Читать книгу Lebenswege - Eine ostpreußische Familiengeschichte - Frank Hille - Страница 11
Einzug ins Dorf, Ostpreußen, Ende der 1930iger Jahre
ОглавлениеSie hatten vereinbart, dass der Großvater und Peter mit dem Pferdewagen vorfahren sollten, um möglichst viele Neugierige an die Dorfstraße zu locken. Die Rechnung ging auf. Am späten Nachmittag dieses Sonnabends saßen viele der Bauern schon auf den Bänken vor ihren Höfen, nur noch wenige waren auf den Feldern und die Fischer fuhren ohnehin schon in der Frühe auf die Seen hinaus, sie waren mit ihrer Arbeit für diesen Tag fertig. Natürlich hatte es sich herumgesprochen, dass der Becker Bauer heute seinen Traktor holen wollte, so ganz zufällig hatten sich die Zuschauer also nicht eingefunden. Der Traktor tuckerte die Dorfstraße entlang. Peters Vater hatte sich die Mütze tief in die Stirn geschoben um die Anspannung, die sich in seinem Gesicht spiegelte, nicht zu zeigen, dennoch steuerte er die Maschine so, als hätte er seinen Lebtag lang nichts anderes getan. Als er in den zweiten Gang schalten wollte knirschte es zwar vernehmlich, aber nach einem kurzen Ruck wurde der Traktor noch schneller und die nebenher laufenden Jungen des Dorfes hatten Mühe der Maschine zu folgen. Richter hatte dem Vater eingeschärft, dass er beim Erreichen des Hofes im ersten Gang fahren sollte, schließlich war eine Kurve zu nehmen um vor das Haus zu rollen. Den schwierigsten Teil der Strecke absolvierte der Vater souverän, er gab er Zwischengas, schaltete herunter, und nahezu elegant bog er auf den Hof ein, dort brachte er die Maschine zum Stehen. Der Motor ging aus und der Vater kletterte langsam von der Maschine herunter. Richter war bereits abgestiegen und sah ihn grinsend an, er klopfte ihm auf die Schulter, sagte etwas, und der Vater lachte lauthals. Dann ging er lässig auf seine Frau zu und küsste sie, so etwas tat er vor anderen sonst nie. Als er seine Mütze abnahm sah Peter, dass sein Haar klatschnass am Kopf klebte, das lag nicht nur an der Wärme die die Sonne noch ausstrahlte. Er hatte allen gezeigt, dass auch ein einfacher Bauer eine dieser neuen Maschinen beherrschen konnte.
„Na bitte“ meinte Richter „das war doch eine perfekte Vorstellung. Morgen können Sie unbedrängt ohne Gaffer auf dem Feld weiter üben. Nach und nach werden Sie die Maschine immer besser beherrschen und Sie werden sehen, dass der Traktor eine große Hilfe sein wird.“
„Das hast du gut gemacht, mein Junge“ sagte der dazugekommene Großvater zu Peters Vater „und auf dieses Ereignis sollten wir uns heute Abend ein paar Biere und Schnäpse gönnen. Wir können dann ja noch ein wenig über die alten Zeiten plaudern Herr Richter.“
„Diese Zeiten sind für mich immer noch mit vielen schlechten Träumen verbunden“ sagte Richter und Peter hörte genau zu „ich sehe noch die Leichenberge vor mir, die zerstörte Landschaft, das Chaos. Als es in den Krieg ging war ich genauso begeistert wie alle anderen und dachte, das wird ein Spaziergang, eine Art Abenteuer eben. Dass dieses Abenteuer für Millionen dann im Massengrab geendet hat ist wenig später die Wirklichkeit gewesen. Ich war an der Westfront in Frankreich und habe monatelang dort im Trommelfeuer gelegen. Jeden Tag sind Männer aus meiner Kompanie gefallen. Erschossen, in Unterständen erstickt, von Granaten zerrissen, von Bajonetten aufgespießt. Trotz der riesigen Verluste kamen wir kaum voran, und wenn, dann warfen uns die Franzosen oder die Engländer bald wieder zurück. Wir stehen jetzt schon wieder kurz vor einem neuen Krieg und ich sage Ihnen, der wird für Deutschland nicht anders enden als der erste große. Glauben Sie mir, Hitler will Krieg.“
„Wir kennen uns erst ein paar Stunden und Sie reden so mit uns“ sagte der Großvater überrascht „was wäre, wenn einer von uns Sie anzeigen würde?“
„Das wäre mir egal“ antwortete Richter „ich habe vielleicht noch ein Jahr, so sagt es jedenfalls mein Arzt. Meine Lungen arbeiten nur noch mit ganz schwacher Leistung. Und was ich Ihnen gesagt habe wird so werden, glauben Sie mir.“
Peter Becker würde die Worte Richters lange in Gedächtnis behalten. Dass sie für ihn und seine Familie zur schrecklichen Wahrheit werden würden ahnte er an diesem schönen Sommertag noch nicht.