Читать книгу Projekt Lazarus - Frank Maria Reifenberg - Страница 7
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ОглавлениеDer Mensch trägt immer seine ganze Geschichte und die Geschichte der Menschheit mit sich.
C. G. Jung (1875– 1961), Schweizer Psychiater und Begründer der analytischen Psychologie
Noah konnte sich genau daran erinnern, wann er zum ersten Mal von dieser Sache geträumt hatte. Einen blutigen Traum wie diesen vergaß man nicht. Es war vor ein paar Monaten gewesen, ganz genau wusste er es nicht. Träume kamen und gingen, die meisten blieben ihm nur für ein paar Minuten im Sinn, vor allem wenn er mitten in der Nacht von ihnen geweckt wurde.
In jener Nacht war Noah aufgewacht und wunderte sich, dass seine Mutter ihn an der Schulter gepackt und ihn fest gerüttelt hatte. Er war schweißgebadet, schrie und schlug um sich.
»Es ist nur ein Traum, Junge, wach auf. Nur ein Traum«, versuchte Mom ihn zu beruhigen. Es hatte alles so echt gewirkt, obwohl es nicht echt sein konnte. Jedes Mal, wenn dieser Traum ihn quälte, dachte er genau das: Es ist in mir, aber es kann mir nicht passiert sein. Er war nicht er selbst in diesem Traum, sondern eine andere Person. Er sah das Geschehen im Traum aus den Augen eines anderen.
Er hatte noch nie mit jemandem darüber gesprochen, auch nicht mit Maesie, mit der man über solche Dinge reden konnte. Eigentlich konnte man mit Maesie über fast alles reden, das wusste oder ahnte er, auch wenn sie ein Mädchen war. Oder gerade deshalb. Mit vierzehn Jahren musste man sich sehr genau überlegen, mit wem und worüber man mit jemandem sprach, sonst stand man vor den anderen schnell als ein Idiot da oder las kurz darauf irgendwo im Netz die peinlichsten Dinge über sich.
Moses, zum Beispiel, kam für Dinge, die einem wirklich unter die Haut gingen, als Anlaufstelle nicht infrage. Moses war ein wirklich guter Kumpel. Noah wusste, dass er sich auf ihn verlassen konnte. Wahrscheinlich würde Moses für ihn durchs Feuer gehen, aber über persönliche Dinge quatschen? Nein. Noah wusste nicht, warum das so war.
Nach ein paar Wochen, in denen ihn der Traum immer und immer wieder heimsuchte, hatte er einmal mit Charlie darüber gesprochen. Der hatte in seinem unerschöpflichen Wissen gekramt und ihm das Wichtigste über Klarträume erzählt, ein paar Fakten über Traumdeutung und alles mögliche andere, das er zu diesem Thema aus dem Netz gefischt hatte.
Maesie und Moses waren seit Noahs Umzug vor anderthalb Jahren von San Diego nach Concord die einzigen Menschen, die man irgendwie als Freunde bezeichnen konnte. Die von früher waren nach allem, was passiert war, schnell aus seinem Leben verschwunden. Vielleicht lag es an der großen Entfernung. Vielleicht aber auch daran, dass der krasse soziale Abstieg einer Familie schwer zu ertragen war.
Auf Verlierer hatten die wenigsten Bock in den Kreisen, in denen Noah und seine Eltern gelebt hatten. Und verbergen konnte man vor solchen Leuten auch nicht, dass man völlig pleite war. Wie auch, wenn man aus dem eigenen Haus geworfen wurde, weil man die Raten für den Kredit nicht mehr zahlen konnte.
Der Umzug nach Massachusetts war ein Teil dieser Bemühungen gewesen, es sollte ein neuer Anfang werden. An der Situation hatte sich jedoch nichts geändert. Ihr Geld reichte gerade eben für diesen Wohnwagen in Rondo Heights. Jeder wusste natürlich, dass es nach einem Trailerpark in dieser Gegend nur noch die Parkbank gab, weshalb Noah fast niemanden aus der Schule zu sich nach Hause einlud. Nicht einmal Maesie oder Moses, wenn es sich vermeiden ließ.
Noah konnte also fast schon dankbar sein, dass er diesen sonderbaren Traum immer noch in seiner Koje in diesem Wohnwagen träumte und nicht im Schlafsack unter einer Brücke. Und er hatte sogar gelernt, den Traum ein kleines bisschen zu verändern, nämlich so, dass er wenigstens nicht mehr schreiend aufwachte.
Ganz so dumm war die Idee von Charlie nämlich nicht gewesen, die mit den Klarträumen, in denen man sich während des Traums bewusst machte, dass man träumte. Dadurch konnte man den Traum steuern, ein wenig Einfluss nehmen. Er konnte die Person im Traum davon abbringen, sich alles anzuschauen.
Es war ein Mädchen, mit deren Augen er die Geschehnisse in dem Traum sah. Manchmal versuchte er, im Traum diesen Mann zu warnen, aber es gelang ihm nie. Den Mord konnte Noah nicht verhindern, er passierte jedes Mal.
Noah fuhr in diesem Traum im Beiwagen eines Motorrads über die Duck Creek Road in Richtung der Fort Peck Recreation Area im Bundesstaat Montana. Er konnte sich ganz genau an das Schild des Erholungsgebiets erinnern, an die Warnungen zur Waldbrandgefahr und die Hinweise, dass man hier die größten Lachse weit und breit aus dem See fischen konnte. Er war noch nie in seinem Leben so weit im Norden gewesen, fast in Kanada. Außer bei dem Trip nach Orlando ins Disney World Resort und einem Urlaub auf Hawaii war er nie über die Grenzen von Kalifornien hinausgekommen. Fort Peck lag im früheren Stammesgebiet der Assiniboine, von dem nur noch ein kleines Reservat übrig geblieben war.
Auf der Fahrt mit dem Motorrad zog rechts ein Campingplatz an ihnen vorbei, kurz dahinter begann ein Waldgebiet. Der Wind blies Noah ins Gesicht. Er spürte, wie die langen Haare, die unter seinem Helm hervorschauten, flatterten. Es waren glatte schwarze Haare. Noahs Haare im realen Leben waren rotblond, die hatte er von seinem Vater geerbt, und sie waren nie in seinem Leben so lang gewesen.
»Daddy, ich muss mal«, rief Noah mit einer Stimme, die irgendwie sonderbar war. Er formte die Worte, er spürte, wie sie aus seiner Kehle kamen. Aber es war nicht seine Stimme. Es war nicht sein Körper.
Der Fahrer des Motorrads verlangsamte die Fahrt und fuhr in einen Waldweg. Als er angehalten hatte und seinen Helm vom Kopf zog, erkannte Noah, dass das nicht sein eigener Vater war. Die Haut des Mannes war dunkler, die Haare ebenfalls pechschwarz, die Augen mandelförmig. Der Mann sagte einen Namen, den Noah nicht verstand, in einer fremden Sprache.
Er hob Noah aus dem Beiwagen und nahm ihn an der Hand. Er schaute die kleine Hand an. Ein Feuermal zeichnete sich darauf ab, und ihm wurde im Traum klar, dass er nicht dieses Mädchen sein konnte. Er hatte kein solches Feuermal, das an die Form des italienischen Stiefels erinnerte. Er war das Mädchen, und er war es doch nicht: ein Durcheinander, wie es oft in seinen Träumen vorkam. Der Vater, der nicht der seinige war, ging mit ihm auf den Wald zu. »Da drüben sieht es keiner, da kannst du Pipi machen«, sagte er.
Noah lief mit seinen kleinen Beinchen los, er mochte kaum drei oder vier Jahre alt sein und verschwand im Gebüsch. Ein paar Sekunden passierte nichts, dann hielt ein Auto neben ihrem Motorrad. Ein Mann stieg aus, nahm etwas von der Rückbank und verbarg es hinter dem Rücken.
Das war der Moment, in dem Noah klar wurde, dass er sich in einem Traum befand. Er begann im Traum zu zittern, und er wusste mittlerweile, dass er auch zu Hause zitternd im Bett lag, während er träumte.
Seine Mutter weckte ihn oft mit den Worten: »Du zitterst ja, was ist denn los, Noah?!« Das Zittern hielt manchmal noch ein oder zwei Minuten an, nachdem er aufgewacht war.
Der Vater des Mädchens im Traum drehte sich um. Er kannte den Neuankömmling, sprach ein paar Worte, während er auf ihn zuging. Er schien sogar freudig überrascht zu sein und umfasste beide Schultern des Mannes. Die beiden drehten sich ein wenig. In dem Moment sah Noah mit den Augen des Mädchens, was der Vater nicht sah: ein Messer hinter dem Rücken seines Bekannten. Dieser schien nervös zu sein, wechselte das Messer von der einen Hand in die andere. Endlich umklammerten die Finger seiner linken Hand den Griff der Waffe.
Noah schrie, um den Vater zu warnen, aber es kam kein Ton aus seiner Kehle.
Der andere Mann aus dem Auto stieß dem Motorradfahrer die lange Klinge des Messers dreimal in den Bauch. Überall war Blut. Der Mann hielt die Hände auf die Wunden, schaute sich sprachlos das Blut daran an.
Noah kam aus dem Wald gerannt. Er hatte nur Augen für seinen jetzt zusammensinkenden Vater. Den Angreifer, der in seinen roten Sportwagen stieg, nahm er kaum wahr.
Und doch sah er noch einmal kurz auf, als der Wagen auf dem Waldweg wendete und an ihm vorbeipreschte. So dicht, dass er den Traumfänger am Rückspiegel baumeln sah – kurz darauf rasten die doppelten Rallyestreifen um eine Kurve und waren verschwunden. Du musst dir das Autokennzeichen merken, dachte Noah und wusste gleichzeitig, dass das keine Überlegung war, die eine Vierjährige anstellen würde. Eine Vierjährige hätte auch nicht erkannt, dass es sich um einen 1968er Ford Mustang handelte. Und einer Vierjährigen wäre auch nicht durch den Kopf gegangen, was ihm jetzt durch den Kopf schoss: Vergiss das Kennzeichen. Du kennst den Besitzer dieser altmodischen Karre.
Dann wachte er auf.
Noah strich sich eine halbe Stunde später die vom Duschen nassen Haare aus dem Gesicht. Der Traum hing ihm dieses Mal länger nach als sonst, obwohl in der letzten Zeit die Abstände, in denen er ihn nachts durchlebte, größer geworden waren. Fast einen Monat war seit dem letzten Mal vergangen.
Charlie hatte recht gehabt. Er konnte diesen Traum beeinflussen. Allerdings wusste Noah nicht genau, wie. Es kam immer etwas anderes heraus, meistens allerdings nicht das, was er sich vornahm. Er musste sich sehr stark konzentrieren, während des Schlafs alle Kräfte bündeln, die körperlichen wie auch die geistigen. Je mehr er sich auf das Geschehen im Traum fokussieren konnte, desto mehr Einfluss hatte er. Allerdings kostete ihn das so viel Kraft, dass er den ganzen Morgen müde und zerstreut war.
Manchmal fragte Noah sich, ob dieser Traum etwas mit seinem eigenen Vater zu tun hatte. Aber nichts darin gab einen Hinweis darauf. Der Mann im Traum, der Vater des Mädchens, starb. Noahs eigener Vater war ebenfalls tot, aber er war nicht bei einem Verbrechen ums Leben gekommen. Mehr Gemeinsamkeiten gab es nicht.
In dieser Nacht war allerdings zum ersten Mal etwas aufgetaucht, das – wenn auch nur entfernt – mit Noah zu tun hatte. Nicht einmal wirklich mit ihm selbst: der Mustang, mit dem Moses herumkurvte. Seit Kurzem sogar halbwegs legal, wenn man außer Acht ließ, dass ein Sechzehnjähriger in Massachusetts eigentlich immer nur in Begleitung eines Erwachsenen fahren durfte.
Er schaltete den kleinen Fernseher auf der Anrichte ein, um nebenbei den Wetterbericht in der Morning Show auf CNBC zu sehen. Dann öffnete er mit der einen Hand den Kühlschrank und stöpselte mit der anderen das Netzteil seines Smartphones in die Steckdose.
Er musste Elijah wecken und Frühstück machen. Ein Frühstück mit seinem Bruder würde ihn auf andere Gedanken bringen. An Tagen wie diesen, aufgewühlt von diesem Traum, war es jedoch besonders schwierig, verschiedene Dinge auf einmal zu tun.
»Das nennt man Multitasking«, hatte Maesie ihm einmal erklärt und hinzugefügt: »Es stimmt übrigens nicht, dass nur Mädchen dazu in der Lage sind. Das ist bloß eure Ausrede«, behauptete sie. »Jungs sind schlichtweg zu faul, um sich auf mehr als eine Sache zu konzentrieren.«
Moses wiederum war der Meinung gewesen, weder Mädchen noch Jungen könnten das. Und es sei auch gar nicht erstrebenswert, sich einen solchen Stress zu machen.
»Sag ich doch«, hatte Maesie gesagt. »Zu faul.«
Gespräche mit Maesie und Moses verliefen oft so.
Jetzt setzte der Versuch, alles gleichzeitig zu tun, eine Kettenreaktion in Gang: Die Packung mit der Hafermilch rutschte Noah aus der Hand, er schnappte mit der anderen danach, stieß dabei aber das Smartphone auf den Boden. Das Display zerbrach, die grauweiße Hafermilch ergoss sich darüber, und Noah konnte dabei zusehen, wie das Foto auf dem Begrüßungsbildschirm zu flackern begann. Ein Selfie, auf dem Noah, seine Mutter und Elijah zu sehen waren. Eine glückliche Mutter mit zwei Söhnen, lachend, aus vergangenen Tagen, an denen alles noch in Ordnung gewesen war.
Jetzt verzerrten sich die Gesichter, Risse zogen sich kreuz und quer durch das Bild, es sah aus, als schreie Elijah. Noah stöhnte auf.
Das war ein Fall für Jimmy Butler, der zwar ein widerlicher Typ war, aber die geschicktesten Finger im Umkreis von fünfzig Meilen hatte. Er reparierte jedes Gerät und hatte immer die richtigen und vor allem die billigsten Ersatzteile. Jeder wusste, dass diese Ersatzteile in den allermeisten Fällen auf wundersame Weise von einem Lkw gefallen waren, wie Moses die Tatsache umschrieb, dass es sich schlichtweg um Diebesgut handelte.
Noah wischte das Smartphone ab. Damit war nun nichts mehr anzufangen. Er holte das Laptop aus seinem Rucksack, vergewisserte sich aber vorher, dass seine Mutter noch schlief, bevor er ihn aufklappte und sich einloggte. Er verbarg das teure Modell vor ihr, weil es auch aus Jimmys Bestand stammte. Sonst hätte Noah sich das leistungsstarke Gerät mit dem blitzschnellen Prozessor auf keinen Fall leisten können.
»Bekomme ich Schokopops?«, ertönte Elijahs verschlafene Stimme wenig später, und Noah grinste. Jah-Jah war einfach süß am frühen Morgen.
»Guten Morgen, kleiner Bruder«, antwortete Noah gespielt streng. »So viel Zeit muss sein.«
»Guten Morgen, großer Bruder«, leierte Elijah herunter und betonte dabei das ›großer‹ besonders. »Also? Schokopops? Ja oder ja?«
Ausgerechnet in diesem Augenblick flimmerte ein Werbespot für Elijahs Lieblings-Schokopops über den TV-Bildschirm. Eine glückliche Familie mit drei glücklichen Kindern und einem glücklichen Hund in einer Küche, die größer war als ihr gesamter Wohnwagen.
»Wirklich keine Schokopops heute?«, fragte Elijah in dem Tonfall, bei dem normalerweise jedes Herz schmolz und der jeden an einen Labradorwelpen denken ließ, der süß winselnd danach verlangte, auf den Arm genommen zu werden.
Noah lächelte. In letzter Zeit begann Elijah, ihn immer häufiger zu foppen, Witzchen zu reißen, so wie er es früher getan hatte. Doch Elijah kannte die Antwort, er musste sich gar keine Hoffnung machen.
Noah schüttelte den Kopf, denn er hatte längst begriffen, dass die Schokopops nur einen glücklich machten, nämlich den Lebensmittelgiganten, der sie herstellte. »Nein, keine Schokopops, Jah-Jah. Sonntags ist Schokopops-Tag, das weißt du.«
Dann schnitt Noah einen Apfel klein, schüttete den Rest der Hafermilch über das Vollkornmüsli, gab die Obststückchen dazu und rührte alles um. »Gleiches Recht für alle«, sagte er.
Noah kaute lustlos auf den Klumpen Müsli in seinem Mund herum. Wenn Noah ehrlich war, wären ihm Pfannkuchen auch viel lieber gewesen, in viel Butter gebacken triefend von goldgelbem Ahornsirup. Oder noch besser Rührei mit kross gebrutzeltem Speck.
»Jah-Jah, du willst doch keine speckige Tonne wie Mr Thornblow werden, oder?«
Elijah seufzte. »Ich bin doch gar nicht speckig. Ich wiege 42 Kilogramm bei einer Größe von genau 152 Zentimetern. Damit liege ich klar unter dem Durchschnitt von Kindern in den USA und – «
»Halt«, fuhr Noah dazwischen.
Er konnte Elijah nicht stoppen. Er leierte weiter statistische Werte herunter. Das nervte. Noah mochte das gar nicht. Das klang viel mehr nach Charlie, nicht nach Elijah.
»Stopp«, sagte Noah nun laut und deutlich.
Elijah verstummte.
»Das stimmt alles, und der Grund dafür, dass du gesund und normalgewichtig bist, ist der, dass es eben keine Schokopops zum Frühstück gibt und keine Hot&Spicy-Chips abends und – «
Elijah fiel ihm ins Wort und leierte den Rest des Satzes herunter, den er kannte: »Und keine Riders-Limo mittags. Und überhaupt nichts, was lecker ist und was alle anderen bekommen. Nur ich nicht.«
Noah liebte diese morgendliche Diskussion, weil sie so normal war und ihn von seinem Albtraum ablenkte. »Du armes unterdrücktes und von Gott und der Süßigkeiten-Fee vergessenes – WÜRSTCHEN!«
Jah-Jah lachte.
»Leise!«, ermahnte Noah und grinste. Genau dieses Lachen hatte er gebraucht.
Ihre Mutter hatte Nachtschicht an der Tankstelle gehabt, wahrscheinlich war sie erst vor einer guten Stunde nach Hause gekommen. Wenn man sie aus dem ersten Schlaf holte, hatte sie den ganzen Tag schlechte Laune.
Im Frühstücksfernsehen begrüßten die fröhlichsten Moderatoren der Welt eine Sängerin, die missmutig fragte, wie man um diese Uhrzeit so gute Laune haben konnte. Er stellte den Ton ab. Beim Blick auf die Uhr unten links neben dem Logo der Morning Show wurde ihm klar, wie spät es schon war. »Shit«, flüsterte er.
»Sagt man nicht«, rief Elijah. »Strafe in die Böse Kasse.«
Tim, der Biber aus Porzellan mit dem Schlitz oben auf dem Kopf, stand neben dem Fernseher. Elijah hatte die Spardose schon vor Jahren Böse Kasse getauft. Wenn sie voll war, wollten sie in den Burger Palace gehen und einen Double Palace Cheeseburger mit großen Pommes frites und mindestens zwei Soßen essen, so wie früher.
Beim Kramen in seiner Hosentasche fand er einen Quarter. Der Vierteldollar klimperte in die Spardose. Noah verdrehte die Augen und seufzte: »Das ist mein letzter gewesen!«
»Strafe muss sein«, sagte Elijah.
Noah verriet nicht, dass in seiner anderen Hosentasche gleich fünf Zehndollarscheine knisterten, die er für seinen neuen Job kassiert hatte. Die Diskussionen mit seiner Mutter wollte er sich ersparen. Sie hätte ihn gelöchert und am Ende ganz sicher verboten, was er seit geraumer Zeit jeden Mittwochmorgen machte. Dann würde zu allem Überfluss herauskommen, dass Noah ein bisschen mit seinem Alter geschummelt und seinen Geburtstag gute zwei Jahre vorverlegt hatte. Und die Unterschrift seiner Mutter hatte er auch gefälscht, die hätte er selbst mit sechzehn Jahren noch gebraucht.
Beim Gedanken an das Institut überlegte Noah, ob er Charlie davon erzählen sollte, was heute am Ende des Traums passiert war – von dem Mustang, dessen Besitzer er kannte. In diesem Moment klingelte das Telefon.
Moses ruft an, konnte Noah auf dem zerplatzten Display gerade noch entziffern.
Noah ging ran.
»Noah, Alter, ich … Jackie … ich hab sie …«
Mehr kam bei Noah nicht an. Nur ein paar Wortfetzen, immer wieder unterbrochen von Flüchen, unverständliches Zeug. Es schien, als habe Moses sein Telefon während der Verbindung in die Hosentasche gesteckt.
»Moses, ist alles in Ordnung?«, fragte Noah.
»Nein, verdammt«, hörte er nun plötzlich die Stimme seines Freundes klar und deutlich. »Wir müssen uns treffen, ich muss unbedingt mit dir reden, persönlich. Ich fahre gleich zu Grandpa und dann ins Institut, danach … Ach, verdammt, ich melde mich wieder!« Die Verbindung brach ab.
Noah schüttelte den Kopf. Gelegentlich war Moses ein ziemlich großer Chaot, das kannte er schon, aber dennoch war das Gespräch auch für Moses’ Verhältnisse sehr sonderbar gewesen.
Noah versuchte, die Rückruffunktion zu wählen, was mit dem gesplitterten Display erst beim dritten Mal gelang. Der Anschluss war besetzt, eine Voicemailbox sprang nicht an.