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Inhaltsverzeichnis

Brasch war nicht in der Halle des Esplanade zu finden, als ich gegen neun Uhr hinkam.

Ich hatte ein Kostüm angelegt, das in gewisser Weise nicht des Zusammenhanges mit den Ereignissen des letzten Tages entbehrte. Es war eines von Onkel Johns alten Kostümen, denn er hatte in seinen Kisten auch Kostüme nach Hause gebracht. Ich hatte als Knabe oftmals darin gespielt, wenn es mir auch damals zu groß war. Es hatte bei munteren Gelagen als eine Art Schlafrock gedient. Zu diesem Maskenball hatte ich in der Eile nichts anderes auftreiben können. Aber es war prachtvoll genug. Es war ein chinesischer Mantel mit weiten Ärmeln, am Halse offen und überaus weit geschnitten. Im übrigen war er mit gestickten Drachen, Lotosblumen und Vögeln übersät. Sie bedeckten ihn von oben bis unten. Da waren schwarze Drachen, gelbe Drachen, rote Lotosblumen, weiße Lotosblumen, rote Vögel, gelbe Vögel. Ich hatte mich dazu mit seidenen Pantoffeln und Beinkleidern versehen, und als ich mich, bevor ich von daheim wegging, im Spiegel betrachtete, fand ich mich überaus imponierend. Ich war ungeduldig, Braschs Urteil zu hören. Aber Brasch war nicht in der Halle, oder zum mindesten konnte ich ihn in dem Gewühl nicht finden. Ich wartete bis gegen zehn Uhr. Dann faßte ich meinen Entschluß. Brasch traf ich jeden Tag in der Bodega. Kein Grund, seinethalben die Maskerade zu versäumen. Ich begab mich in die Säle.

Das Hotel Esplanade war neu eröffnet. Der Architekt hatte freie Hand gehabt, berichteten die Zeitungen, sowohl in bezug auf Stil wie auf Material. Das Material war auch offenbar das kostbarste und der Stil auserlesen, aber schwer. Man mußte eher an einen Tempel als an ein Hotel denken. Aber von dem gewöhnlichen Aussehen des Hotels an diesem Abend war nicht viel übrig geblieben. Alles war mit Dekorationen und Lampen behangen. In dem richtigen Gefühl, daß der Bau eines großen Hotels keine Spielerei ist, hatten die Festarrangeure die Schöpfungsgeschichte als Motiv ihrer Dekorationen gewählt. Man sah das Licht aus dem Dunkel geboren werden, das Chaos sich ordnen, das Leben entstehen. Die Mythologien aller Zeiten hatten herhalten müssen; da waren Szenen aus der biblischen, der griechischen, der babylonischen. Und in dem Bewußtsein, daß die Frau das Meisterwerk der Schöpfung ist, hatten die Künstler überall die Amphoralinien ihres Körpers angebracht.

Die große Mittelhalle, in der getanzt wurde, stellte den sechsten Schöpfungstag dar, und die Wände waren mit Evatöchtern bedeckt. Einer der Seitensäle zeigte die Schöpfung des Lichtes – ein flammender weißer Lichtstrahl und ein gewaltiger roter Sonnenball loderten aus der Nacht; weibliche Kometen wirbelten hin und her, während die Männer als stetige Planeten ihren vorgeschriebenen Gang gingen und die Decke ein elektrisches Sternenzelt bildete. Der andere Seitensaal war dem organischen Leben vorbehalten; man verfolgte es von der Amöbe bis zum Menschen, aber keinerlei Kleinlichkeit herrschte in der Rangordnung. Hinter diesen Sälen befand sich eine Reihe kleiner Kabinette, einige in heller Beleuchtung, andere weniger beleuchtet. Aber von all dem sah ich nicht einmal ein Hundertstel, als ich eintrat. Die Dekorationen, das Licht und die tausend bunten Gewänder flossen für mich zu einem einzigen Effekt zusammen. Die ganze Erde hatte Formen und Farben hergeben müssen, um diesen Malstrom hervorzaubern zu können. Da waren Ägypter, Chinesen, Griechen; antike Philosophen, Ritter aus dem sechzehnten Jahrhundert, Hirtinnen aus dem achtzehnten Jahrhundert; Pierrots, Pierretten, Zigeunerinnen, kleine Babys mit Formen, die von allem anderen als von kindlicher Unschuld sprachen; neapolitanische Fischer, Marsbewohner, Göttinnen und Götter. Konfetti und Papierschlangen stoben umher; die Musik erbrauste von drei Kapellen, die Leute schrien und lachten in fünf oder sechs Sprachen durcheinander. Das gurrende Dänisch und seine härtere skandinavische Brudersprache überwogen, aber im Laufe von zehn Minuten schlug auch Deutsch und Englisch an mein Ohr. Die letztere Sprache hörte ich plötzlich dicht neben mir. Jemand sagte (ich verstand es, aber mir wurde es im ersten Augenblick nicht klar):

»Ist Laplace heute abend hier, wird nicht leicht sein, ihn zu erkennen.«

Jemand antwortete etwas, das ich nicht verstand. Ich sah mich nach den Personen um, die gesprochen hatten, aber sie waren im selben Augenblick verschwunden; und gerade da kam eine entzückende arabische Huri auf mich zu, in der Absicht, mich zur Religion des Propheten zu bekehren.

Die Argumente, die sie für ihre Glaubenslehre anführte, waren im höchsten Grade formvollendet. Ich entsagte ohne Zaudern der konfuzianischen Irrlehre und stürzte mich in einen Konvertiten-Onestep. Ich schien jedoch verurteilt, an diesem Abend ebenso häufig die Religion zu wechseln wie gewisse deutsche Fürstentümer im Dreißigjährigen Kriege. Eine Mohikanerin übernahm mich von der Araberin und entwarf mir eine glühende Schilderung der seligen Jagdgründe. Eben hatte ich den Glauben des braunen Naturkindes angenommen, als mich eine Geisha wieder in den Orient zurückriß. Simon Weel hatte bereits den ersten Keim ihrer buddhistischen Lehre in meine Seele gelegt. Sie und ich strebten einem der kleinen Privatkabinette zu, um die Bekehrung zu feiern. Auf dem Wege dorthin schritten wir an einer wunderlichen Gruppe vorbei. Auf einem Kissen an einem orientalischen Tisch saß ein riesiger Sultan in grüner Hadschitracht mit Turban und Krummsäbel. In frechem Trotz gegen den Koran trug sein Tisch ein halbes Dutzend Champagnerflaschen. Eine ebenso große Anzahl Odalisken fächelte seiner Stirn Kühlung zu. Ich konnte es nicht lassen, ihn anzustarren, und plötzlich blitzte ein Gedanke in mir auf: Graham! Mein Beauftragter ruhte sich nach den Forschungen des Tages aus! Ich mußte lachen. Schwamm der Professor auch in seinem Kielwasser? Kaum hatte ich diese Frage gestellt, als sie auch schon beantwortet wurde. Ein schwarzer Domino trat an den Tisch des Sultans, trank ein Glas Champagner und sank, eine Odaliske in den Armen, auf ein Kissen. Ich hörte ihn auf englisch sagen: »Wie geht's?«

Der Sultan erwiderte:

»Verdammte Hitze. Haben Sie Laplace gesehen?«

Was der schwarze Domino antwortete, verstand ich nicht. Die Geisha an meiner Seite unterbrach mich.

»Brr, mich friert«, sagte sie. »Sie ziehen mich ja mit den Augen förmlich aus!«

Es ist möglich, daß ich in Gedanken ihre Reize etwas zu dreist angestarrt hatte. Immerhin waren sie schon von vornherein überaus leicht maskiert. Aber fror sie, dann war es meine Pflicht – welcher Religion ich auch im Augenblick angehörte – sie zu kleiden und zu wärmen. Wir fanden ein Tischchen vor den Privatkabinetten, und ich bestellte eine Flasche Champagner. Wir waren gerade mitten darin, als ein gelehrter Koreaner mit Hornbrille und einem übel mitgenommenen Haarzopf an unseren Tisch trat. Er stellte sich als Ausschußmitglied der »Gesellschaft der jungen Mädchen«, koreanischer Abteilung, vor. In ihrem Namen warnte er die Geisha, sich überhaupt mit Chinesen einzulassen. Mit erhobenem Zeigefinger hielt er eine Rede auf koreanisch, die mir gegenüber verschwendet war. Ich nahm mein chinesisches Wissen zusammen und antwortete ihm: »Pe, nan, Li-Hung-Chang«: »im Norden, im Süden (herrscht) Li-Hung-Chang«; die Geisha fand die Argumente des Koreaners gewichtiger als meine, sie verschwand mit dem Ausschußmitglied in den Tanzsaal, aus dem in diesem Augenblick ein infernalisches Getöse erscholl. Man tanzte einen von einem amerikanischen Neger neu einstudierten Känguruh-Trott. Im selben Augenblicke erschienen vier Personen an meinem Tisch. Eine davon war der Kellner; die anderen drei bildeten offenbar eine Gesellschaft. Und was für eine Gesellschaft!

Der eine trug gleich mir ein chinesisches Kostüm und war der erste, der meine Aufmerksamkeit auf sich lenkte: ich war über seine naturgetreue Maske verblüfft. Er war erstaunlich schlitzäugig und hatte einen Haarzopf von ganz anderer Qualität als der Koreaner. Erst allmählich dämmerte mir auf, daß er wirklich ein Chinese war. Der andere Mann der Gesellschaft trug einen schwarzen Domino und eine Larve. Ich sah von seinem Gesicht nur den unteren Teil und die Augen, aber das war genug. Es war die untere Gesichtspartie eines Tigers. Der Schnurrbart bestand aus einigen gesträubten Borsten, und der Unterkiefer sah aus, als könne er einen Gewehrlauf durchbeißen. Seine Augenbälle unter der Maske waren gelb und blutunterlaufen. Dieser Mann führte eine Frau am Arm. Wenn sich die anderen jungen Frauen im Saal zu enthüllen suchten, indem sie sich nackt entkleideten, machte sie sich gerade durch die Kleider nackt. Sie war als Büßerin verkleidet. Aber der Körper unter der Nonnentracht vibrierte wie eine Stahlklinge, und die Augen unter der Maske leuchteten gerade in einen hinein. Sie waren klargrün wie Meerwasser; riet ich recht, wenn ich daraus und aus ihren weißen Händen schloß, daß sie rothaarig war? Ich starrte sie an, ganz den Mann in ihrer Begleitung vergessend. Wer war sie? Daß sie keine Dänin war, darauf hätte ich zehn gegen eins gewettet. Ihr Blick hatte nicht das sanfte Schmachten der Däninnen, und wenn ich auch ahnte, daß ihr Körper eher voll als mager war, hatte er doch nicht die weiche Fülle der Däninnen. Aber der Mann in ihrer Gesellschaft vergaß mich nicht so leicht wie ich ihn.

Er sagte zum Kellner etwas, das ich nicht hörte. Nun wendete sich dieser an mich:

»Verzeihung, mein Herr, dieser Tisch war besetzt.«

Meine Faulheit machte mich nachgiebig. Ich war bereits im Begriff aufzustehen, als ich dem Mann mit der Maske zufällig in die Augen sah. Sie waren voll ungeduldiger Verachtung.

Nichts reizt mich so sehr wie eine solche Apriori-Selbstsicherheit. Ich setzte mich auf dem Sessel bequem zurecht und schenkte ruhig mein Glas voll.

»Der Tisch ist von mir besetzt«, erklärte ich dem Kellner, »von niemand anderem«.

»Aber dieser Herr –«, begann der Kellner.

»Lassen Sie diesen Herrn sich selbst einen Tisch verschaffen.«

Ich wußte nicht, ob der Maskierte im Domino mich verstand. Jetzt äußerte er sich zum erstenmal. Er sprach französisch. Er hatte einen Tisch bestellt, und er wollte einen Tisch haben. Der Kellner warf einen ratlosen Blick in den Saal. Da war kein Tisch, der nicht von einer lärmenden, tollenden Gesellschaft besetzt war. Wieder kreuzte mein Blick den der jungen Nonne. Der klare Strahl aus ihren grünen Augen durchbohrte mich wie ein Degenstoß. Ich sammelte meine französischen Kenntnisse, erhob mich und sagte mit einer leichten Verbeugung gegen den Mann im Domino:

»Mein Herr, Sie suchen einen Tisch … Ich werde Ihnen mit Vergnügen meinen abtreten, wenn Sie gestatten, daß ich zuvor mein Glas austrinke.«

Er fixierte mich durch die Maske, ohne zu antworten. Ich fühlte meinen Jähzorn wieder aufsteigen. Die junge Nonne griff ein und sagte auf französisch:

»Wir können doch Monsieur nicht von seinem Tisch vertreiben!«

Der Mann mit der Maske wandte sich mir endlich zu:

»Gestatten Sie, daß wir uns einen Augenblick setzen? Unterdessen kann ein Tisch frei werden.«

Er sprach so langsam, daß ich jedes Wort verstand. Und was mehr ist, seine Stimme war sympathisch. Sie war sehr tief – ich mußte an eine Orgel denken oder an das Meer, wenn man es nachts in der Ferne brausen hört.

Mein Unmut schwand dahin. Ich verbeugte mich so gallisch wie möglich. Einen Augenblick darauf hatte ich zwei Gäste an meinem Tisch – nur zwei. Der dritte in der Gesellschaft, der Chinese, blieb hinter dem Sessel des schwarzen Dominos stehen. Ich riß die Augen auf. Plötzlich begriff ich. Der Chinese war der Diener des schwarzen Dominos! Vraiment, wie es auf französisch heißt. Ein Diener! Was waren das für Gäste, die jetzt an meinem Tisch weilten?

Das Gespräch zwischen ihnen war anfangs nicht sehr lebhaft. Sie saßen da und hielten nach einem anderen Tisch Umschau. Hie und da streifte mich ein Blick. Wenn dieser Blick aus den Augen unter dem Nonnentuch kam, bereitete er mir einen Genuß, den ich mich nicht zu verbergen bemühte. Sooft ich es wagte, starrte ich die weißen Hände auf dem Tisch vor mir an. Sie waren so weiß, daß sie rothaarig sein mußte. Sie bemerkte meine Blicke, aber ob sie ihr mißfielen, weiß ich nicht. Plötzlich begann sie mit ihrem Begleiter zu sprechen, in einem Strom von klingendem Französisch. Ich ließ mein Ohr liebkosen, ohne viel zu verstehen. Hie und da fing ich ein Wort auf: »Ici à Copenhague«, wiederholte sie mehrere Male. Ebenso wie das »Croyez-vous?« Aber das Wort, das ich am häufigsten auffing, war »lettre«. Manchmal war es »cette lettre«. Manchmal »ta lettre«, manchmal »la lettre de«, gefolgt von einem Namen, den ich nicht verstand. Der Mann antwortete nicht. Plötzlich erschreckte sie mich durch einen Wutausbruch. Es war so, wie wenn die Sonne sich plötzlich verfinstert und ein weißer Regenschauer auf das Meer niederprasselt; die grünen Augen hinter der Maske warfen Wellen und brandeten, die Stimme ward kalt und klar wie Kristall. Ich hörte: »Le voleur! Ah, le voleur! Ah, le lâche!« Wem galt diese Eruption? Ihr Begleiter saß still da und starrte vor sich hin. Einen Augenblick fragte ich mich, ob wohl er die Ursache ihres Ausbruches sein könne. Aber aus seinem Gesichtsausdruck entnahm ich, daß es sich um einen Abwesenden handeln mußte. Ich fragte mich, wer das sein könnte. »Voleur« bedeutet ja Dieb und »lâche« Feigling. Vorher hatte sie von einem Brief gesprochen. Hatte jemand ihr einen Brief gestohlen? Sie hatte ein paarmal »ta lettre« gesagt. War es ein Brief des schwarzen Dominos an sie, der abhanden gekommen war? Oder war der Brief ihm gestohlen worden? Ich entwarf einen Roman: Sie war verheiratet, er war ihr Geliebter, und ein kompromittierender Brief war gestohlen worden und einem Erpresser in die Hände gefallen. Nein, das war banal. Sie – ah, jetzt ging sie!

Das Kabinett hinter meinem Tisch war frei geworden. Der Kellner war herbeigeeilt, um dies mitzuteilen. Der Mann im Domino erhob sich und machte mir die Andeutung einer Kopfneigung. Es sah aus, wie wenn ein Tiger die Stirne senkt. Ich verbeugte mich unwillkürlich tief. Meine Belohnung blieb nicht aus: ein Blick aus den grünen Augen, rasch wie Wellenspritzer. Dann begegnete ich den ausdruckslosen schwarzen Steinkohlenaugen des Chinesen. Sie waren verschwunden. Sie waren in ihr Kabinett gegangen.

Ich saß lange in Gedanken da. Ich hatte plötzlich einen Blick in eine unbekannte, hypnotisierende Welt getan. Das waren Menschen von anderem Schlage als dem, dem ich tagaus, tagein begegnete. In ihren Augen und ihren Stimmen war Willenskraft mit Leidenschaft gepaart. Wer war er? Wer war sie? Was taten sie in diesem kleinen Winkel der Welt, wo es so leidenschaftslos zuging? Was hatte ihren Ausbruch hervorgerufen? Ich kannte sie nicht und würde sie vermutlich nie wiedersehen, und dennoch interessierten mich diese Fragen, mehr als die Frage, wie es mir selbst im Hinblick auf das, was ich vergangene Nacht angestellt, ergehen würde. Vergangene Nacht! Es kam mir beinahe vor, als sei es eine Ewigkeit her, seit ich in dem schwarzen Hause herumgetappt war. Ich mußte mir selbst aufs neue vorstellen, daß es nicht länger her und daß es wahr war, damit ich es glauben konnte. Es war wahr; ich war in einem Anfall berauschten Übermutes in ein fremdes Haus eingedrungen; ich hatte meinen Hut dort vergessen, und die Polizei war mir vermutlich schon auf den Fersen. Vielleicht wurde ich morgen in aller Frühe von ihr geweckt. Aber wenn schon! Wäre ich vor die Wahl gestellt worden, zu wissen, wie es mir ergehen würde oder worüber die beiden sprachen und wer sie waren, ich hätte keinen Augenblick gezögert.

Ich hatte halb und halb das Fest vergessen, das um mich tobte, und wurde wieder daran erinnert, als ein dicker geistlicher Würdenträger sich zu mir gesellte. Er war im Ornat mit Bischofsstab und einem Hut, der offenbar schon häufiger mit dem Fußboden Bekanntschaft gemacht hatte. Er hob den Stab segnend über meinen Kopf, schenkte das Glas voll, das ursprünglich für die Geisha hingestellt war, und sagte:

»Ich erhebe mein Glas auf China.«

Damit trank er in zwei Zügen den Rest meiner Flasche aus. Ich erwiderte:

»Verehrungswürdiger Vater, Sie tun nur, was Ihnen Ihr Beruf vorschreibt. Einem Mann wie Ihnen ist von seiner Religion auferlegt, für die ganze Gemeinde zu trinken. Wenn ich sicher wäre, zum Bischof zu avancieren, und wenn ich heute abend nicht schon ein dutzendmal die Religion gewechselt hätte, ich würde sofort zum Katholizismus übertreten.«

»Laß mich dein Taufpate werden, mein Sohn«, rief der dicke Bischof und bestellte beim Kellner eine neue Flasche. »Aber es schmerzt mich, daß du heute abend schon ein dutzendmal die Religion gewechselt hast. Ich bin der Großinquisitor Torquemada, und es wäre recht schade, wenn wir unsere Bekanntschaft bereuen müßten.«

»Ich bin heute abend«, versetzte ich, »Konfuzianer, Mohammedaner, Mohikaner, Buddhist gewesen und weiß augenblicklich nicht, was ich eher bin. Eben saß eine entzückende Nonne an meinem Tisch. Hätte sie es gewollt, ich würde jetzt ihrer Kirche angehören.«

»Das Nonnentuch«, sprach der Großinquisitor, »ist ein Tuch, das die Stirn der Wahrheit verhüllt. Alle wollen sehen, was sich darunter verbirgt. Überhaupt hat die Kirche den Frauen viel zu verdanken. Aber sie hat auch viel für die Frauen getan: sie hat ihnen Röcke gegeben und die Liebe zu einer Sünde umgeschaffen.«

»Verehrungswürdiger Vater«, erwiderte ich, »Sie zitieren, als wären Sie Hoffman-Bang. Aber gestatten sie mir eine Frage, die das Ordenswesen betrifft: Kann eine Frau mit roten Haaren Nonne werden? Ich habe Grund zu vermuten, daß meine Nonne rothaarig ist. Ihre Hand ist weiß, so aufregend weiß. Es kommt mir jedoch unwahrscheinlich vor, daß man eine Rothaarige in einen Orden aufnimmt. Das Haar der Rothaarigen entlehnt seinen Glanz dem Feuer der Begierden, sagt der Dichter meines Heimatlandes, Li-Tai-Pe.«

»Laß dir von der weißen Hand, von der du sprichst, den Weg zur Rettung zeigen, mein Sohn«, äußerte der Großinquisitor streng, »und scherze nicht. Es schmerzt mich, einen Sohn Chinas so gotteslästerlich reden zu hören. Ich hatte gehofft, daß einige der Keime, die der heilige Xaver in Peking ausgesät hat, in deinem Gemüte Wurzeln geschlagen haben würden. Ich wollte dich mit Rad und Galgen davonkommen lassen, aber ich beginne zu fürchten, daß nur das Feuer dich zu läutern vermag.«

»Wer war der heilige Xaver?« fragte ich.

»Er war Chinas Apostel und hätte dieses ganze Reich bekehrt, wenn nicht eine verhängnisvolle Feindschaft mit dem Hofe dazwischen gekommen wäre, hervorgerufen durch eine verfehlte Sendung Schnupftabakdosen. Dann wärst du jetzt bekehrt, und ich müßte dich nicht in einem von Teufelsbildern bedeckten Rock verbrennen.«

»Das Unglück hat mich von klein auf verfolgt«, bedauerte ich.

»Laß uns immerhin trinken«, tröstete der Großinquisitor.

Der Champagner war gebracht worden. Wir tranken einander feierlich zu. Ich schaute mir den Großinquisitor näher an. Seine Gestalt war, wie bereits gesagt, rundlich und vertrauenerweckend. Seine Finger waren klein und dick, aber, wie ich bemerkte, ungewöhnlich beweglich. Was auch beweglich war, waren seine Augenbrauen. Die tanzten auf und nieder, während er sprach, sie interpunktierten und unterstrichen seine Ansichten. Ich wunderte mich über ihre Größe; plötzlich bemerkte ich, daß sie aufgeklebt waren. Sie waren seine einzige Maske, wenn man von dem blaurasierten Kinn absah, das offenbar mit Tusche hervorgezaubert war. Im übrigen sah sein Gesicht so aus, als wäre es ein eigenes. Wie sah er ohne Maskierung aus? Ich machte eine Rechnung und zuckte plötzlich zusammen. Der Mann, der bei mir saß und mit mir trank, war kein anderer als Herr Pitz! Dozent an der Universität Kopenhagen für Chinesisch. Wie hatte doch Brasch gesagt: komischer Herr, treibt es toll in den Nachtcafés, aber ein heller Kopf, ein sehr heller Kopf! Hier traf man unleugbar Bekannte. Zuerst Mr. Graham und seinen Sekretär, dann Herrn Pitz. Der einzige, den man nicht traf, war Brasch. Aber die beste Begegnung war doch die mit dem Domino und der Nonne …

Meine Gedanken wanderten zu ihr zurück. Es gibt Leute, die grüne Augen häßlich finden. Das sind Idioten. Ich hatte vor meinen Freunden oft den Satz verfochten – ein Paradoxon ist bei ihnen für die Erhaltung des guten Rufs nötig –, daß das Menschengeschlecht in zwei Typen zerfällt: den Hundetypus und den Katzentypus. Der Hundetypus ist der gute, anhängliche, autoritätsgläubige Typus, der Katzentypus der mißtrauische, für sich selbst handelnde. Der erste ist sicher und zuverlässig im Verkehr, der letztere interessant. Der erste hat gute braune oder blaue Augen, der letztere schwarze oder grüne. Die blauen Hundeaugen sind seicht, man sieht ihnen bis auf den Grund. Die grünen Katzenaugen haben keinen Grund. Sie sind verräterisch, aber verlockend wie die verräterische Tiefe. Was macht es, wenn sie falsch sind? Was macht es, wenn die weiße Hand es mehr liebt zu kratzen als zu streicheln? Ich erzitterte bei dem Gedanken, ihre Augen auf mir ruhen zu fühlen. Ein Kratzen von ihrer weißen Hand wäre Wollust. Empfand der schwarze Domino das ebenfalls? Hatte er die Weibkatze mit den weißen Krallen gezähmt? Ich gelobte mir, und wenn es auch bis morgen früh dauern sollte, zu bleiben und die beiden noch einmal zu sehen. Ich zuckte zusammen, als jemand »Skal!« sagte.

»Skal!« antwortete ich mechanisch und ergriff mein Glas. Herr Pitz hatte es mit Champagner gefüllt. Wir tranken, ich die Augen auf sein Gesicht geheftet, er die Augen – sah ich recht? ja, wahrhaftig – über mein Kostüm hin und her wandern lassend und es förmlich mit den Blicken verschlingend, unter den komischen dicken Augenbrauen unbeweglich starrend. Es kam mir zum Bewußtsein, daß seine Stimme, als er »Skal« sagte, fremdartig geklungen hatte. War er betrunken? Ich beschloß, mir nicht anmerken zu lassen, daß ich wußte, wer er war.

»Verehrungswürdiger Vater«, sagte ich mit einem Versuch, unseren früheren Ton wieder anzuschlagen, »warum starrt Ihr mein Kostüm an? Sehnt Ihr Euch schon danach, mich in dem Mantel mit den Teufelsbildern zu sehen, von dem Ihr vorhin spracht?«

»Ich starre Ihr Kostüm an?« entgegnete er mit derselben heiseren Stimme. »Das tue ich wohl nicht. Aber es ist übrigens originell. Wo haben Sie es sich ausgeliehen?«

»Ich habe es mir nicht ausgeliehen, geschätzter Torquemada.«

»Wie sind Sie denn dazu gekommen?«

»Ich habe es mir nähen lassen!«

»Das ist nicht wahr!«

»Ihre Ausdrucksweise ist unfreundlich, selbst gegenüber einem armen Chinesen. Warum sollte ich es nicht haben nähen lassen?«

»Weil das unmöglich ist.«

»Warum nur? Zweifeln Sie an den Fähigkeiten meines Schneiders oder an dem Kredit, den ich bei ihm genieße?«

»Ihr Schneider kann Ihr Kostüm nicht angefertigt haben, wenn er kein Chinese ist. Ist er das?«

»Warum sollte ein Chinese nicht bei einem Chinesen arbeiten lassen?«

Herr Pitz murmelte etwas, was ich nicht hörte, und goß ein Glas Champagner hinunter. Er fuhr sich mit einem Taschentuch über die Stirn und zündete eine Zigarette an. Seine Bewegungen waren kurz und wie vom Fieber getrieben. Was war los? Plötzlich spreizte er alle Finger wie ein Zauberkünstler, ließ die Brauen etliche Male die Stirn auf und nieder tanzen und drehte den Mund in wunderlicher Weise im Gesicht herum. Ob ich wollte oder nicht, ich mußte ihn anstarren, bis ich nicht mehr anders konnte und in schallendes Gelächter ausbrach. Herr Pitz legte die Finger langsam wieder in die richtige Reihenfolge, stoppte die Augenbrauen und placierte den Mund an die richtige Stelle im Gesicht. Er saß nun eine halbe Minute still und sah mich aus zwei runden Porzellanaugen an. Sie waren von dem blauesten Hundetypusblau, das man sich nur denken konnte. Plötzlich öffnete er den Mund zu einem kleinen runden o und sagte:

»Wollen wir gemeinsam speisen?«

Nach der obenerwähnten Vorbereitung kam diese Frage so unerwartet, daß ich wiederum laut auflachen mußte.

»Pe, nan, Li-Hung-Chang«, sagte ich. »Im Norden, im Süden (herrscht) Li-Hung-Chang. Lassen Sie uns zusammen zu Abend essen.«

»Schwupp«, unterstrich Herr Pitz und winkte dem Kellner.

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