrien sie in den Wirtsstuben und schlugen mit der Faust auf den Tisch. Die Ehre retten! Aber keiner wusste, wie das angehen sollte … Der Krieg hatte sich selbst aufgefressen.«

»Das war ganz leicht«, strahlte Paul und schnipste mit den Fingern, um den Hund herbeizurufen – und Ludwig trottete los, die zerfetzte Socke im Maul.

Rhombus schaute verärgert drein. »Sei still und stell die Lauscher auf.«

»Aber ich hab doch bloß –«

»Und dann!«, Rhombus Mundwinkel zuckten, »ging eines Tages das Gespenst von der Bombe um. Die ganzen Gerüchte, auf die man natürlich nichts gab, alles nur Waschweibgeschwätz und feindliche Propaganda, was auch immer; machte den Leuten trotzdem eine Heidenangst. Sie sollte anders sein als alle anderen Waffen, die wir kannten; könne die ganze Welt aus den Angeln heben, mit einer rätselhaften Kraft, vor der man selbst im tiefsten Bunker nicht mehr sicher ist. Alsbald tauchten Photographien auf, unscharfe Bilder, die unter der Hand herumgezeigt wurden, von Industrien und diesen neuen Raketenstützpunkten, wo sie angeblich hergestellt werden sollte. Dann stand es in der Zeitung und kam im Rundfunk, und plötzlich war es offiziell: Der Feind baute eine Überwaffe, um uns mit einem gezielten Schlag ein für allemal auszulöschen und –«

»… dann wurden die Kuppeln gebaut!«, platzte es aus Paul heraus; er schlug die Hände vor den Mund.

»Unterbrich mich nicht, verdammt noch eins«, donnerte Rhombus, dass Paul den Kopf einzog. »Weh dir, du spielst mit deinem Leben, Freundchen.«

»Du alter Griesgram.« Lisa kicherte leise, presste den Korb an die Hüfte.

»Ihr raubt mir den letzten Nerv, ihr zwei.«

»Ist dir nicht gut?«, wollte sie wissen.

»Mein Bein, es schmerzt so.« Rauch quoll aus seinem Mund, als Rhombus den Pfeifenstiel herauszog. Er räusperte sich. »Ob es jetzt vorausschauend oder weise war oder ob unser Kaiser einen Hau weg hatte, unsere Städte unter die Kuppeln zu zwingen, kann es nicht sagen. Schließlich hatten die meisten vom Krieg einen abgekriegt und waren nicht mehr ganz bei Trost, wenn ihr wisst, was ich meine – mehr Verrückte, als man hätte zählen können. Jedenfalls wurden die Reserven mobilisiert. Und eines Tages stand eine riesige Bauarmee vor unserer Tür, mit ihren Stahlgerüsten und Kränen. Und dann kamen Laster auf Laster, die Teutonium und Glasscheiben herbrachten. Als ob ein Ameisenstamm auf Wanderschaft wäre, könnt ihr euch das vorstellen? Die zogen von Stadt zu Stadt, krempelten Fabriken und Stahlwerke für ihre Zwecke um; nahmen alles Metall, das sie finden konnten, natürlich auf Geheiß des Kaisers! Frontschweine, von schwersten Gefechten gezeichnet, und dazwischen Ingenieure und Schweißer und ein ganzes Heer aus Schwerstarbeitern. Auch Kriegskrüppel waren dabei, zusammengeflickt mit diesen neuen Prothesen, die man an den Muskeln und Nerven festlöten konnte: Zinnsoldaten; stark wie Riesen, aber so kalt wie Maschinen.«

»Wahnsinn«, stieß Paul hervor. »Das hätte ich gern gesehen.« Er fand es schade, dass er so spät geboren war, nach dem Krieg, den vielen Abenteuern.

Rhombus nickte. »Und wie schnell sie die Kuppel spannten, dieses riesige Ding. Aber sie waren auch grob, fraßen unsere Vorräte weg, rissen alles an sich, was ihnen nütze schien. Es kam zu kleineren Aufständen, die wir als Miliz auflösen mussten. Die meisten Bewohner haben aber mit angepackt, auch bei den Brunnen für das geschlossene Wassersystem und —«

»Was … was ist?« Paul warf einen Blick über die Schulter – und da sah er, wo der Alte hinstarrte und was auf sie zukam: ein zäher, eisblauer Dunst, wabernd, zerfließend wie Tiefseequallen. Sporen! Giftig!

»Auch das noch.« Rhombus zerrte sich hoch, schwankte. »Die Propeller an, Junge, jetzt lauf schon. Und du deckst die Pflanzen zu, schnell.«

Polternd hatte Lisa den Korb fallen gelassen und war losgerannt, um die Beete mit einem Tuch zuzudecken. Paul überholte sie. Als er zur Brüstung kam, wo der kleine Motor stand, riss er das Anlasserseil zu sich, einmal und noch mal, damit die Maschine stotternd ansprang. Die Propeller begannen zu rotieren, quietschten, wurden schneller, dann sogen sie den Sporennebel zu sich heran, teilten ihn, bündelten ihn zu festen Luftströmen, die quer über die Plattform zur anderen Seite abzogen.

Obwohl beide klein genug waren, hielten sie den Kopf gesenkt; auch Rhombus duckte sich unter den Schwaden hinweg, während er zu seinem Werkzeugkasten humpelte und den Deckel aufschlug und drei Gasmasken herausholte, die er ihnen brüllend hinhielt; aber die Propeller waren so laut, dass sie seine Stimme übertönten. Erst als sie hinrannten, um ihm die Masken abzunehmen, am Gummi rissen, sie überstülpten, konnten Lisa und Paul ihn dumpf verstehen:

»Schaut im Haus nach, ob wir Löcher von den Beben gekriegt haben. Ich komme nach!« Worauf er seine Maske überzog und einen großen Kanister holte, den er zur Brüstung weiterschleppte.

Er fluchte.

Gleichzeitig flitzten beide los, der Hund blieb zurück – die Stufen abwärts, eine Treppe, eine zweite, bis sie die Hintertür erreichten, aufschlugen; eintraten. Hinterm Fenster konnte Paul den Nebel sehen, der zur Flak hochzog, angesaugt von den Propellern; ihr Lärm drang nach unten, dazwischen das schwere Pumpen des Motors.

Auf dem Tisch zuckte das Kerzenlicht.

»Scheint alles dicht«, schnaufte Lisa und holte so tief Luft, dass die Atempatrone zischte. Durch die Rundgläser sah Paul, wie ihr der Schweiß in die Augen rann. Sie blinzelte. »Wir sollten trotzdem nachsehen.«

»Und die Kammer?«, fragte Paul, der den Rücken durchbog: Seitenstechen. »Ich weiß, wo heute der Schlüssel ist.« Der Alte nutzte immer dieselben Verstecke …

Ohne Antwort sprang er zum Ofen, wo ein Berg aus Töpfen lag; von einem kleinen stieß er den Deckel beiseite, fischte den Schlüssel heraus, rannte zur Tür und öffnete sie:

Ein fensterloser Raum, mit Brettern verkleidet. Keine Bilder an den Wänden, auch kein Regal, alle Bücher waren neben das Feldbett aufgestapelt: Bände über Elektronik und Astrophysik. Noch eine Kommode, ein Sekretär, auf dem ein Einmachglas stand, mit Leuchtkäfern drin, und eine offene Patronenkiste, in der Rhombus seine Kleidung aufbewahrte.

Zögernd setzte Paul einen Fuß über die Schwelle – dann, mutiger, kletterte er aufs Bett und suchte Ecken und Rückwand ab. Weil er keine Löcher fand, drehte er sich auf den Po und ließ die Füße baumeln; erst verschnaufen; wobei ihm ein hölzerner Standrahmen auffiel, den er noch nie gesehen hatte.

Er griff danach.

Die Photographie war älter und an den Rändern verfärbt. Sie zeigte einen jungen Mann, winkend vor einem Fesselballon, der gerade zum Himmel aufstieg. Ringsum Schaulustige: Männer im Anzug, schwarz und mit Hut; die Damen in weißen Kleidern.

Die Sonne schien.

War das Rhombus? Im Schatten konnte Paul das Gesicht kaum erkennen, und so stand er auf, wollte nach dem Einmachglas greifen, doch Lisa war schon hereingekommen und stellte sich dazwischen. »Was machst du denn da? Wenn er spitzkriegt, dass du seine Sachen wegnimmst …«

»Ist er das?«, fragte Paul ungerührt und trat beiseite, um sich an ihr vorbeizudrücken.

»Geht dich nichts an. Gib her.« Sie packte das Bild – doch er riss es ihr aus den Fingern, die über das Glas quietschten. Kurz rangelten sie miteinander, Paul, im Schwitzkasten, hielt den Rahmen weit von sich gestreckt, ehe Lisa sich ganz auf ihn drauf warf und beide stolperten und umkippten:

Rücklings prallte er gegen das Bettgestell, ihre Maske traf sein Augenglas, das splitterte, aber nicht brach – und Sterne schossen durch seinen Kopf wie Feuerwerksraketen, danach explodierte der Schmerz, und brüllend schälte Paul das Gummi vom Gesicht ab: »Geh runter von mir!«

»Das … das wollte ich nicht«, stammelte Lisa, die hastig zur Seite plumpste. »Blutest du? Oh nein, du blutest.« Sie holte ein Schnupftuch aus der Tasche, zerknüllte es, drückte es ihm auf die Schläfe.

»Aua, nicht so fest«, knurrte Paul und wehrte sich. »Blöde Kuh!«

»Still jetzt. Leg den Kopf nach vorn.«

Dabei fiel sein Blick auf den Rahmen, den er beim Sturz verloren hatte: zum Glück, das Glas war noch heil – nur die Fotografie verrutscht; und darunter klebte ein zweites Bild, das unter dem ersten versteckt worden war:

Auf demselben Flugfeld stand eine junge Frau, die Hand zum Gruß erhoben, die andere auf einen Sommerhut gelegt, damit er nicht davonsegelte. Der Ballon wurde noch mit Sandsäcken beschwert, stattdessen schoss ein Propellerflieger im Tiefflug vorbei und wirbelte den Staub auf.

Der Himmel, dieser endlos weite Himmel.

Paul dröhnte der Kopf; und ein Druck im Bauch, als würde er fallen, herabtrudeln in die grelle, wolkenlose Fläche, um dann einen Bogen zu fliegen, die Tragflächen hochzureißen und durchzustarten, zur Sonne hin, näher, immer näher heran …

Ihm wurde schwarz vor Augen.

Außer der Kerze brannte kaum Licht; auch der Kamin war kalt. Sie saßen am Tisch, aßen eine Brotsuppe, die Lisa mit Leuchtpilzen gestreckt hatte: Ein geisterhafter Schein glänzte in ihren Augen; und Rhombus’ Gesicht, von unten bestrahlt, wirkte finster und alt, mit tiefen Falten gezeichnet.

Keiner sagte ein Wort.

Während sie ihre Teller leer löffelten, schaute Paul aus dem Fenster: kein Nebel mehr, der sich verflüchtigt hatte; sie hatten die Propeller abgestellt. Er betastete seine Schläfe, auf der ein großes Pflaster klebte, sie tat noch immer höllisch weh; dann griff er nach der Kelle, wollte sich einen Nachschlag einschenken, als Rhombus das Schweigen jäh unterbrach:

»Einen Knall hörten wir nicht von der Bombe, nur ein ohrenbetäubendes Brausen, bis der Stromwind die Kuppel erreichte und seine Blitze über die Scheiben peitschten, manche so dick wie ein Arm. Drinnen, bei uns, kühlte sich die Luft schlagartig ab. Eiskalt, dass einem der Atem auf den Lippen gefror. In Panik liefen die Leute los, suchten Schutz in den Kellern und Bunkeranlagen, und da ging ein Ruck durch die Stadt, alles verschwamm vor den Augen, die tränten, als hätte man Gas reingekriegt. Es roch nach verschmorten Kabeln und Äther. Ich packte meine Frau am Ärmel, zerrte sie die Treppen der Stadtwache runter, wo wir ein Notlager eingerichtet hatten, mit Rationen, Wasser und einem Telegraphen für den Lagebericht, und plötzlich, ich schaute zurück, weil ich den Stoff ihres Kleids nicht mehr spürte – und da war sie einfach verschwunden. Weg! Wie vom Erdboden verschluckt. Ich machte kehrt, die Stufen hoch, weil ich dachte, sie könnte raus gerannt sein, doch ich fand sie nicht wieder, weder oben noch auf der Straße, die völlig ausgestorben schien. Und kein Geräusch, nichts. Im Dunkeln, weil schon Asche auf dem Kuppeldach lag, habe ich Haus für Haus und Bunker für Bunker abgesucht, aber dort war keiner mehr. Alles verlassen. Alle fort … bis auf euch beide.« Er reckte das Kinn, presste die Lippen zusammen.

Erst jetzt goss Paul die Suppe in den Teller; davor hatte er reglos gewartet, den Kellenstiel lose in der Hand. »Wo sind wir gewesen?«, flüsterte er.

Zu seiner Überraschung gab Lisa ihm Antwort: »Meine Eltern hatten die Koffer gepackt und im Salon abgestellt. Das Grammophon spielte noch – schnell mussten wir das Haus verlassen, ich aber bin rauf ins Kinderzimmer, um meine Puppe zu holen, die auf dem Bett lag. Als ich runterkam, die Treppe hat gezittert und es war ein Geknalle wie von Schwefelböllern, stand unser Gepäck allein im Raum. Sofort bin ich raus auf den Hof, vielleicht stiegen sie ins Automobil ohne mich, doch niemand war da, weder Mama noch Papa und auch der Hund nicht. Dann bin ich weiter gerannt, auf die Straße … und fast über dich gestolpert. Du lagst mitten auf dem Bordstein. Erst lief ich an dir vorbei, ich hatte so Angst, aber ich hab kehrtgemacht nach ein paar Metern und dich aufgehoben und mit mir getragen; warum, weiß ich nicht mehr. Ach, warst du schwer! Bis zum Hoftor konnte ich dich noch weiterschleppen, dann wurden meine Knie weich und ich hab mich einfach auf den Boden gesetzt und geweint und nach meinen Eltern gerufen – wie lange, kann ich nicht sagen, nur dass es dunkel wurde um uns rum.«

Sie schaute Rhombus an, der ihr zunickte:

»Und dort fand ich euch schließlich, und seitdem sind wir beisammen.«

Mit einer Hand schob Paul den Teller von sich weg. Er dachte nach. »Ich wüsste so gern, wer meine Eltern waren«, sagte er leise. »Und wieso sind alle tot, außer uns?«

»Das ist verdammt schwer zu erklären«, antwortete Rhombus und stapelte den Teller auf seinen.

»Bitte«, flehte Paul. »Erzähl es mir endlich.«

Als Lisa den Tisch abräumte, holte Rhombus einen Stift und einen Block aus seiner Kammer und begann darauf zu zeichnen – viele kleine leere Kreise. »Die Bombe hat nicht nur das Land draußen zerstört«, erklärte er, »sie hat die Wirklichkeit auseinander gesprengt. Aus einer einzigen Welt, aus unserer Welt mit unserer Zeit, sind viele weitere geworden, jede für sich abgeschottet von den anderen.« Er tippte auf einen Kreis. »Weißt du, ich glaube nicht, dass die Menschen beim Angriff gestorben sind. Vielmehr ist es wohl so: Hier sind wir, wir drei, und vielleicht noch wenige Menschen mehr, außerhalb der Kuppel, in einer anderen Stadt.« Er tippte auf einen zweiten. »Und hier sind wieder welche drin, möglicherweise eure Eltern, meine Frau oder der Bürgermeister, eine Gruppe von Zinnsoldaten, wer weiß.« Die Spitze des Bleistifts sprang von Kreis zu Kreis. »Und hier sind welche, und hier drin auch und da und da … Verstehst du?«

»Weiß nicht so recht«, flüsterte Paul, der gebannt auf die Kreise starrte. Was malte der Alte da?

»Junge, ich sagte doch, dass es schwer ist. Also streng dich an!« Rhombus kritzelte Pfeile aufs Blatt. »Aber diese Welten, sie bewegen sich, mal aufeinander zu, mal voneinander weg. Je näher sie sich kommen, desto stärker wird die Phase, bis ihre Ränder sich kurz berühren, dann stoßen sie sich wieder ab wie Magneten … und die Beben werden schwächer. Aber da ist noch etwas …« Grob füllte er den weißen Zwischenraum mit schnellen Strichen aus; auch Lisa sah ihm dabei zu.

»Dort, wo jetzt schwarz ist, klafft eine ganz andere Welt wie ein tiefes dunkles Loch. Eine Zwischenwelt, eine … Geisterwelt, die mit unserer nichts gemein hat. Und fremde Wesen leben darin, du kennst sie: Feuerfalter, Würmer und diese Geistervögel. Fremde Pflanzen auch, wie die Pilze, die Lisa oben in der Holzkiste züchtet. Sie gehören nicht hierher. Das sind bloß Vermutungen, obwohl ich viel gerechnet habe in den letzten Jahren. Ich glaube, als die Bombe zündete, hat sie einen großen Riss gesprengt, durch den die Geisterwelt zu uns hereingequetscht wird, wenn die Phase näher rückt – verstehst du, wie Schuhcreme aus einer Tube. Hoffen wir also, dass nichts Schlimmeres durchbricht als diese verdammten blauen Sporen. Junge, was ist?«

Pauls Schultern zitterten.

Rhombus’ Worte hatten ihn so aufgewühlt, dass er nicht mehr auf dem Stuhl sitzen konnte. Er sprang auf. »Dann sind sie also gar nicht gestorben?«, stieß er hervor, während er langsam zurückwich, weg von ihnen, rückwärts zur Haustür. »Ihr habt mich angeschwindelt! Miese Lügner seid ihr.«

»Junge, du kapierst nicht ...«

»Oh doch, ich kapiere sehr wohl!«, brüllte er und hatte die Klinke schon in der Hand. »Meine Eltern leben, und ihr habt gesagt, sie sind tot. Ich hasse euch!«

»Ruhig, Paul. Lass es dir erklären.« Lisa legte das Spültuch beiseite und kam auf ihn zu, doch Paul wandte sich ab, schlug die Tür auf und stürzte hinaus, ohne sich umzudrehen, die Treppen runter. Unten, auf den letzten Stufen, breitete er seine Arme aus, rannte, so schnell er nur konnte – und sprang, wobei er das Geräusch eines Propellers nachmachte. Wegfliegen! Fort von hier. Alles hinter sich lassen.

Beim Landen verlor er einen Schuh; knickte mit dem Fuß weg, fiel auf die Knie, dann auf die Hände.

Tränen brannten in seinen Augen.

Ohne Laterne, dafür war ihm der Hund nachgefolgt, löste Paul das Boot vom Steg und paddelte in die Nacht hinaus. Nie wieder wollte er umkehren, nie mehr.

Beidseits des Kanals wuchsen Feuerbeeren, hier und dort, winzige Leuchtmarken, und so konnte er Kurs halten, obwohl das Wasser tiefschwarz war. Die feuchte Luft ließ ihn schwer atmen, weil die Häuser näherrückten: ein Grabgeruch zwischen den engen hohen Wänden – die Erdgeschosse überflutet, Möbel und Teppiche verfault, die Tapeten verschimmelt; loses Geschirr am Grund verstreut. Auf Augenhöhe sah Paul einen Kronleuchter hängen; und da war ein Porträt, von eisblauem Moos befleckt: ein Geistergesicht; und es gruselte ihn so sehr, dass er schneller paddelte.

In der Stille hörte er Wasser tröpfeln.

Je weiter er in die Schatten vordrang, desto dunkler wurde es ringsum; noch glühten ein paar Beeren, aber dann wurden die Ufer schwarz, als hätte ein Gas alles Licht erstickt.

Paul hustete.

Er machte Rückwärtsschläge, um das Boot zu bremsen. »Runter mit dir, du Faulpelz«, sagte er zu Ludwig, der auf der Munitionskiste döste; und der Hund trollte sich, kletterte unter das Dollbord, wo er sich schnaufend hinlegte. Eins der Wolfsaugen glänzte, verschwand.

Von oben drang noch ein Schimmern durch die Asche, ein kleiner, glühender Riss – plötzlich verblasst wie ein Glühdraht ohne Strom, und Paul sah die Hand vor Augen nicht mehr, als er die Kiste öffnete und ihren Inhalt durchwühlte: Verbandszeug. Eine Schere. Ein Lappen. Draht. Eine Leuchtpistole. Und die Phosphorstäbe, nach denen er gesucht hatte.

Es war stockfinster geworden.

Vorsichtig nahm er eins der Glasröhrchen heraus, knickte die Plombe ab und wartete, bis die chemische Reaktion begann: Lautlos ging der Phosphor in Flammen auf. Paul zählte bis drei, ehe er den Stab im hohen Bogen zum Ufer warf. Ein Klirren, ein Splittern. Worauf Feuerschein auf den Fassaden tanzte.

Am Ende der Häuserreihe gabelte sich der Kanal und floss zum Marktplatz, dahinter lagen die Katakomben, der Echosee – und rechts entlang zum alten Bahnhof, der höher gelegen und trocken war. Da Rhombus ihm aufgetragen hatte, nach Benzin zu suchen, ließ er das Boot auf den dunkleren Seitenarm zudriften. Ob der Alte seine Eltern herholen konnte, überlegte er, aus den Kreisen zwischen den Strichen? Wurde dafür das Lichtwerk gemacht? Funktionierte die Maschine überhaupt? Oder war das alles bloß ein Schwindel?

»Miese Lügner«, zischte er, wieder zornig auf beide. Nein, er würde nicht umkehren, sondern eine eigene Hütte bauen, irgendwo in den tiefsten Schatten. Sie würden ihn nicht finden. Dann konnte er Pilze züchten und nach Konserven suchen; außerdem war Ludwig bei ihm, er hatte also einen Freund.

Doch erst wollte Paul etwas nachprüfen …

Kräftiger zog er das Paddel durch, steuerte das Boot unter Rohren hindurch, die einst zum geschlossenen Wassersystem gehörten, aber längst verrostet und aufgebrochen waren: Aus den Löchern sickerte eine stinkende Brühe.

Der Kanal weiterte sich, bis er mit dem Vorplatz des Bahnhofs verschmolz; alles war meterhoch überflutet – die Hallen und Lokschuppen ringsum umschlossen ein Becken, in dem sich das Treppenportal spiegelte; noch höher die gläsernen Pforten. Das ganze Gebäude erweckte den Eindruck, als wäre es eine Gartenlaube von riesigen Ausmaßen. Innen ein rötliches Licht.

Nochmals warf Paul einen Leuchtstab zum Ufer, der aber nicht weit genug flog, sondern ins Wasser fiel und versank wie ein Stern, hell funkelnd … Kurz tauchte am Grund eine Trambahn auf, die auf ihrem Gleis schlief, unten, in der grünen Tiefe.

Und Schwärze.

Nach einem langen Schlag ließ Paul das Boot ausgleiten und kletterte von Bord. Sein Fuß schmerzte, als er auftrat, der Knöchel war geschwollen. Trotzdem packte er ein Tau, zuerst mit einer, dann mit beiden Händen, zog das Boot unter eine Gaslaterne und band es dort am Pfahl fest. »Ludwig, komm«, sagte er, bevor er die wenigen Stufen hinaufhumpelte.

Hinter sich hörte er Wellen schwappen.

Der Treppe schwankte leicht.

Paul stemmte die Glaspforte auf und ließ zuerst den Hund durch, bevor er selbst den Bahnhof betrat. Wo er auch hinsah, im Gewölbe und auf den Gleisen, wucherten fremdartige Pflanzen, Unkraut, Blumen und Sträucher, die feurige Blüten trugen. Ein herber Geruch sättigte die Luft, und Paul musste niesen, als er den Fahrkartenschalter passierte, danach ein Café, dessen Tische und Stühle noch draußen standen – leere Teller, leere Tassen wie bei einer Puppenstube.

Gespenstisch.

Paul spürte einen Kloß im Hals. Flach atmend blieb er stehen, um einen Baum zu betrachten, der mitten auf dem Bahnsteig wurzelte. Schwere, glutrote Früchte hingen an den Ästen. Seit seinem letzten Besuch hatten sich die Pflanzen stark vermehrt, anscheinend wirkte die Halle wie ein Gewächshaus, obwohl es hier drin weder drückend noch feucht war.

Während Paul vorwärts ging, ließ er den Blick bis zum Abstellgleis schweifen, wo noch ein Güterwaggon allein im Schatten stand: Seine Räder und Puffer wurden von eisblauen Ranken überwachsen – und auch die Fracht war unter Blättern und Zweigen versteckt, als hätte jemand ein Tarnnetz darüber gelegt: Kriegspanzer hatte der Waggon geladen, mit wuchtigen Feuerrohren, die zum Glasdach aufragten.

Schon früher war Paul auf ihnen herumgeklettert, hatte in die seitlichen Kanonen gespäht und versucht, die Einstiegsluken zu öffnen; heute wollte er nicht spielen, sondern das Metall anfassen. Deshalb humpelte er zu einer Trittleiter, stieg den Güterwaggon hinauf, streckte die Hand vor – und da fühlte er das feine, unsichtbare Feld, das über der Armierung schwebte. Wie ein Luftpolster, tatsächlich. Vielleicht stimmte dann auch der Rest: das mit den Zinnsoldaten und der Bombe; und dass seine Eltern noch lebten und —

Ludwig, der eben noch friedlich an einem Rad geschnüffelt hatte, bellte plötzlich laut, winselte und heulte, wobei er ruhelos umher lief.

»Was ist?«, fragte Paul. »Gefahr?«

Und wie zur Antwort wurde der Bahnhof von einem Beben hart getroffen; Gleise und Pflanzen, der Waggon und die Tanks – alles verschwamm vor den Augen.

Der Boden rumorte.

Wankend verließ Paul die Leiter, machte kehrt, als ein zweites, noch stärkeres Beben das Gewölbe vibrieren ließ: ein kristallklarer Ton, gleich einer Opernstimme, die sang, ehe Risse durchs Glas sprangen.

So schnell er nur konnte, hinkte er den Bahnsteig hinab, bog ab, links entlang, die Halle runter; stolperte, vom Beben fast umgeworfen, fiel aber nicht hin. Dann barst das Kuppeldach mit lautem Knall, und Splitter und Scherben prasselten auf die Gleise, messerscharf wie Schrapnellgeschosse – Wolken aus Glas, als sie am Boden zerspritzten und Paul und den Hund zum Café weiter trieben, wo sie Schutz hinter einem Korbsessel fanden.

Ins Getöse mischte sich ein neues Geräusch, ein Zischen, dann pfeifend und schrill, als würde eine Dampflok einfahren, doch war es kein Zug, der in den Bahnhof kroch, sondern ein monströses Ding, amorph und sternenschwarz, einer Schlange ähnlich, die ganze Häuser verschlang. Und was Paul darin sah, ließ ihn erstarren; er stöhnte. Reglos schaute er zu, wie der Schlund sich weit öffnete: ein Tunnel zu einer anderen Welt, an dessen Ende eine fremde Landschaft lag, ein Wald aus Pilzen, die blauen Lamellen so groß wie Zeppeline.

Und ein glühender Himmel.

»Ich träume«, flüsterte Paul, und seine Schultern zitterten.

Wie er nach draußen gelangt war, wusste Paul nicht mehr, nur dass er den Hund getragen hatte – über die Splitter und Scherben hinweg. Jetzt, mit dem Rücken zum Boot, starrte er auf den Bahnhof zurück; das Dach eingedrückt und die Säulen krumm, als wären dort Fliegerbomben gefallen.

Noch schien das Monstrum darin gefangen, aber dann, begleitet von einem mächtigen Krachen, bohrte es sich einen Weg quer durch die Fassade hindurch, inzwischen so groß wie ein Riesenrad, schwarz an den Rändern, wo Blitze zuckten, wenn es ein Hindernis fraß, eine Mauer, ein Fenster; und innen die fremde Welt. Dort wehte ein Sturmwind, der die Pilze schüttelte, und wie Dampf aus einem Rohr quollen blaue Schwaden herüber; Sporennebel.

Paul hielt den Atem an.

Hastig löste er das Tau vom Laternenpfahl, hechtete an Bord, pfiff, und Ludwig sprang rein, während er mit kurzen Schlägen das Boot wendete und rückwärts ruderte – das Ungetüm im Auge behaltend.

Der Nebel waberte hintendrein, zäher geworden; und auch das Monstrum schien träge, seitdem es den Bahnhof verschluckt hatte, als müsse es gegen einen Widerstand kämpfen. Außen krachte es wie Gewitter.

Trotzdem brauchte Paul alle Kraft, um den Vorsprung nicht einzubüßen. Seine Muskeln taten weh, und er verfluchte sich selbst: schon wieder die Maske vergessen!

Als sie das Becken überquerten und den Kanal erreichten, umfing sie die Immernacht: Im Dunkeln schien das Ungetüm noch lauter zu grollen, das, einen Steinwurf entfernt, hinter den Häusern verschwunden war.

Mist! So kamen sie nicht vorwärts: Paul musste das Boot wieder wenden, aber auch das kostete Zeit. Was sollte er –

Eine Bö zerzauste sein Haar. Erschreckt duckte er sich, hätte das Paddel fast losgelassen: Er packte fest zu, zwang den Kopf hoch – gleichzeitig fraß sich das Ungetüm zu ihm durch wie Feuer, das Papier verzehrte, und Blitze jagten über die Wände, im Zickzack die Häuserschlucht runter; hin und her, und verpufften.

Funken.

Die Luft roch elektrisch aufgeladen.

Fast hatte der Nebel das Boot erfasst, alles Rudern half nichts mehr; so sehr sich Paul auch anstrengte, der Abstand wurde kleiner und kleiner: fünfzig Meter, dann vierzig, dreißig – Ludwig, der am Bug stand und knurrte, mit Schaum vor dem Mund, schaute plötzlich nach oben, winselte, bellte, ehe der erste Geistervogel über sie hinweg schoss. Ein ganzer Schwarm war gekommen, und sein eiskaltes Raunen mischte sich ins Getöse.

In letzter Not warf Paul das Paddel hin, schlug die Munitionskiste auf, nahm die Leuchtpistole, streckte sie vor und feuerte und traf: Fauchend ging ein Vogel in Flammen auf, die Flügel brannten, während er abwärts trudelte, ins Wasser klatschte, verglühte.

Dann fiel der Schwarm über sie her.

Es waren einfach zu viele.

Paul hatte versucht, sie mit dem Paddel abzuwehren, doch schnell hing sein Hemd in Fetzen; blutige Striemen und Bisse, dass er sich schreiend hinwarf. Zusammengekauert, den Kopf durch das Öltuch geschützt, lag er im Boot und musste mit ansehen, wie Ludwig nach den Vögeln schnappte, sich schüttelte, sich krümmte, um sie vom Rücken wegzuschleudern. Auch der Hund war verletzt, sein Fell durch die Schnäbel und Krallen zerrauft.

Dahinter, so nah, dass Paul einen gigantischen Wurm ausmachen konnte, der unter den Pilzen das Erdreich aufwühlte, gähnte das Ungetüm – turmhoch über ihm, laut wie ein Dampfzug, als es in den Kanal hineinkroch. Seine Masse drückte den Nebel nach außen, die Wände hoch, und nach vorn, schob ihn vor sich her: eine Springflut aus eisblauen Schwaden, knisternd. Nur eine kurze Distanz, bis die giftigen Sporen das Boot eingehüllt hatten …

Paul schlug das Öltuch zurück. Packte das Paddel, wollte rudern, obwohl ihn noch immer die Vögel umkreisten, dann aber blitzte ein greller, perlweißer Strahl von der anderen Seite her auf. Ein Scheinwerferlicht.

Lisa schrie: »Lasst sie in Frieden, ihr Mistviecher!«

»Hilf uns«, stöhnte Paul, der einen Vogel wegschlug, bevor er sich umdrehten konnte:

Im Höchsttempo kam ihr Motorboot angebraust, direkt auf sie zu; sein Keil zerpflügte das Wasser, die Bugwelle rollte und spritzte gegen die Häuser. Lisa saß hinten, die Pinne fest in der Hand, mit der sie lenkte – in der anderen eine Pistole. Sie schoss! Der Knall donnerte durch den Kanal, drückte den Schwarm nach hinten; und auch der Nebel schien einen Herzschlag zu stocken, ballte sich, um dann rascher zu fließen: Ludwig, noch immer vorn, wurde eingeweht, gerade als er wegspringen wollte.

»Ins Boot, schnell!«, rief Lisa, während sie eine Schleife fuhr, dabei den Motor drosselte, um Reling an Reling zu bringen. »Klettert rüber. Los, macht schon!«

Ein Satz, und Paul war drin, das Paddel wegschleudernd – der Hund folgte keuchend, Schaum an den Lefzen; das Fell klitschnass vom Blut. Sofort startete Lisa durch, gab Vollgas, und im scharfen Bogen preschte das Boot davon.

Für nur einen Moment hatte sie auf das Monstrum gestarrt, das sich, gleich einer Naturgewalt, in die Stadt hineinfraß, blitzend, bebend und krachend.

Ihr Gesicht war blass vor Entsetzen.

Rhombus öffnete die Tür zu ihrer Hütte – und da standen sie, müde, zerlumpt, und verletzt; wie nach einer schweren Schlacht. Und in den Augen das Grauen.

Schweigend trug Paul den Hund zu seinem Bett; strich über das blutige Fell, bevor er die Decke drüber zog. Ludwig durfte einfach nicht sterben! Eine Träne tröpfelte von seinem Kinn.

»Kinder, was ist mit euch passiert? So redet! Erzählt mir, was los war.«

»Wir waren am Bahnhof«, begann Paul, »wo ein Monster kam und alles gebebt hat, und wir sind abgehauen. Trotzdem hat es den Kanal verschluckt, und die Sporen, die flossen aus seinem Maul, und Geistervögel haben uns angegriffen, bis Lisa uns im Boot retten konnte.«

»Junge, du faselst ja.« Der Alte verschloss die Tür. »Was für ein Monster denn? Nur die Phase wird etwas stärker, kein Grund zur Sorge.«

Matt hob Lisa den Kopf; auch sie weinte, ihr Mund bibberte. »Es kommt näher, das Biest, schwarz und ganz riesig, und es macht Blitze und poltert wie ein Gewitter. Hör hin …«

Im Schatten, nur ein paar Kerzen brannten, horchten sie auf das ferne Grollen; schwach konnten sie das Raunen der Geistervögel ausmachen. Noch bebte der Flakturm nur leicht, obwohl sich das Monstrum schon hinter der Altstadt aufgetürmt hatte, als sie mit den letzten Tropfen Benzin den Kai erreichten.

»Ich habe eine schreckliche Ahnung«, brummte Rhombus und hinkte zum Fenster, um die Holzblende zu öffnen und rauszuschauen: Es war finster wie immer, bis auf das spukhafte Flackern, als würde ein Sturm heraufziehen. »Nein, das muss ich von oben sehen.« Er machte kehrt, ging zur Kommode, zog die Schublade auf, nahm sein Fernglas heraus – dann weiter zur Hintertür, wo er stehen blieb, zögerte. »Ihr bleibt hier unten. Lisa, wasch seine Schrammen und nimm das Jod; nachher schön alles verbinden. Da sind auch Pflaster übrig. Verstanden?«

Sie nickte.

»Bin gleich zurück und versorge den Hund.« Er humpelte hindurch, und die Tür fiel hinter ihm zu.

Im Luftzug knisterte ein Kerzendocht, sonst kein Laut außer dem Grollen draußen. Näher inzwischen. Viel näher.

»Hab keine Angst, es wird alles wieder gut.« Lisa holte den Sanitätsranzen vom Regal runter. »Rhombus weiß sicher, was zu tun ist.«

Hinter ihr warf Paul das zerfetzte Hemd weg. »Dieser Krüppel, was weiß der schon!«

»Nimm das sofort zurück«, schrie Lisa, den Ranzen zitternd in der Hand. »Du rotziger Bengel, ohne ihn hätten wir gar nichts. Gar nichts, hörst du? Gar nichts!«

Das saß; wie geohrfeigt stieß Paul gegen das Bettgestell. »Tut mir leid, ich –«

»Und jetzt pflanz deinen Hintern auf den Stuhl, damit ich dich verarzten kann. Wird’s bald?«

Unter Tränen, beide weinten, kam Paul zum Tisch – wollte sich hinsetzen, als von oben laut und schrill eine Sirene ertönte.

Alarm!

»Es geht los«, sagte Lisa und stellte den Ranzen beiseite. »Zieh deinen Pulli an und komm.«

Hand in Hand nahmen sie die letzten Stufen. Paul wurde von Lisa hochgezogen, die auf ihn einredete, schnell und pausenlos, obwohl er draußen nichts mehr verstehen konnte – Blitze durchstachen die Luft, und Donner, so laut wie Kanonenfeuer.

Als beide die Plattform erreichten, sich keuchend zur Brüstung hinschleppten, an den Beeten vorbei, warf sie ein Erdstoß von den Füßen: Sie fielen der Länge nach hin, blieben liegen, zu erschöpft, um wieder aufzustehen, bis Rhombus kam, um ihnen zu helfen.

Mittlerweile schien das Ungetüm die halbe Kuppel zu füllen, ganze Viertel waren verschwunden, dafür ein Himmel mit fremder Sonne, darunter die Pilze, Würmer, und Schwärme von Geistervögeln, die zwischen den Welten frei hin und her segelten.

»Das ganze Gefüge kollabiert«, brummte der Alte, wobei sein Maschinenauge die Häuser fixierte: verrutschte Dächer; und Schornsteine brachen – Berge von Schutt in den Straßen. »Mein Gott, ich hab befürchtet, dass das passiert. Wir müssen das Lichtwerk starten.«

»Kein Strom«, stöhnte Paul, dessen Knie bluteten, dunkle Flecken im Stoff.

»Ein Benzingenerator geht noch, auch die Autobatterien, und eine galvanische Säule habe ich vorhin aufgefüllt; das wird schon passen so weit.«

Doch sein Maschinenauge zuckte hin und her. »Keine Wahl, Junge. Keine Wahl!«, schrie er und packte Paul bei den Schultern. »Holt euch Hammer und Nägel und schlagt Löcher in die Propeller, unten, damit ihr das Benzin mit Eimern auffangen könnt. Das bringt ihr her. Verstanden?«

Paul rührte sich nicht.

Rhombus schüttelte ihn. »Hast du das begriffen, Rekrut!«

»J… ja« Paul löste sich, stolperte einen Schritt rückwärts, blieb danach stehen und starrte den Alten an. »Wir sollen das Benzin ablassen?«

»Und beeilt euch! Ich setze die Getriebe in Gang.«

Während der Veteran hektisch Regler und Hebel verstellte, Knöpfe drückte, Skalen ablas, suchten beide das Werkzeug zusammen und begannen, die Löcher zu hämmern und das bisschen Kraftstoff in die Eimer zu träufeln; ein Liter, nicht mehr, den sie zum Generator hintrugen, wo Rhombus das Benzin in den Stutzen einfüllte und den Motor anwarf.

»Es frisst die ganze Stadt auf!« Paul hatte die Augen weit aufgerissen, sodass sich das Ungetüm darin spiegelte, ein dräuendes, alles verschlingendes Inferno:

Blitze krachten. Sturmwind toste.

Und inmitten all dessen formten die Geistervögel einen einzigen, riesigen Schwarm, der auf sie zukam – ein Sausen und Zischen wie von einer Dampfmaschine.

»Nun gilt es!«, brüllte Rhombus gegen den Orkan an. »Haltet euch gut fest.« Sofort sprang er zum Lichtwerk, riss am Schaltpult einen Hebel nach rechts …

Doch nichts geschah.

Irgendwo knisterte es elektrisch.

»Donner noch eins! Was ist jetzt wieder los?« Zornig unterbrach er den Strom, fegte eine Verkleidung beiseite – und schwarzer Rauch quoll ihm entgegen: Die Kabel waren zerschmort. »Her zu mir, Junge, hilf mir!«

Wie in Trance, noch immer vom Monstrum gebannt, stolperte Paul nach vorn – Spielzeugsoldat, marschiere, marschiere; er fühlte seine Füße kaum, und seine Hände waren taub. »Was ist denn?«, fragte er schläfrig.

»Nimm die Zange«, murrte der Alte und reichte sie ihm. »Los, nimm schon, verflucht! Gut, ja.« Schnaufend ging er zum Betonstein, setzte sich hin, zog ein Hosenbein hoch; und Metall kam zum Vorschein, Gelenke und Draht; er legte die Prothese ganz frei. »Zwack diesen hier ab. Und den da auch.«

»Du … du bist ein …«, stotterte Paul, obwohl er niederkniete und die zwei Drähte entfernte.

»So ist der Krieg! Das Märchen vom Helden kannst du getrost vergessen!« Mit den Drähten in der Faust humpelte Rhombus zum Lichtwerk zurück. Prüfte den Schaden. Überbrückte den Stromkreis. Und legte erneut den Hebel um:

Jetzt drang ein Poltern aus der Maschine, Hydraulik stampfte und Zahnkränze mahlten, bevor der Scheinwerfer grell aufblitzte und ein sonnenhelles Licht durch die Finsternis streute.

Und zum ersten Mal, nach langer Zeit, erstrahlte die Stadt in ihrer ganzen traurigen Pracht: hier ein grüner Balkon, Fenster mit himmelblauen Gardinen; dort eine kirschrote Tür, ein Erker aus korngelben Ziegeln – Farben, Farben, wohin man nur schaute! Für einen Moment war das Inferno vergessen, erstaunt sah Paul zu den Villen herüber, zum Rathaus, zur Kirche, zu den Fabriken und Lagerhallen am Rand. Wie schön die Stadt einst gewesen sein musste, bis der Krieg sie verdorben hatte und —

Neue Beben, härter als zuvor, ließen die Plattform so stark erzittern, dass die Getriebe des Lichtwerks bockten. Der Scheinwerfer flackerte bedrohlich.

»Noch nicht«, knurrte Rhombus und trat gegen Stahlplatten, die vor Hitze glühten: Aus den Ritzen schoss Qualm, und Bolzen knirschten. Dann, auf einmal, brach ein Lichtbalken hervor, schnitt durch den Schwarm, durch den eisblauen Nebel, traf auf das Monstrum, trieb es zurück: Ein Strudel entstand, weltengroß und von unbändiger Kraft, dass er alles zu sich zerrte. Noch kämpften die Vögel gegen den Sog an, flatterten, kreischten – vergeblich.

Nichts aus der fremden Welt entkam.

»Die Maschine zerbricht! Zur Hütte, schnell«, rief Lisa und hatte Paul schon an der Hand, aber Rhombus konnte nicht länger gehen, und so nahmen sie ihn in die Mitte, stützten ihn, die Treppen abwärts, während sich oben das Lichtwerk zermalmte.

Unten hörten sie den Knall. Ringsum waren Dinge umgekippt, Töpfe, das Waschbecken; das Grammophon lag verbeult am Kamin, doch sie hatten alles so liegen lassen.

Paul stand am Bett, sein Gesicht im Fell des Hundes vergraben, und lauschte dem schwachen Herzschlag. Ludwig atmete kaum. Ob er durchkommen würde? Bitte, bitte.

Lisa und Rhombus hockten müde am Tisch. Die Kerze fehlte, lag vielleicht in einer Ecke. Minuten verstrichen. Erst nach langem Schweigen sagte der Alte: »Es ist vorbei. Das Lichtwerk hat den Riss verschlossen.«

»Wie denn?«, fragte Lisa.

»Höhere Astrophysik, Mädchen. Tut mir leid. Um ein Bild zu bemühen: Es war eine Linse, die einen Teil der Wirklichkeit bündeln konnte. Verstehst du?«

»Nein.«

Rhombus nickte. »Aber wir sind sicher. Fürs Erste.«

Erneute Stille zwischen ihnen. Deshalb stand sie auf, um Feuerholz aus einer Kiste zu holen, als es plötzlich an der Haustür klopfte – alle drei schraken zusammen. Eine junge Frau trat ein, lächelte, nahm verlegen den Pelzhut vom Kopf.

»Wo bin ich hier?«, wollte sie wissen.

Maschinenkinder

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