Читать книгу Lebenswege - Eine ostpreußische Familiengeschichte - Frank Hille - Страница 12
Treck, Ostpreußen, 1945
ОглавлениеDie Kolonne der Pferdewagen bewegte sich langsam über die Straße. Die Alten saßen oben auf den mit Habseligkeiten vollgepackten Gefährten, die Frauen und die wenigen Männer gingen zu Fuß neben der Prozession einher, und die halbwüchsigen Kinder mussten den Boden auch unter ihre Füße nehmen. Nur ab und an durften sie ein Stück auf den Wagen mitfahren, schließlich galt es die Pferde zu schonen, denn ihr Ziel lag noch weit vor ihnen. Mit der Zeit hatte sich so etwas wie Routine eingeschlichen, und wenn wieder russische Flugzeuge erschienen flüchteten die Menschen in alle Richtungen, um den Jägern keine lohnenden Ansammlungen von Zielen zu bieten. Um ihr Hab und Gut kümmerten sie sich in solchen Momenten nicht mehr, vielmehr galt es jetzt nur noch mit heiler Haut davon zu kommen. Der Kolonnenführer, der Bürgermeister ihres Dorfes, war schon aufgrund seiner Statur eine Respektsperson, fast zwei Meter groß und mit Muskeln bepackt strahlte der Mann trotz aller Widrigkeiten eine Ruhe aus die sich auf die anderen übertrug. Peter Becker wusste, dass der Mann bei den Kämpfen in Stalingrad ein Bein verloren hatte, nicht etwa durch eine Kugel oder Granate, sondern durch den grimmigen russischen Winter. Seine Achtung vor diesem Mann wuchs noch mehr als er hörte, dass dieser mit einem schon schwarz angelaufenen und erfrorenen Bein mit anderen deutschen Soldaten auf eigene Faust aus dem Kessel ausgebrochen war. Erst nach knapp einer Woche stießen sie auf deutsche Truppen denen es nicht gelungen war, den Ring der russischen Truppen, der sich tödlich um die Stadt schloss, zu durchbrechen. Im Lazarett nahmen die Ärzte dem Mann das Bein ab um sein Leben zu retten, nach drei Monaten kehrte er in sein Dorf zurück, und da er seiner eigentlichen Arbeit als Landwirt nicht mehr nachgehen konnte wählten ihn die Menschen zum Bürgermeister und zahlten ihm gemeinsam ein schmales Geld für diese Tätigkeit.
Zusammen mit der Gemeindeschwester hatte er bei einer vorrückenden deutschen Einheit so lange auf den Kommandeur eingeredet, bis dieser ihnen widerwillig wenigstens etwas medizinisches Material zur Verfügung stellte. Das half nur bei leichten Verletzungen und alle im Treck wussten, dass diejenigen, die bei den Angriffen schwer verletzt wurden, nur geringe Chancen hatten mit dem Leben davon zu kommen. Vor gut drei Wochen waren sie gestartet, bislang hatten sie um die zwanzig Menschen begraben müssen. Vielleicht kam es ihnen auch zugute, dass ihr Weg nicht in der Hauptstoßrichtung der Russen lag und sie sich mit jedem Tag weiter von der Front entfernten. Die deutschen Truppen kämpften verzweifelt gegen die Übermacht des Gegners an, aufhalten konnten sie ihn nicht mehr, nur seinen Vormarsch verlangsamen und somit den flüchtenden Menschen etwas Zeit verschaffen.
Peter Becker war jetzt fünfzehn Jahre alt und er hatte festgestellt, dass die Truppen, denen sie begegneten, fast nur noch aus älteren Männern und Soldaten bestanden, die nur wenige Jahre mehr als er zählten. Die Uniformen ließen sie älter aussehen, aber ihre Staturen zeigten an, dass es eigentlich fast noch Kinder waren und die Frauen sahen sie mit Bedauern an. Manchmal überkam ihn der Wunsch sich den Soldaten anzuschließen und sein Land zu verteidigen, er wusste allerdings genau, dass dies nicht möglich war, seine Mutter hatte ihn und seine Schwester ohnehin immer im Blick.
Auf dem Weg nach Westen passierte der Treck Orte, in denen noch Menschen lebten. Die Einheimischen, die sich noch nicht auf die Flucht begeben hatten beäugten sie misstrauisch und Peter hatte das Gefühl, dass sie froh waren, wenn die Kolonne ihr Dorf hinter sich ließ. Einem Tauschgeschäft waren sie allerdings nicht abgeneigt, und die Flüchtlinge gaben für Nahrungsmittel Kleidung und Hausrat. Am Nachmittag dieses Tages bewegte sich der Treck durch eine leicht hügelige Waldlandschaft und der Kolonnenführer suchte bereits nach einem günstigen Ort um die Nacht zu verbringen. Keine einfache Sache, für gut dreißig Wagen und knapp einhundertfünfzig Leute einen Platz zu finden. Auf sein Zeichen hin bewegte sich der Zug weg von der Straße in einen Waldweg hinein, nach kurzer Zeit stießen sie auf eine Bereitstellung deutscher Panzer. Der Kolonnenführer stieg von seinem Wagen und ging zu den Soldaten, dann setzte sich der Pulk wieder in Bewegung und rückte an den Fahrzeuge vorbei um einen knappen halben Kilometer hinten ihnen anzuhalten, hier würden sie die Nacht verbringen.
Die Menschen ließen sich in Gruppen auf dem Boden nieder nachdem die Pferde ausgespannt waren. Erste Gespräche entspannen sich, denn nach der hinter ihnen liegenden deckungslosen Landschaft bot das dichte Dach des Waldes etwas Sicherheit vor den russischen Fliegern. Dennoch erinnerte sie das in der Ferne grollende Artilleriefeuer ständig daran, dass es nur ein Aufschub war, der ihnen hier vergönnt wurde. Die Wehrmacht stemmte sich mit allen Kräften gegen den Feind und hatte dessen Tempo in der letzten Zeit etwas vermindern können, trotzdem würden sie sich morgen wieder auf den Weg machen müssen und einen Ruhetag würde es nicht geben obwohl Menschen und Tiere erschöpft waren. Peter Becker sah wie sich eine Gruppe von Jungen in Richtung der Panzer auf den Weg machte.
„Mama, kann ich mitgehen und mir die Panzer ansehen, vielleicht haben die Soldaten auch was zu essen“ fragte er hoffnungsvoll.
Seine Mutter sah ihn müde an.
„Gut, hier kann nichts passieren, geh‘, aber in einer halben Stunde bist du wieder da, dann gibt es Essen.“
Er nickte, rannte den anderen hinterher und bald sahen sie die Posten am Weg stehen. Die beiden Soldaten hatten eingefallene Gesichter, die Strapazen tiefe Furchen in ihre Haut gegraben, dennoch sahen sie die Jungs freundlich an.
„Na, ihr Dreikäsehoch“ sprach sie einer an „was wollt ihr?“
„Wir wollen uns die Panzer ansehen“ antwortete Paul, der Älteste von ihnen, der ihr Anführer war „vielleicht fahren wir eines Tages selbst damit“.
Der andere Soldat sah ihn mitleidig an.
„Eh du dafür groß genug bist ist der Krieg vorbei. Wie alt bist du denn“ fragte er noch.
„Schon sechzehn“ erwiderte Paul mürrisch.
„Na dann pass mal auf, dass dich der Heldenklau nicht erwischt“ gab der Soldat zurück.
„Was soll das denn sein, der Heldenklau“ fragte Paul verständnislos.
„Junge, weißt du wie weit es noch bis nach Berlin ist? Noch knapp hundertfünfzig Kilometer. Die schaffen die Russen in ein paar Wochen, dann ist Schluss. Aber vorher wird hier noch alles verheizt was ein Gewehr halten kann. Vielleicht auch du, willst du das, mit einem Gewehr gegen einen Russenpanzer kämpfen? Haut lieber ab, hier gibt es für euch nichts zu sehen.“
Die Jungs gingen zum Treck zurück, Peter fragte Paul.
„Wie hat der das gemeint, bald ist Schluss“ wollte er wissen.
„Ach, der hat doch keine Ahnung, wenn jetzt die Wunderwaffen kommen sind die Russen bald besiegt“ erwiderte Paul.
„Aber die Russen sind uns doch auf den Fersen“ sagte Martin.
„Na und, irgendwann können die nicht mehr. Der Führer hat gesagt, dass wir sie an der Oder zum Stehen bringen werden“ entgegnete Paul „und ich werde alles tun, damit ich auch bald kämpfen kann“.
Peter sah ihn bewundernd an. Paul war schon im Dorf der Kräftigste und Schnellste gewesen und er konnte sich gut vorstellen, dass er auch mit einem Gewehr gut umgehen konnte, schließlich war sein Onkel Förster und der Junge hatte schon oft mit der Jagdflinte üben können.