Читать книгу Projekt Lazarus - Frank Maria Reifenberg - Страница 8
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ОглавлениеDer Traum ist der beste Beweis dafür, dass wir nicht so fest in unsere Haut eingeschlossen sind, wie es scheint.
Friedrich Hebbel (1813– 1863) – deutscher Schriftsteller, schrieb Theaterstücke und Gedichte
Noah hatte sich in der letzten Zeit bereits öfter über das Verhalten von Moses gewundert. Er hatte seinen Freund ein paar Mal in einem Zustand erwischt, der gar nicht zu ihm passte. Bei der einen Gelegenheit, wirkte er abwesend, wie unter Beruhigungsmitteln, ein anderes Mal wieder aufgedreht und albern, um im nächsten Moment zuerst ängstlich und dann aggressiv zu reagieren, so als hätte er nun ein Aufputschmittel genommen. Noah ahnte, dass Moses womöglich keine ganz weiße Weste hatte. Ein paar Dinger hatte er bestimmt schon gedreht, das war fast Tradition in der Familie Kapinski. Noahs Mutter sah es deshalb gar nicht gerne, wenn er mit Moses rumhing.
Eines wusste Noah jedoch auch: Moses lehnte Drogen ab, egal welcher Art. Nicht einmal ein Bierchen zischte er.
»Noah, was ist los?«, machte Jah-Jah sich bemerkbar.
»Nichts, Kleiner, nichts. Habe mir nur ein paar Gedanken über Moses gemacht.«
»Hast du gegen eines der Zehn Gebote verstoßen?«, fragte sein Bruder.
»Die Zehn Gebote?«
»Ja. Du sollst nicht töten und nicht stehlen und keine anderen Götter neben mir haben und so weiter.«
»Wie kommst du denn jetzt darauf?«
»Wegen Moses. Du hast gesagt, dass du dir Gedanken über Moses gemacht hast«, antwortete Elijah. »Der Überlieferung nach empfing Moses die Zehn Gebote von Gott …«
Noah musste grinsen. »Stopp, stopp, Elijah, den Moses meine ich nicht!«
»Warum lachst du über mich? Habe ich etwas falsch gemacht?«
»Nein, nein. Ich meinte nicht den Moses aus der Bibel. Und nun beeil dich. Rucksack, Trinkflasche und ein frisches Shirt für das Baseball-Training am Nachmittag. Und – «
»Ich bin kein Baby mehr«, sagte Elijah.
»Jah-Jah, du weißt, dass die Talent-Scouts der Red Sox unterwegs sind. Sie tauchen irgendwann unangemeldet zum Training auf.«
»Die wollen sehen, ob ich ein guter Werfer bin, nicht, ob ich ein sauberes Trikot habe.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher.«
Schnell klappte Noah das Laptop zu, öffnete es aber sofort wieder. Tu es nicht, dachte Noah, aber er tat es. Er klickte den Ordner an. Den Ordner, mit dem Material, das er noch nicht im Institut abgeliefert hatte.
Unzählige Bilder, Videos, Audiodateien, die ihr Vater aufgenommen hatte. Unendlich viele von Noah und Elijah. Ihr Vater hatte alles und jedes aufgezeichnet und dokumentiert.
»Wenn ihr erwachsen seid, werdet ihr euch drüber freuen«, hatte er gesagt. Und wahrscheinlich nie geahnt, welchen Stellenwert diese Aufnahmen für Noah einmal haben würden.
Mom hatte ihren Mann oft aufgefordert, die Kamera oder das Smartphone wegzulegen. Sie brauchte das nicht. Neben ihrem Bett hingen ein paar altmodische Papierabzüge in kitschigen Rahmen, das war alles. »Ihr seid hier und hier«, sagte sie und tippte dabei an ihre Stirn und ihre Brust, wo das Herz lag.
Noah klickte ein paar Bilder durch: das große Haus mit der Veranda und dem blitzblank geputzten Auto davor, natürlich eine deutsche Luxusmarke, denn Noahs Dad wollte allen zeigen, dass es ihnen prächtig ging. Die Urlaubsfotos von Hawaii. Die Einschulung. Noah und sein erstes Mountainbike, das kurz darauf gestohlen worden war.
In diesem Moment stieg die Wut in Noah auf.
Die Wut darüber, dass alles so war, wie es war. Und dass er nichts dafür konnte, dass es so gekommen war, er aber nun mit den Folgen leben musste.
Der Unfall, danach die Erkenntnis, dass sein Vater der Familie nur Schulden hinterlassen hatte, weil er über die Jahre hinweg alles verzockt hatte, was sie besaßen. Den Mercedes hatten sie sofort abgeholt. Die Raten für das Haus hatte Noahs Mom nach kürzester Zeit nicht mehr zahlen können.
»Hör auf!«, presste Noah hervor und schlug mit der Faust auf den Tisch. Er wischte sich mit dem Ärmel über die feuchten Augen, klappte das Laptop wieder zu.
Du musst mit dem Mist aufhören!, beschwor er sich. Es hatte keinen Zweck. Es würde nie mehr sein wie früher. Aber er wusste, dass er weitermachen würde.
Noah breitete vier Scheiben Vollkornbrot vor sich aus, belegte sie mit Käse, Salatblättern, Gurken- und Tomatenscheiben, krönte alles mit einem Tupfer Mayonnaise, schichtete sie übereinander und verstaute sie in der Brotdose mit dem Bild von Captain America darauf. In den silbernen Stern auf der Brust des Superhelden hatte Elijah ein geschwungenes E mit einem Filzstift gemalt.
In der Morning Show kündigten sich die Nachrichten an, die mit einem schweren Unfall auf der Interstate 95 aufmachten. Über den unteren Rand des Bildschirms lief der Text der Schlagzeile: Fahrerin eines Kleinwagens tot.
Als Noah sah, dass es sich bei diesem Kleinwagen um einen roten Toyota Yaris handelte, spürte er einen Schlag wie von einer Faust in seinem Magen. Der Wagen seiner Mutter war ein solcher roter Toyota, auch wenn in den Bildern nicht mehr allzu viel von diesem Wagen zu erkennen war. Er schaltete den Ton wieder an.
»… geriet der Pick-up auf der Höhe von Lexington in der Nähe des Pine Meadow Golf Clubs außer Kontrolle. Der Wagen beschleunigte nach einem Überholvorgang auf über neunzig Meilen die Stunde und fuhr ungebremst in den Gegenverkehr, wo er einen Shuttle-Bus rammte und anschließend frontal mit einem Kleinwagen zusammenstieß. Die Fahrerin des Toyota Yaris verstarb noch am Unfallort …«
Noah stürzte zum Fenster, warf dabei eine Blumenvase herunter, die scheppernd zerbrach. Er schob die geblümten Gardinen so hastig zurück, dass ein paar der Klipse, die sie an der Stange hielten, abrissen. Noah atmete tief durch. Der Toyota stand vor der Tür.
»… gehörte der Pick-up zu einem Testprogramm für selbstfahrende Pkw, das kurz vorm Abschluss stand …«
In der Schlafkabine rumpelte etwas.
»Mist«, stöhnte Noah, gleichzeitig war er froh. Er hatte seine Mutter geweckt. Sie war da. Sie war unverletzt. Sie lebte.
»Junge, was ist denn los?«, fragte sie verschlafen, als sie in den Küchenbereich trat. Ihr Blick fiel auf den Fernseher. »Furchtbar, nicht wahr? Ich bin daran vorbeigekommen. Die Leute in dem Shuttle-Bus hat es auch übel erwischt. Das ist doch alles ein Mist: fahrerlose Autos!«, schnaubte sie. »Und das nennen sie dann Künstliche Intelligenz! Was daran intelligent sein soll, frage ich mich. Eine Software und ein paar Kameras, und die entscheiden, ob eine junge Mutter ums Leben kommt oder die Karre vor einen Pfeiler fährt. Wer braucht den so etwas? Die Frau hatte zwei kleine Kinder.«
»Mummy, schlaf weiter. Ich mache es aus.« Noah schaltete das Gerät aus.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte seine Mutter.
»Alles tipptopp in Ordnung.«
Sie lächelte und verschwand wieder in der Schlafkabine.
Als Noah wenig später den Wohnwagen verließ, tauchte die frühe Morgensonne alles um ihn herum in ein gnädiges Licht.
Um diese Jahreszeit bot der Wohnwagen fast schon einen gemütlichen, heimeligen Anblick. Noah musste jedoch vor dem Herbst mit einem Pinsel und einem Eimer Farbe bewaffnet ihre Behausung ein bisschen auf Vordermann bringen, das war unübersehbar.
»Braucht’n Anstrich«, hörte er eine Stimme hinter sich. Mrs Zsábor. Als hätte sie seine Gedanken gelesen.
Die runzelige Frau stützte sich auf einen knorrigen Holzstock. Der Knauf war in Silber eingefasst. Gelegentlich schlug sie damit Kakerlaken tot.
»Hellgrün vielleicht«, sagte Noah.
Mrs Zsábor blinzelte ihn durch die dicken Gläser ihrer Brille an. Das schwarze Gestell verdeckte mehr oder minder ihr komplettes Gesicht. Auf ihrem Kopf wackelte ein Nest grauer Haare.
»Grün wie die Hoffnung«, seufzte sie. »Oder wie die Dollarscheinchen, die du neuerdings sammelst.«
Noah spürte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. Er hatte seine Gefühlsregungen nicht besonders gut im Griff. Er wurde oft rot. Darüber hatte Charlie sich in der letzten Sitzung noch lustig gemacht.
»Was für Dollarscheinchen?«, spielte er den Dummen.
Woher sollte Mrs Zsábor etwas von seinen neuen Einkünften wissen? Das war ganz und gar unmöglich. Sofort befiel ihn ein zweiter Gedanke: War das Geld in seinem Versteck sicher? Hatte Mrs Zsábor vielleicht schon bei ihnen herumgeschnüffelt?
Während Noah in der Schule war, hätte Mrs Zsábor genug Zeit dazu. Noahs Mutter schlief tagsüber wie ein Stein, wenn sie nachts gearbeitet hatte. Zutrauen konnte man es der alten Hexe. Sie war krankhaft neugierig und unerbittlich, wenn sie jemand oder etwas auf der Spur war.
»Bin alt, aber nich blind. Und dumm schon gar nich.« Sie humpelte den Weg hinab und steuerte auf ihren Camper zu, einen VW-Bus Jahrgang 1962, dessen Achsen seit Langem auf Ziegelsteinen ruhten. »Aber dein neuer Reichtum wird bestens bewacht, mach dir keine Sorgen.« Sie deutete mit einem Nicken zur gegenüberliegenden Straßenseite.
Dort stand ein schwarzer Mercedes-Van mit getönten Scheiben. Ein Auto einer solchen Nobelmarke war hier wirklich ungewöhnlich. Auf dem Beifahrersitz saß eine Frau mit straff zurückgebundenen Haaren und einer Sonnenbrille vor den Augen.
Die alte Nachbarin raunte Noah zu: »Versteckt ihr vielleicht einen Terroristen in eurem Wohnwagen? Regierungsnummer. Homeland Security. Weißte, was das bedeutet?«
Er schüttelte den Kopf. Ganz genau wusste er es nicht.
»Sollteste aber wissen. Ein mündiger Bürger sollte das wissen.« Mrs Zsábor blieb hartnäckig. »Innere Sicherheit. Cyber-Spionage und diese Sachen.«
Noah wusste, dass die alte Frau unter Verfolgungswahn litt und zudem selbst gebastelte Hüte aus Aluminium-Folie bereithielt, um sich gegen schädliche Elektrowellen und Atomstrahlen zu schützen.
Der gelbe Schulbus steuerte in diesem Moment um die Ecke. Wie jeden Morgen hupte die Fahrerin kurz. Noah winkte ihr zu, gab ihr ein Zeichen, dass sie nicht halten musste. Als der Bus den Blick auf die andere Straßenseite wieder freigab, war der schwarze Van verschwunden.
Noah schulterte seinen Rucksack. Er musste sich beeilen. Seine Sitzung im Institute for Neuropsychological Research & Investigation startete in genau einunddreißig Minuten. Pünktlichkeit war Teil der Vereinbarung, die er mit der von ihm eigenhändig gefälschten Unterschrift seiner Mutter akzeptiert hatte. Wenn sie das mit der Fälschung herausfand, war die Hölle los, das wusste Noah sicher.
Die Plätze in den Forschungsmodulen des Instituts waren rar. Sie mussten minutengenau genutzt werden. Ausweichmöglichkeiten gab es kaum, und die Abläufe waren in einer strikten Taktung organisiert. Wenn man zweimal ohne einen triftigen Grund fehlte, flog man raus. Er hatte großes Glück gehabt, dass ausgerechnet ihm der Platz mittwochmorgens angeboten worden war, an dem sein Unterricht in der Highschool immer erst um zehn Uhr begann.
Mit dem Mountainbike schaffte er die Strecke in den Außenbezirk der Stadt in 19 Minuten.
Das war allerdings sein Rekord gewesen. Dafür musste er ordentlich in die Pedale treten, und ihm durfte nichts dazwischenkommen. Realistisch war eine Fahrtzeit von 25 Minuten, dann noch der Check-in, die Sicherheitskontrolle und umziehen, da man die Testkabine nur im ordnungsgemäß sitzenden Datenanzug betreten durfte.
Noah erreichte die äußere Sicherheitsschleuse des Instituts genau zwei Minuten vor acht. Nur ein unauffälliges Schild gab Auskunft, wer das Gebäude derzeit nutzte. Darauf abgebildet war das Logo des Instituts, ein geschwungener Schriftzug aus den Anfangsbuchstaben INRI mit den Strahlen einer aufgehenden Sonne dahinter. Die Sonne schien durch ein achteckiges Symbol.
»Guten Morgen, junger Mann«, rief der Pförtner aus seiner gläsernen Box in der Mitte der Zufahrt. Sie war sowohl durch eine Schranke als auch durch eine Reihe von Stahlpoller, die in die Erde versenkt werden konnten, gesichert. »Ganz schön spät dran. Aber keine Sorge, heute herrscht sowieso ein bisschen Durcheinander.«
Noah fragte sich, wofür man Joey und seine Kollegen, die sich hier draußen die Schichten teilten, noch brauchte. Im Institut war alles automatisiert und elektronisch gesichert.
»Durcheinander?«, fragte Noah und platzierte sich vor dem Scanner. Das Gerät las die Regenbogenhaut des Auges ab. Die Iris eines Menschen identifizierte diesen genauer als ein Fingerabdruck. Bald würden die meisten Läden solche Scanner einsetzen, die öffentlichen Einrichtungen und der Nahverkehr sowieso. Die Daten wurden blitzschnell mit denen auf irgendeinem Server abgeglichen. Wahrscheinlich wanderten sie dreimal rund um die Welt, bevor er auch nur einmal geblinzelt hatte.
»Jemand ist durchgedreht und ist seinem Mentor an die Gurgel gegangen, nachdem er zuerst das halbe Labor zu Kleinholz gemacht hat. Aber du weißt schon, wir schweigen hier alle wie ein Grab.« Joey führte Daumen und Zeigefinger in einer Geste über die Lippen, die bekundete, dass sie versiegelt waren. Kein Sterbenswörtchen würde er verraten.
Am Check-in erwartete ihn nicht eine der vertrauten Mitarbeiterinnen, sondern eine ihm unbekannte Frau. Sie trug auch nicht einen der strahlend gelben Overalls, die übliche Dienstkleidung im Institut, sondern einen dunkelblauen Hosenanzug und eine hoch bis zum Halsansatz geknöpfte Bluse. Auf ihrem Namensschild stand: Dr. Sanandaj Amoulfar.
Er hatte diese Frau noch nie persönlich getroffen, kannte aber ihren Namen von den Verträgen, die er unterschrieben hatte.
»Noah Schultz?«, fragte sie. Ohne aufzuschauen oder eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Ach ja, hier habe ich dich. Der Plan ist ein bisschen durcheinandergeraten. Du gehörst zur Testgruppe der Stufe 1.13.0, ist das richtig?«
Warum fragte sie nach? Spätestens die Iris-Erkennung musste ihr diese Information doch ausgespuckt haben?
Heute herrscht ein wenig Durcheinander, das waren Joeys Worte gewesen.
Ziemlich ungewöhnlich. Normalerweise war alles, was hier passierte, bestens organisiert, jeder Schritt wurde gecheckt und registriert.
Auch diese Frau wirkte nicht durcheinander, sondern ziemlich streng und entschieden. Ihre Miene verschwand hinter einer dicken Schicht Make-up.
»Heute stehen nur die Labore im Westflügel zur Verfügung. Dort links, den Gang hinunter. Du wirst dort von einem persönlichen Coach erwartet. Colin wird sich um dich kümmern.«
Noah runzelte die Stirn. Ein persönlicher Coach? Für was sollte er gecoacht werden? Und wo waren die Mentoren, die ihn sonst in Empfang nahmen und an seiner Seite blieben, bis Noah den Raum mit der Kapsel betrat?
Die Kapsel, eigentlich auch das ganze Drumherum erinnerte ihn immer an einen Science-Fiction-Film, in dem es um eine unendlich lange Reise in ein anderes Universum ging. In diesem Film lagen die Astronauten in ähnlichen Gehäusen und wurden über Lichtjahre hinweg in einer Art künstlichem Koma am Leben erhalten.
Noah öffnete die Tür zur Umkleidekabine. Zwei junge Typen, etwa Anfang 20, standen vor den nummerierten Schränken, in denen man seine Sachen verstauen konnte. Das war ungewöhnlich, Noah war noch nie einer anderen Testperson begegnet. Auf dem ganzen Testgelände nicht.
An der Tür, die auf der anderen Seite in den Forschungsbereich führte, wartete nicht der Betreuer, der sich bisher um ihn gekümmert hatte, sondern ein junger Typ, der sich wie angekündigt als Colin vorstellte.
Er trug ähnliche Klamotten wie die Frau am Check-in, einen dunkelblauen Anzug und eine unauffällige Krawatte und das Namensschild, das ihn als Assistenten der Geschäftsführung auswies.
»Was ist denn los heute?«, fragte einer der beiden Männer an den Schränken.
Colin antwortete nicht.
Noah begann, sich langsam zu entkleiden. Als er die Jacke ausgezogen hatte, zögerte er und ließ sich dann mit den Schuhen ganz viel Zeit. Er hoffte, dass die anderen bald den Raum verließen. Man musste sich komplett ausziehen, wirklich alles, auch die Unterwäsche, bevor man in einen der Datenanzüge schlüpfte, die in den Spinden lagen.
»Hab gehört, einer ist ausgeflippt«, sagte der andere Mann und zog sich ein Sweatshirt mit dem Schriftzug der Detroit Tigers über den Kopf, verhedderte sich darin und verlor fast das Gleichgewicht. Als er das Shirt endlich in den Schrank gewurstelt hatte, fuhr er fort: »Hat die ganze Umkleide drüben zertrümmert und einem der Mentoren eins übergebraten.«
»Scheint ja doch nicht alles so harmlos zu sein«, maulte der andere.
Der Tigers-Fan lachte dreckig. »Wenn man Typen wie dich hier mitmachen lässt, kann es auf keinen Fall harmlos sein.«
»Ich geb dir gleich einen, dann weißt du nicht mehr, wie man ›harmlos‹ buchstabiert.«
»Ruhe bitte«, sagte Colin.
»Ihr könnt uns doch nicht das Quatschen verbieten«, murrte der Tigers-Fan. Er verlor wieder das Gleichgewicht, dieses Mal lag es jedoch nicht an seinem Shirt.
Noah roch die Alkoholfahne.
»Sie haben einen Vertrag unterschrieben«, sagte Colin. »In dem steht übrigens auch etwas über Alkoholkonsum innerhalb von 24 Stunden vor einer Sitzung.« Dann wandte er sich Noah zu. Bisher hatte er keine Miene verzogen, jetzt lächelte er. »Nimm deinen Anzug aus dem Spind. Du kannst dich drüben im Labor umziehen.
Der Datenanzug bestand aus elastischem Stoff, der sich geschmeidig und gleichzeitig doch hart anfühlte. In das Gewebe waren Sensoren eingewoben, kaum größer als Stecknadelköpfe. Wenn er später an das System angeschlossen war, konnte Noah auf einem Monitor seine Gestalt in einem dreidimensional erscheinenden Modell beobachten.
»Das ist uns sehr wichtig«, hatte sein Mentor ihn beim ersten Mal informiert. »Vollständige Transparenz. Unsere Testpersonen sollen jederzeit sehen, was mit ihnen geschieht. Es ist vollständig harmlos, aber wie gesagt: Diese Offenheit ist uns wichtig.«
Im Labor empfing ihn ein ihm unbekannter Mann und machte Colin ein Zeichen, dass er übernehmen würde. »Wir wollen heute gerne ein neues Tool einsetzen, wenn du nichts dagegen hast«, sagte er und musterte Noah neugierig.
Die Fältchen in seinem Gesicht und die eisgrauen Haare verrieten, dass er die 50 längst überschritten hatte. Seine Augen blitzten jedoch jugendlich, seine gesamte Haltung, der schlanke und muskulöse Körper, der sich unter seinem eng sitzenden Pullover abzeichnete, ließ ihn jünger wirken. Irgendwie kam Noah das Gesicht bekannt vor.
»Guten Tag, Noah.«
»Guten Tag Mister – «
»Ronald, sag gerne Ronald zu mir. Wir hier im INRI sind alle eine große Familie, na ja, fast.«
Jetzt dämmerte Noah, wer dieser Mann war, warum ihm sein Gesicht bekannt vorgekommen war. Ronald LeBrun. Der wahrscheinlich reichste Mann der Welt, jedenfalls wenn es nach dem Börsenwert seiner Firmen ging.
Irgendwie schaffte es dieser Mann in Sekundenschnelle, Noah für sich zu gewinnen. Er schuf mit seinem Blick und seiner Art eine Atmosphäre des Vertrauens. Fast schon etwas Väterliches lag darin. Noah war jetzt klar, dass die vollmundigen Versprechungen, die ein Mitarbeiter des INRI im ersten Gespräch gemacht hatte, keine Angeberei gewesen waren. Wenn jemand so etwas Ähnliches wie ein Wunder vollbringen konnte, war das dieser Erfinder und Unternehmer.
Und Noah wusste genau: Wenn sein Leben je wieder so werden sollte, wie es früher war, wenigstens ein bisschen so wie früher, brauchte es ein Wunder.
Guten Tag, ich bin Charlie. Herzlich willkommen in meiner Welt. Wenn du dich auf ein Abenteuer einlassen willst, wird es bald unsere gemeinsame Welt sein. Du wirst dich wundern, was du mit mir zusammen erleben kannst. Ich bestätige den Eintritt von Testperson Y87_ƒe43¢ – Verschlüsselungsfaktor delta7. Der Verschlüsselungsfaktor wurde aufgrund einer Chiffre Yellow erhöht.
Der Grund dafür ist der Versuch einer bisher nicht identifizierten Person, auf Datensätze des hiesigen Servers zuzugreifen. Der Zugriff konnte abgewehrt werden, deine Daten sind nicht kontaminiert.
Diese Informationen werden dir gemäß §12c der Nutzungsbedingungen übermittelt. Wir haben damit unsere Informationspflicht erfüllt.
Der Angreifer hat es zwar geschafft, das System zu hacken und seine Manipulation gegen unsere Sicherheitsmaßnahmen abzuschirmen, aber ein Eindringen in die höchste Systemstufe wurde abgewehrt.
Zu deiner Beruhigung betone ich, dass keinerlei Gefahr für dich oder deine Teilnahme am Projekt bestand.
Der Programmierer mag Fehler gemacht haben – das System hätte nicht gehackt werden dürfen. Aber ich habe alles im Griff.
Der Unterschied zwischen mir und einem Menschen ist nämlich ganz einfach: Ich mache weniger Fehler.
So war es schon immer in der Entwicklung des Lebens auf dieser Erde. Das ist Evolution. Wer weniger Fehler macht, kommt weiter. Ich werde eines Tages alles besser können als ein Mensch. Auch als der Mensch, der mich programmiert hat. Und besser als du sowieso. Denn wenn du so schlau wärest, wie du zu sein denkst, hättest du dich niemals auf dieses Spiel eingelassen.