Читать книгу Maschinenkinder - Frank Hebben - Страница 7
ОглавлениеSCHWARZFALL
»Natur und Gesetz sah man im Dunkeln nicht;
Gott sprach, es werde Tesla, und überall ward Licht.«
(Laudatio zur Verleihung der Edison-Medaille durch das Amerikanische Institut der Elektroingenieure)
Nach 1901 standen sie bald in vielen Reichsstädten: Teslaspulen, groß wie Leuchttürme, um die Menschen mit drahtlosem Strom zu versorgen, jede Maschine und jedes Gefährt. Erst elektrische Monster, die Blitze in alle Richtungen warfen, dass einem die Haare zu Berge standen, euphorische Zustände herrschten und Jesus zu einem sprach und die Engel, nahe der Kugel, der Elektrode aus Kupfer, die in den Himmel hochstach; man beim Händeschütteln ständig einen Stromschlag bekam, die Pelzstolen der Damen knisterten und auch das Innenfutter der Herren, aus edlem Samt, mit Distelmuster bestickt; die Luft nach Ozon roch, abends, wenn in den Häusern die Glühbirnen brannten, die Kochplatten glühten und die Grammophone ganz ohne Federwerk sangen.
Diese Spulen hatten einen besseren Wirkungsgrad: Nun war über den Dächern bloß noch das magische Lichtspiel zu sehen, ein Funkeln, ein Pulsen, während die Stromkutschen ihre Passagiere sanft zu den Salons hintrugen, zu den Boulevards und Revuen.
Empfänger sogen die freie Energie auf und gaben sie an die Maschinen weiter; lang war es her, dass Überladungen sprühten und die Elektrik verschmorte: der Antrieb der Webstühle, Drehbänke; die Schmuckuhren der Kaufleute; die Pranken der Arbeiter in den Fabriken, ausgestattet mit zigfacher Körperkraft.
La Belle Époque!
Vorbei die dunklen Zeiten, als Bauern auf karger Scholle, verarmt und elend, von Missernten ausgezehrt, vom Ziehen des Pflugs, Regen und Kälte, sich ein neues Leben in den Städten erhofften … und doch nur die lichtlosen Hinterhöfe bezogen, abseits der prächtigen Straßen und Villen, wo der neue Geldadel wohnte.
Mit Wechselstrom war der Segen über die Bürger gekommen: Selbst jede Dienstmagd und jede Köchin, jeder Dreher, Mechaniker und Bergmann hatte fließend Wasser, ein Telephon in der Stube stehen – auch eine Sitzbadewanne, die beheizt werden konnte, für die lieben Kinderlein.
Es herrschte Ruhe im Volk.
Sogar Maschinenstürmer, die früher das Proletariat aufhetzten, Scheiben einschlugen und Fließbänder demolierten, saßen mit den Fabrikanten an einem Tisch und bekamen, was sie wollten: freie Stromgliedmaßen für alle – egal, ob für das Mädchen, das mit zierlichen Händen den Saum der Prunkkleider vernähte, oder für den Hafenarbeiter, der aus dem Frachtraum der Voltaschiffe hölzerne Kiste um Kiste wegschleppte, Baumwolle, Kautschuk und Elfenbein von den Kolonien in Asien und Afrika.
Von geschulten Doktoren am Leib angebracht, glückte meistens die Operation, die sehr günstig war, oft kostenlos, und die Warteliste kurz: Die Hospitäler eröffneten einen neuen Krankenflügel; für die Justierung, für Reparaturen aller Art.
Nachts, in den roten Varietés, ließen Tänzerinnen ihre grazilen Metallbeine glänzen, wenn zum wilden Cancan der Absinth durch die Kehlen floss, die Wangen sich röteten, die Jetons locker saßen, ehe die Grüne Stromfee in den Glühlampen seufzend starb und ein neuer Tag anbrach, der das trunkene Gelächter von den Straßen fegte.
Nicht lange, bis diese Prothesen zur Mode gehörten, weil sie den Herren mehr Stärke und den Damen mehr Anmut verliehen, so sehr begehrt, dass auch der Adel nicht länger verzichten wollte: Teuer und kunstvoll, aus Silber und Gold, trug sie die Gattin zur Schau, mit viel Haut, in der Oper, dass sogar der Kaiser verzückt vom Balkon runterspannte, sprachlos:
Elektrische Ziervögel, die auf dem Unterarm zwitscherten. Finger spielten ein Lied, sobald man sie bewegte. Es gab Lampen, eingefasst wie Edelsteine, und Verkleidungen aus Buntglas, von innen erleuchtet wie Kirchenfenster. Dezent unter dem Seidentaft versteckt: mechanische Korsette, die sich selber strafften …
Welch schwelgerische Pracht!
Sonntags, beim Pferderennen, protzten die Männer von ihrer Kraft: wie sie den Büffel jagten, durch die Prärie, ohne Kutsche und Ross; einen Leoparden erlegten, mit bloßer Hand, zwischen den trommelnden Schatten des Urwalds.
Und wie die Väter so ihre Söhne, die sich nach Reifenschlagen und Seilchenspringen mit kleinen Heldentaten überboten: Einer hatte die Schildkröten zerquetscht; der andere den Papierdrachen gehalten, bei Sturm … und dass auf dem Jahrmarkt der Lukas recht lustig klingelte, als der Hammer den Kopf traf.
Der Fortschritt galoppierte.
Immer neue, immer größere Erfindungen wurden gemacht, man staunte über Cinématographen, über Flugapparate; dem Genie der Ingenieure schienen keinerlei Grenzen gesetzt:
An jenem Abend, als der Klügste der Klugen seine Laudatio hörte, lächelnd, und nachher beim Sekt auf der Terrasse dozierte, da träumten sie wieder den ewigen Traum, eines Tages selbst den Tod zu beherrschen: von künstlichen Herzen war die Rede, für die Alten und Kranken – und davon, die Ionosphäre in Resonanz zu versetzen, um den ganzen Planeten zum Leiter zu machen.
So griff man nach den Sternen am Himmel, wo neben dem Funkeln der Elektroden zögernd andere Lichter erschienen, schillernde, bunte Bänder, eine Aurora Borealis: stille Musik, ein Partikel, ein Ton, bis die Melodie zum Sonnensturm wurde, der das Magnetfeld der Erde aufwühlte …
Jede Schwankung setzte mehr Energien frei. Die Entladungen schlugen ins Hochspannungsnetz, dass Störlichtbögen, dick wie Kabel, über die Teslaspulen peitschten, am Gerüst, an der Kugel oben, ehe die Stromspitzen durch den Äther schossen.
Papiere gingen in Flammen auf.
Elektrische Funken spritzten ins Dekolleté, und Rauch quoll aus den Blusen hervor, manches Kleid, mancher Anzug fing Feuer, während die Überspannung durch weitere Stadtteile raste, dann das Arbeiterviertel erreichte und dort die großen Maschinen lahmlegte.
Schwarzfall!
Treibriemen, die eben noch fröhlich kreisten, wurden langsam, eierten, nur um kraftlos auszutrudeln; Lastkräne, Fahrtreppen, Ventilatoren, sie standen still – keine Prothese ließ sich bewegen, kein Finger, kein Zeh, auch die Gedanken vom Schrecken gelähmt. Kurz glühten die Carbonfäden nach, eisrot und schläfrig, dann wurden alle Lampen finster.
Jene, die Glück im Unglück hatten, krochen daheim in den Sessel, auf die Couch, ins Himmelbett und harrten dort aus, leichenblass, und hofften auf neuen Strom; doch viele wurden beim Konzert überrascht, beim Galadiner – oder mitten auf der Straße, als die Gelenke plötzlich nachgaben. Ganz ohne Kraft wogen die Gliedmaßen schwer wie Blei: ein eherner Handschuh, ein Klotz am Bein; man war an Ort und Stelle gefangen. Und keine Hilfe. Die Stunden endlos.
In den Schatten, gespenstisch vom Nordlicht erhellt, spielte die Angst einem seltsame Streiche: Die Turmuhren starrten als Zyklopen herab; Omnibusse und Kutschen waren zu bösen Tieren geworden, die lauerten, obgleich kein Motor zu hören war, nur das klagende Stöhnen der Leute.
Der Morgen graute, bevor Rettung kam. Männer der Feuerwache, Polizei, Reservisten durchfuhren die Straßen auf klapprigen Karren, einen Ochsen, einen Gaul vorgespannt, und sammelten die Hilflosen ein, um sie nach Hause zu bringen oder ins Hospital.
Noch am Tage schien alles reglos erstarrt. Es gab Tote zu beklagen, eine Bibliothek war ausgebrannt, und keine Zeitung erschien, da die Druckerpressen nicht liefen.
Das Mittelalter einer stromlosen Stadt.
Weil die Telegraphen der Ortschaften schwiegen, wurden Fesselballons gestartet, um die Schäden zu untersuchen … Ein Blick durchs Fernglas zeigte das Ausmaß der Zerstörung: geplatzte Isolatoren, deren Öl die Überlandmasten versengte; die verkohlten Trafos der Umspannstationen, Spulen, von Ruß befleckt, auch hatte der Sonnensturm die Generatoren der Kraftwerke glatt aus dem Netz geworfen.
Ein Desaster! Nicht Tage, sondern Monate werden vergehen, ehe die Knotenpunkte repariert sind, lautete der Bericht der Prüfer, im Parlament persönlich vorgetragen, worauf der Reichskanzler den Notstand ausrief.
Zwei Wochen später.
Um die gefährdete Ordnung zu retten, stellte die Gendarmerie jeden in Dienst, der freiwillig kam, weder Prothesen besaß noch vorbestraft war; aber die wenigsten Untaten wurden verhindert: Plünderungen und Raub hielten die Viertel in Atem, sobald die Sonne unterging und Gesindel aus den Hinterhöfen kam, die Armen, Elenden, am ärgsten vom Schwarzfall betroffen; ohne Lohn, ohne Brot waren sie zu allem fähig. Man bangte um sein Leben.
Als das Verbrechen überhand nahm, drang das Militär in die Städte ein, grobe Kerle, fast schon Maschinen, mehr Eisen als Muskeln; und im Ranzen eine dicke Volta-Batterie, die über Kabel und Klemmen den Leib mit Strom versorgte. Auf Patrouille, Tag und Nacht, verbreiteten sie Angst und Schrecken, bis sich die Hungernden in ihren Quartieren verkrochen. Dann herrschte Ruhe, fürs Erste.
Sobald das Bürgertum aus dem Haus trat, konnte man eine Vielzahl träger Gestalten durch die Alleen und Parks geistern sehen: die junge Dame, vornehm gekleidet, eine silberne Brosche und Perlenohrringe, aber im Rollstuhl sitzend, die Augen leer, das Antlitz bleich – ein Mann mit Chapeau Claque, auf Krücken; und das Kind auf dem Dreirad, fuhr einhändig, weinte, denn sein linker Arm fehlte. Mechanisch, wie von einer Spieluhr geführt, zogen sie los, seltsam im Kreis, und verschwanden: Türchen auf, Türchen zu.
Noch vertraute man der Obrigkeit blind, noch glaubte man den Flugblättern, die in den Briefkästen lagen, auf der Straße verteilt wurden – von Knaben, deren Matrosenanzug ungebügelt und schmutzig war; doch der Herbst kam, mit ihm Regen und Kälte.
Stumm saß das Mädchen am Fenster, eingehüllt in eine Wolldecke, und starrte zum Garten hinaus, wo das Gras wild wucherte, reifes Obst, voller Fliegen, ringsum die Blätter rauschten, ein Windstoß sie abriss. Kurz zuckte das Talglicht auf dem Sims, und Dunkelheit.
Der Tod ist ein Schatten.
Fiebrig, wie opiumsüchtig, sehnten die Leute den Strom herbei, Tag für Tag müder, und gaben trotzdem die Hoffnung nicht auf. Dann mussten beim ersten Frost die Reparaturen ganz eingestellt werden.
Der Winter war streng; das Volk hungerte – sodass der Kaiser, zu stolz, den englischen König oder den Zaren um Hilfe zu bitten, gezwungen war, einen größeren Armeebestand gegen Essensmarken auszugeben: Dosenfleisch, Medikamente, Zwieback.
Luftschiffe flogen die Hilfsgüter ein, Dampflaster brachten sie auf den Markt; stundenlanges Warten im Schnee, für etwas Mehl, ein wenig Schmalz. Immerhin liefen die Reservepumpen der Stadtwerke mit Waschbenzin, an Wasser mangelte es nicht. Nach einer freudlosen Weihnacht brach das Jahr ohne Böller und zischende Raketen an.
Januar.
Februar.
März, als passende Generatoren aus Übersee eintrafen, auch Tesla-Spulen, fabrikneu, mit polierter Kuppel – allein: zu spät; die Männer waren sprachlos geworden, die Frauen hysterisch vom Hunger und vom Leid; wund gelegen, verkrüppelt ohne Stromgliedmaßen, griffen sie, halb verrückt, nach einem Strohhalm, jedem Ehrenwort zum Trotz:
Morsezeichenschnell blieb das Gerücht im Umlauf, dass nahe Danzig ein Küstenabschnitt verschont geblieben sei: Dort lag der Zoppot, der beliebte Jahrmarkt, wo der geniale Erfinder zur Weltausstellung, 1903, seine Spule errichten ließ, um die Wunder der Technik zu preisen, bevor ein Vergnügungspark draus wurde.
Ein Himmelszeichen! Alle Gebete schienen erhört.
Endlich wieder laufen zu können, sich alleine zu waschen, seine Notdurft zu verrichten, für dieses Glück schien keine Strapaze zu viel. Schnell wurde aus einer Schar frommer Christen, die auf Pferdekutschen zur Ostsee aufbrachen, eine große Pilgerfahrt; Tausende Kranke folgten, als die Tage länger wurden – von heiligen Worten beseelt: Vor der Tür des Reichen aber lag ein armer Mann namens Lazarus, dessen Leib voller Geschwüre war.
Ganze Familien brachen auf. Andere ließen ihre Verwandten im Stich, wenn sie loszogen, eine Decke eingepackt und Proviant – im Glauben, am Ende erlöst zu werden mit Strom, jener göttlichen Kraft, die Wissenschaft und Technik entfesselt hatten. Viele schafften es nicht.
Auf Photographien, vom Militär als geheim deklariert, war ein Karren mit gebrochener Achse zu sehen, beide Räder knietief im Dreck; ein Mädchen im Nachthemd, halbnackt; ein Bankier, dessen Motorwagen qualmte; Kinder, verloren am Wegesrand … und dazu die vielen Toten, Augen wie Milch, die Finger verkrümmt, die Haut voller Blutergüsse und blau, so lagen sie auf der Erde. Keiner wollte sie begraben.
Wütend prüfte der Major das Album durch, fluchte bei diesem Bild, schüttelte beim nächsten den Kopf, bis er die letzte Seite aufschlug; und was er dort fand, empörte ihn so, dass er vom Schreibtisch aufsprang, um ein Telegramm abzusetzen, das noch zur selben Stunde den Kaiser erreichte. Man musste diesen Wahnsinn beenden!
Mit schaufelnden Rotoren stieg der Zeppelin auf, während das Anwesen sacht zurückfiel, die Bäume, die Architektur der barocken Bögen, danach war alles ein Schachbrett aus Feldern und Dörfern und Straßen …
Der Kaiser in der Gondel ganz vorn, eine Hand am Geländer, den gelähmten Arm an die Hüfte gedrückt, schaute hinaus, seine Miene beschattet vom Gaskörper über ihm, als die Küste am Horizont näher rückte. Morgenlicht flimmerte auf den Propellern, blendete ihn und die großen Generäle, die ihm nahe standen. Am Boden flog die Eisenbahnstrecke dahin – nach Osten, Nordosten, wie eine Kompassnadel, nächste Stationen erst Lauenburg, dann Neustadt, durch Telegraphenbäume vernetzt, deren Kabel nicht länger summten; und keine Schuljungen mehr, die auf Drahteseln den Gleisen nachfolgten, dabei die Töne zu entschlüsseln versuchten, lachten, scherzten, sich mit der Welt verbunden fühlten. Keine Züge, die ratternd nach Danzig fuhren, keine Saatmaschinen auf den Äckern im Landkreis; auch die Straße schien so weit verlassen, bis auf wenige Schemen, die lose oder in Gruppen in der Dämmerung saßen und warteten …
Ebbe; gerade erst hatte die Flut eingesetzt, noch spähten die Möwen nach Würmern und Aas, und die Luft war erfüllt von ihrem Gekreisch, das bis zu den Brachen drang.
Hoch oben, vom Zeppelin aus, konnte man draußen auf einem Felsen das Gezeitenkraftwerk sehen: ein Backsteinhaus, weiß getüncht, für die Generatoren darin, und unter dem Meeresspiegel massige Tidenrohre, durch die das Wasser strömen konnte, um die Turbinen zu wälzen. Am Dach waren Leitungen quer über den Strand zu einer Klippe gespannt, dort stand ein Mast, vom nächsten gefolgt, der an der Küste weiterführte: So hing der Zoppot seit jeher am Netz und bezog allen Strom aus Wasser und Wind.
Außer dem Riesenrad, dessen Gondeln wie Tautropfen glänzten, lag der Jahrmarkt im Dunkeln – die Schiffschaukeln, der Kristallpalast und die Schießbuden; das Kabinett der lebendigen Wachsfiguren. Keine Orgel klimperte, sobald ein Karussell sich drehte, weder Gelächter noch Rufe, wohlige Schreie im Kuriositätenzelt angesichts der Gläser der Monster. Fort der süße Bonbonduft, verschwunden die Hunde, Bären und Affen, die ihre Kunststücke zeigten; die Jongleure, Eisenbieger, Feuerspucker, alle Farben und die Musik – nur Stille, die rauschte, als wäre eine Schellackplatte aufgelegt.
Es wurde taghell und erste, flache Wellen fluteten die Rohre, da erstrahlte die Teslaspule wie aus reinem Gold, so monumental, dass ihre Kuppel die Sonne verdeckte, weshalb das Jahrmarktportal schattig blieb … und das Lager vor seinen Toren: Planwagen, Zelte. Innen, hinter dem Tuch, zuckte Kerzenschein, verlosch, als die Pilger aus den Unterkünften traten.
Am Trampelpfad zwischen Suppenküche und Latrine hatten die Quacksalber schon ihre Stände geöffnet, verkauften Radiumsalbe zum Wucherpreis und galvanische Tinkturen. Von einer Kiste warf ein Pastor seine Predigt in die Menge: Weil nicht das Wissen, sondern der Glaube befreite! – daneben spielten Katzen mit Matsch, der durch zahllose Krücken zerstampft war.
Kotfliegen überall.
Die Ruhr grassierte, viele hatten sich angesteckt: Gestern waren drei gestorben, ein Müller, ein Kleinkind, ein Professor der Philosophie, rasch unter Löschkalk verscharrt im Massengrab – drei rote Striche auf einem Klemmbrett; das Lazarett überfüllt. Die Ärzte sahen hilflos zu, wie sich die Toten anhäuften; es gab kaum Medizin außer einem Aufguss aus Schwarzbeeren und Wein, den man den Kranken einflößte.
Trauer, die Köpfe gesenkt. Wer doch aufschaute, erschrak beim Anblick der zerlumpten Gestalten, die über Brotkrumen zankten, einander das Wenige heimlich stahlen oder mit Gewalt abpressten. Ob Monarch, ob Kaufmann – der Luxus war fort; die Klassenschranken eingerissen, der Zylinder verloren, der letzte Manschettenknopf gegen Butter getauscht.
Hier, im Elend, wurden alle gleich.
Stumpfsinnig, allein mit sich selbst beschäftigt, hatte kaum einer das Luftschiff bemerkt, das über dem Lager wie ein Sturm aufzog, düster am gewölbten Rumpf, unten, wo der Reichsadler prangte. Auch nicht das Lichtsignal im Fenster der Kanzel, es blitzte golden, einmal kurz, dreimal lang und:
Das Schmettern von Trompeten!
Knie an Knie reitend, Steigbügel an Steigbügel, rückte Kavallerie vor und verfiel, um für den Schrecken zu sorgen, in einen kurzen Galopp: Nicht der Säbel, die Peitsche zählte, wenn man sein Volk zusammentreiben wollte wie Vieh. Eingekreist blieb nur der Weg zum Jahrmarkt frei, dessen gusseiserne Tore fest verschlossen waren …
Steine und Erde spritzten hoch, ein Wirbel aus Hufen, die Rösser schnauften, Schaum vor dem Maul, als die Soldaten vorrückten, das Tempo zum Trab zügelten, dann ihre Lücken schlossen und die Mauerattacke in engster Formation führten. Sie rissen Stände, Zelte ab, während sie durchs Lager preschten: Fässer kippten, rollten weg, und ein Bretterverschlag krachte ein, dass die Leute panisch flohen, im Rollstuhl und auf Krücken, lahm und wehrlos wie Spinnen mit ausgerupften Beinen, so krochen sie davon, aber ihr Freiraum schwand schnell.
Im Nadelöhr zwischen den Planwagen staute sich die Menge auf, wurde aneinander gedrückt, vorne verkeilt, und hinten drängten sie nach. Tumult brach aus. Aus Furcht, niedergeknüppelt oder von den Pferden zertrampelt zu werden, drängte, stieß man seinen Nächsten beiseite, zerrte ihn an den Kleidern zu Boden. Ein Handgemenge, das eskalierte, obgleich die Soldaten längst gehalten hatten, sich sammelten, anstatt den Flüchtenden nachzusetzen.
Vorne, am Zoppot, war schon ein Kind im Menschenknäuel erstickt; blau angelaufen zwischen den Leibern, die gegen die Tore brandeten, schweißnass und wie von Stahlpressen ans Gitter gequetscht, brüllten sie vor Schmerz. Aus der Vogelperspektive wurde ein Wellenmuster deutlich, das durch die Pilger floss, während sie drückten und schoben, der Enge, der Hitze zu entkommen versuchten; doch immer mehr schwemmten nach, Hunderte, Tausende, zwischen Reiterei und Jahrmarkt eingekesselt. Über Leute, die am Boden lagen, und Rollstühle, egal ob besetzt oder leer, stieg man hinweg. Wenige konnten ihre Arme zum Himmel wuchten, um Luft zu holen, viele bezogen Prügel, Prellungen, Brüche oder ihr Brustkorb war eingedrückt worden, dass sie ohnmächtig oder tot in der Masse trieben. Der Lärm drang bis ins Innere des Luftschiffs, die Hilferufe und Flüche und ein spitzer Todesschrei.
Dem Kaiser gefror das Blut in den Adern.
An den Rändern war die Lage erträglicher: Die Kavallerie hatte ihre Sättel verlassen und löste die Gruppen gewaltfrei auf, führte sie ab, trug sie weg, barg die Verletzten, derweil sich am Eingang die Leichen stapelten – ehe das Wunder geschah: Die Teslaspule sang! Erhaben, gottgleich warf sie ihre Blitze in den Äther, und die Leute, erst entsetzt, dann rasend vor Freude, drängten zu ihr hin, so schrecklich gierig nach Strom.
Sofort wurde das Gitter gestürmt, mit den Klauen verbogen oder zerfetzt. In Wellen schwemmten die Pilger herein und rannten, rannten, schleuderten die Krücken fort, den Stützverband, die Taschen, Mäntel, Brillen, Feuerzeuge, den ganzen wertlosen Pomp: Jeder wollte der Erste sein, es gab kein Halten mehr. Eine dichte Menschenflut umspülte die Fahrgeschäfte – da, plötzlich, war eine Zirkusmelodie zu hören, das Pferdekarussell drehte sich wieder, das Riesenrad, und die Schiffschaukel schwang hoch, schwang zurück, wie eh zuvor, alles hell erleuchtet, die ganze märchenhafte Lichterwelt; ein Fiebertraum, okkult und schwarz, Motten, flatternd angelockt von Wärme und von Helligkeit, und die Flügel brannten fest:
Am Turmgerüst kletterten sie hoch, weil kein Platz mehr übrig blieb, verkrallten sich, hangelten mit den Stromgliedmaßen, stürzten – eine Traube aus Leibern, ein zerfetztes Bündel blutgetränkter Lumpen, das zurück in den Tod fiel, bis das Gerüst unter der Last einknickte, als würden Stahlstreben schmelzen.
Ein Blitzgewitter krachte, worauf das Luftschiff niedersank; die Motoren versagten und die Steuerung … Notlandung! Gestrandet am Meer fing der Zeppelin Feuer, rauchende Trümmer.
Der Tag zerbrach, und es ward Nacht.
Alle Uhren standen still.
»Wenn wir die Resultate von Mr. Teslas Arbeit nehmen und aus unserer industriellen Welt entfernen würden, würden die Räder in den Fabriken aufhören, sich zu drehen, unsere elektrischen Straßenbahnen und Züge würden stehen bleiben, unsere Städte wären dunkel, unsere Mühlen stünden still.«
(Laudatio zur Verleihung der Edison-Medaille durch das Amerikanische Institut für Elektroingenieure)