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Die Entfaltung der Sinne: erst 5, dann 9, jetzt 12

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Den Sinnen hast du dann zu trauen, Kein Falsches lassen sie dich schauen, Wenn dein Verstand dich wach erhält. Mit frischem Blick bemerke freudig Und wandle, sicher wie geschmeidig, Durch Auen reichbegabter Welt.

Vermächtnis, Johann Wolfgang von Goethe

Versuchen wir nun, Corona zunehmend »sinnvoll« und weniger mathematisch zu verstehen. Wir verabschieden uns dabei von der mehr technischen Herangehensweise an Corona und suchen den Schwerpunkt der Erkrankung eher wie Aristoteles ganz empirisch in den genauen Symptomen, die sich uns an Covid-19-Patienten zeigen.

In dem Spruch von Goethe, dem Sinnesmenschen par excellence, ist schon klar darauf hingewiesen, was die Sinne uns ermöglichen: Sie sind unsere Tore zur Welt und lassen uns diese Welt in unterschiedlicher Weise erleben. Je intensiver wir die Welt mit allen Sinnen erfassen, umso umfassender wird unsere Sinneserfahrung. Wahrnehmungen der Sinnesorgane machen wir immer im Zeitmodus der Gegenwart. Auch spüren wir hier nicht der Krankheit und den Bestätigungen der Pathologie nach, sondern den konkreten Wahrnehmungen an den im Hier und Jetzt vor uns stehenden oder liegenden Patienten. Es geht um das individuelle Kranksein.

In der Regel unterscheiden wir nur fünf klassische Sinne. Sie sind unsere Tore zur Außenwelt:

•das Sehen (visuelle Wahrnehmung)

•das Hören (auditive Wahrnehmung)

•das Riechen (olfaktorische Wahrnehmung)

•das Schmecken (gustatorische Wahrnehmung)

•das Tasten (haptische Wahrnehmung)

Der Philosoph Aristoteles (384–322 v. Chr.) gibt eine erste Darstellung der Sinnesphysiologie in seinem Werk Über die Seele. Er betont die Anzahl der fünf Sinne und legt ihre Reihenfolge fest: erst das Gesicht, dann Gehör, Geruch und Geschmack und zuletzt den Tastsinn.

Die Sinne sind unsere Tore zur Welt, aber nicht nur zur Welt, parallel auch zu unserer Person. Jeder Sinn vermittelt Qualitäten, die uns selber seelisch stärken (Soesman 1995).

So schenkt uns der Tastsinn das Gefühl für unsere eigene »Begrenztheit«, dass wir ein Etwas sind und nicht ein Nichts. Der Tastsinn gibt andererseits das Gefühl der Geborgenheit im zärtlichen Berühren. Er bildet so die Grundlage für Vertrauen.

Der Hörsinn schenkt uns die Tonerlebnisse, ist aber auch Türöffner für den seelischen Innenraum.

Der Sehsinn vermittelt uns das Hell und Dunkel sowie das Farbenerleben, schenkt aber auch »erhellende« Erlebnisse im Inneren und hier vor allem im Denken.

Der Geruchssinn gibt uns Aufschluss über das Innere von Gegenständen, mehr noch von Pflanzen und Tieren. Nach innen hin ist er dadurch unser Erzieher zur Beherrschung von Sympathie oder Antipathie.

Der Geschmackssinn wirkt ähnlich. Er gibt uns Kunde von den inneren Qualitäten der Speisen im Flüssigen. Da wir nur selten Speisen einnehmen, die uns unsympathisch berühren, agiert er stärker mit Sympathie und weniger mit Antipathie in der Aufnahme der Genussmittel dieser Welt.

In den letzten zweihundert Jahren hat die Physiologie am Menschen vier weitere Sinne entdeckt, die sich mehr ins Körperinnere erstrecken und so die (gestörte) Welt unseres Körperinneren wahrnehmen lassen. Es sind dies:

•der Wärmesinn (Thermozeption)

•die Schmerzempfindung (Nozizeption)

•der Gleichgewichtssinn (vestibuläre Wahrnehmung)

•der Muskelsinn (Tiefensensibilität oder Körperempfindung, Propriozeption)

Diese Sinne werden noch heute als subjektiv betrachtet. Dabei geben sie uns objektiv Bericht von unserem Körperzustand – eben eine ganz reale Wahrnehmung des Körperinneren. Es ist ein grundlegender Irrtum der Moderne, dass sie hier eine Subjekt-Objekt-Spaltung vornimmt, die nicht haltbar ist. Auch die angeblich subjektiven Sinne sind durchaus objektiv wirkend und haben wie die äußeren Sinne nur eine Aufgabe: wahrnehmen! Insofern gibt es keine Subjekt-Objekt-Spaltung, die die Philosophiegeschichte so lange postulierte, sondern nur zwei charakteristische Fähigkeiten des Menschen: Wahrnehmung (nach außen oder nach innen) und Begriffsbildung. Der Mensch kann die Wahrnehmung durch stetes Üben der einzelnen Sinne stärken – wie auch die Begriffsbildung durch Gedankenschulung.

Der Wärmesinn lässt uns den eigenen Körper und die Umwelt mit dem Jahreskreislauf in seinen Wärme- und Kälteverhältnissen erleben. Er bildet aber auch die Grundlage für die sozialen Fähigkeiten. Ob wir mit jemanden warm werden oder wir in sozialer Kälte leben, hat ganz erhebliche Auswirkungen.

Ähnlich ist es bei der Nozizeption, dem Schmerzempfinden. Dieser Sinn ist über den ganzen Körper ausgebreitet und gibt uns Mitteilung in Form von Wohlbefinden, mehr aber von Schmerzen. Schmerzen führen zu einem Bewusstsein des eigenen Körpers oder bestimmter Körperteile, ist letztlich gesteigertes körperbetontes Selbst-Bewusstsein. Er macht uns unsere inneren Grenzen als Menschen bewusst. Ohne den Umgang mit Schmerz könnte und würde sich der Mensch nicht weiterentwickeln. Der Umgang mit diesem Sinn lehrt uns in einem gesteigerten Sinn, die Verletzlichkeit der Welt wahrzunehmen und Mitleid zu entwickeln.

Der Gleichgewichtssinn führt zum Erleben der Lage im physischen Raum, zur Bildung der Mitte zwischen links und rechts, oben und unten, vorne und hinten. Dieses ist die Grundlage für die Bewahrung eines inneren Gleichgewichts auch in seelischen Notlagen. Kann ein seelischer Gleichgewichtspunkt nicht gefunden werden, resultieren daraus Schwindel und tiefe körperliche und seelische Unsicherheit. Der Gleichgewichtssinn schenkt uns unseren eigenen Standpunkt, die Sicherheit im physischen Sein.

Der Muskelsinn lässt uns die Stellung der Gelenke im Raum innerlich wahrnehmen, gibt Kunde von der Selbst-Beherrschung der jeweiligen Bewegung. Er bildet damit die Grundlage für das Erlebnis der menschlichen Freiheit und von Selbstbeherrschung.

Was aber schon die klassischen Sinne von den neueren unterscheidet, das ist der Bewusstseinsgrad: »Man kann also eine Skala von Sinnesorganen aufstellen, die auf dem Umfang der spezifischen Leistungen und dem jeweiligen Bewusstseinsgrad basiert: An oberster Stelle dieser Reihe würden dann das Seh- und das Gehörorgan stehen. Etwas weniger differenziert sind dann schon Geruchs- und Geschmacksorgan, wie auch die verschiedenen Hautsinnesorgane, die neben Tast-, Druck-, und Vibrationsempfinden auch Temperaturunterschiede und Schmerzsensationen vermitteln. Am unteren Ende der Skala würden die Sinnesorgane des Körperinneren stehen, die ganz unbewusst arbeiten und nur für die Regulation elementarer Lebensprozesse wie zum Beispiel Osmo-, Chemo- oder Blutdruckregulationen verantwortlich sind.« (Rohen 2000) Sinnesorgane sind Innenwelt-orientiert, eher unbewusst und mehr bei Störungen, das heißt Erkrankungen, erlebbar. Rohen bezeichnet diese als Nachtsinne. Es gibt dann Sinne, die sowohl nach innen wie nach außen vermitteln und in der Regel halbbewusst funktionieren wie der Gleichgewichtssinn oder der Muskelsinn. Mit gesteigerter wacher Bewusstseinsfähigkeit gehen Hör- und Sehsinn einher. Fast schon überbewusst sind dann drei Sinne, die Rudolf Steiner in die Sinneslehre eingeführt hat und so das Spektrum der Sinne auf zwölf Sinne erweiterte (Steiner 2017). Die fehlenden drei Sinne sind:

• der Sprachsinn

• der Denksinn

• der Ich-Sinn

Diese fehlenden Sinne sind nicht auf die Wahrnehmung der Innen- und Außenwelt, sondern auf die Wahrnehmung rein geistiger Inhalte gelenkt – und bedürfen der vollbewussten Wachheit gegenüber dem Wesen eines Wortes, eines Gedankens und noch mehr eines anderen »Ich«. Bisher ist eine konkrete Lokalisation dieser Sinne – zum Beispiel auf ein spezifisches Organ – nicht gefunden worden. Sie scheinen mehr »synthetische« Sinne zu sein, die sich im ganzen Körper befinden. Andererseits sind zumindest bestimmte Areale im Gehirn mit diesen Sinnen korreliert, besonders beim Sprach- und Denksinn.

Eine Störung des Sprach- und Denksinnes ist vor allem nach einem Schlaganfall ersichtlich. Dabei wird zwischen einer Einschränkung der Sprachproduktion, der Broca-Aphasie, und einer Einschränkung des Sprachverständnisses, der Wernicke-Aphasie, unterschieden. Gerade bei dieser Erkrankung ist eine Unterscheidung zwischen Sprach- und Denksinn grundlegend.

Wundern wird sich der moderne Mensch über einen »IchSinn«. Doch auch hier ist das 20./21. Jahrhundert voll von Beispielen, dass ein Ich-Sinn wirklich notwendig geworden ist. Dies wird erkenntlich an Menschen, denen dieser Sinn zu fehlen schien wie Hitler, Stalin und zahlreichen anderen Diktatoren des 20. Jahrhunderts. Andererseits ist auch das 21. Jahrhundert beängstigend gefüllt mit Menschen, denen dieser Sinn abgeht. Die Neuzeit sieht eine bedrohliche Welle an Narzissten heranwachsen, die nur sich kennen und dem Du kaum eine Chance geben.

Wie erhebend ist es hingegen, wenn dich ein anderer Mensch im Innersten erkennt und eine Ich-Du-Beziehung aufzubauen vermag – mit Einfühlungsvermögen, Respekt und Achtung vor dem anderen. Martin Buber hat sich um die Pflege dieses Sinnes besonders verdient gemacht (Buber 1997).

Johannes Rohen hat neun Sinne bildlich dargestellt: vom Ursprung aus dem unbewussten, undifferenzierten Schmerz-Erleben bis zu den höchsten Sinnen. Die Sinne haben sich evolutionär langsam aus den dumpfesten (Schmerz-)Empfindungen über die Eingeweidesinne und die Hautsinne hin zur Welt erst geöffnet. Sie wirken aber als Integral, also fast immer gemeinsam. So ist kaum ein Tasterlebnis ohne eine Eigenbewegung des Fingers und des Wärmesinns möglich. Nutzen wir unsere Augen, suchen wir dabei aber gleich auch ein Gleichgewicht herzustellen, »ertasten« mit den Augen die Umgebung usf.

Die Sinne nach Johannes Rohen (nach Rohen 2000)


Zusammenfassend sei noch einmal Goethe zitiert: »Die Sinne trügen nicht, das Urteil trügt« (aus: Maximen und Reflexionen).

Der Mensch ist in der unterschiedlichsten Weise in die Welt eingespannt, aber immer geben ihm die Sinne Kunde von der Welt – und sind so primär für ein originäres Weltverständnis. Insofern sollte es oberstes Prinzip der Medizin sein, sich auch Covid-19 sinn-voll zu erarbeiten. Bisher haben wir uns dem Verständnis von Covid-19 mehr untersinnlich-technisch als Krankheit genähert. Nun wollen wir die Sinne in Richtung auf das konkrete Kranksein lenken.

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