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Wege zum Verständnis von COVID-19 Die Sinnkrise der neuzeitlichen Medizin

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Es mag merkwürdig klingen, aber gerade die moderne Medizin steckt in einer Sinnkrise. Dabei hat sie es enorm weit gebracht und uns ein schier unerschöpfliches Repertoire an Möglichkeiten der Diagnostik und Therapie gegeben. Noch nie wurden wir so alt, oft auch gesund alt. Noch nie war so schnell ein Arzt zur Stelle, der zu helfen vermag, und noch nie wurde für all das so viel Geld ausgegeben. Wollen wir das alles missen? Natürlich nicht – und dennoch: Immer mehr Menschen haben das Gefühl, dass sie von ihrem Arzt nicht ganzheitlich, sondern nur in Teilbereichen betrachtet werden und dass er ihnen nicht wirklich zuhört. Kein Wunder, dass sich bei den zwei bedeutendsten Sinnen des Menschen – Hören und Sehen – viele Patienten nicht richtig wahrgenommen fühlen.

Moderne Medizinausbildung ist eben keine Entfaltung der Sinne (Kükelhaus 2008), sondern eher das Gegenteil: ein Misstrauen in die Fähigkeit der eigenen Sinne. Stattdessen – und um maximal objektiv zu sein – erfolgt ein Transfer der menschlichen Sinnesleistung auf technische Apparate. Vergessen wird hierbei, dass ein spezifischer Teil der menschlichen Sinnesleistung verloren geht. Beispiele: Ein CT oder MRT kennt keine Farben, höchstens nachträgliche Einfärbungen; der Ultraschall hört sehr genau, aber eben nur in einem gewissen Frequenzbereich; das Elektronenmikroskop tastet Zellbestandteile ab, aber ohne Gefühl für hart und weich.

Wir können es aber auch positiv sehen: Fortschritt bedeutet dann eine technische Erweiterung des Erfahrungsfeldes der Sinne, bedeutet den Aufbruch in Dimensionen, die der primären Wahrnehmung nicht zugänglich waren – und ermöglicht die Verlegung der Ursache einer Erkrankung in bisher nicht zugängliche primäre Regionen. Ursprünglich war es der ganze Mensch, der erkrankte, dann wurden Organsysteme ins Auge gefasst, später Organe, dann – seit Ende des 19. Jahrhunderts – die einzelnen Zellen und ihre Pathologie, und heute sind es Fragmente der Erbsubstanz, DNA- oder RNA-Viren.

Was nicht messbar, wägbar, zählbar ist,

wird ausgeschlossen

Die moderne Medizin verlagert die Ursache einer Erkrankung immer weiter in Strukturen jenseits der sinnlichen Wahrnehmungen. Sie kann das tun, weil sie sich von den primären Sinnen unabhängig macht und in den erweiterten »Sinnen« der Maschinen Dinge »sieht« und »hört«, die objektiver und glaubwürdiger erscheinen als das weite Feld der primären Sinneserfahrungen, das manchmal verwirrend wirken kann.

Der renommierte deutsche Physiker und Philosoph C. F. von Weizsäcker schrieb dazu: »Die neuzeitliche Naturwissenschaft hat ihren eigenen historischen Mythos. Es ist der Mythos von Galilei: Dieser Mythos versichert, man habe im dunklen Mittelalter die Spekulationen des Aristoteles hochgeschätzt, die sich um Beobachtungen nicht kümmerten, aber Galilei habe der Wissenschaft die Bahn gebrochen, indem er die Welt so beschrieb, wie wir sie wirklich erfahren. Wie jeder Mythos drückt auch dieser ein Stückchen Wahrheit aus; sicher hat er recht mit der hohen Schätzung Galileis. Aber er entstellt vollkommen die Natur von Galileis wahrer Leistung. Ich wäre bereit, diese Leistung zu charakterisieren, indem ich in jedem Punkt genau das Gegenteil des Mythos ausspräche. Daher sage ich: Das späte Mittelalter war in keiner Weise ein dunkles Zeitalter; es war eine Zeit hoher Kultur, von gedanklicher Energie sprühend. Jene Zeit übernahm die Philosophie des Aristoteles, weil er sich mehr als irgendein anderer der sinnlichen Wirklichkeit annahm. Aber die Hauptschwäche des Aristoteles war, dass er zu empirisch war. Deshalb brachte er es nicht zu einer mathematischen Theorie der Natur. Galilei tat seinen großen Schritt, indem er wagte, die Welt so zu beschreiben, wie wir sie nicht erfahren. Er stellte Gesetze auf, die in der Form, in der er sie aussprach, niemals in der wirklichen Erfahrung gelten und die darum niemals durch irgendeine einzelne Beobachtung bestätigt werden können, die aber dafür mathematisch einfach sind.« (von Weizsäcker 1976) Es geht also um ein mathematisches Verständnis der Welt – und das ist der Grundzug, der seit Kepler und Galilei den Duktus der Forschung bestimmt.

Modell des Sonnensystems als in sich verschachtelte platonische Körper in Keplers Mysterium Cosmographicum (1596)


Ähnlich äußert sich der berühmte englische Biologe Rupert Sheldrake: »Kepler glaubte, dass die sinnliche Erkenntnis der Dinge dunkel, unklar und unzuverlässig sei. Gewissheit der Erkenntnis liegt für ihn ausschließlich in den quantitativen Zügen der Welt. Die wirkliche Welt besteht allein in der mathematischen Harmonie, die in den Dingen liegt. Die sich wandelnden Qualitäten der Dinge, die wir sinnlich wahrnehmen können, bilden eine niedere Ebene der Wirklichkeit, besitzen kein wahrhaftes Sein.« (Sheldrake 1993)

Sheldrake zu Galilei: »Geschmack, Geruch und Farbe eines Gegenstandes, die in diesem Gegenstand zu existieren scheinen, sind nichts als bloße Namen und haben ihren Ort einzig und allein in dem empfindenden Körper; wird dieser entfernt, so werden damit auch alle diese Qualitäten zunichte. Diese Unterscheidung war von großer Bedeutung für die weitere Entwicklung der Naturwissenschaft, denn sie leitet die Verbannung der unmittelbaren Erfahrung aus dem Reich der Natur ein. Bis zu Galilei hatte es als selbstverständlich gegolten, dass Mensch und Natur Teile eines größeren Ganzen seien. Jetzt wurden alle Aspekte der Erfahrung, die sich nicht auf mathematische Prinzipien zurückführen ließen, die nicht messbar, wägbar, zählbar sind, aus der objektiven, äußeren Welt ausgeschlossen. Als die einzige Gemeinsamkeit zwischen den Menschen und dem mathematischen Universum blieb die Fähigkeit des Menschen übrig, die mathematische Ordnung der Dinge zu erfassen.« (Sheldrake 1993)

Immer kleiner, immer unklarer

Beim Blick in die Tiefen des menschlichen Organismus werden wir aber nicht nur »mathematischer«, wir erleiden auch einen Dimensionsverlust. Menschsein bedeutet eigentlich ein Angelegtsein auf »Sein und Zeit« (Martin Heidegger), ein Leben als Zeitwesen – und verlangt damit ein Interesse für die Entwicklung einer Erkrankung. Leider haben wir dafür höchstens in der Psychosomatik noch Zeit. Auf der Suche nach Fakten wird der »Mensch als Zeitwesen« in der Regel ausgeblendet, beginnt wissenschaftliche Medizin mit der Untersuchung des Körpers. Alsbald wird die Dreidimensionalität des Körpers verlassen und auf die Schnittbild-Ebene von Ultraschall, CT und MRT (Kernspintomografie) zurückgegriffen. Diese zweidimensionale Schnittbild-Ebene bedeutet aber den Verlust der vorherigen Dreidimensionalität, die erst künstlich wieder erzeugt werden muss. Auch die farbliche Vielfältigkeit des Lebens leidet. Sie kann zwar künstlich ergänzt werden, ist aber primär nicht mehr erfahrbar. So landete die Medizin früher bei der Organpathologie, seit Virchow bei den Zellen und in unserem neuen Jahrtausend mehr und mehr bei der Erbsubstanz und den Viren, diesen fast schon punktförmigen eindimensionalen Gebilden.

Doch selbst die Viren sind noch zu komplex für die modernen Untersuchungsmethoden. Eine wesentliche Untersuchung, die bei Covid-19 zentral ist, ist die PCR, die Polymerase-chain-reaction, bei der nur einzelne Gen-Sequenzen, also Moleküle, nachgewiesen werden. So kommen die »Fälle« in der Corona-Statistik zustande, von denen niemand sagen kann, worum es sich denn eigentlich handelt, um infizierte, ansteckende, kranke oder gesunde Menschen. Hier erscheint der Reduktionismus auf die Spitze getrieben. Bei der PCR handelt es sich um eine reduktionistische Simulation des Geruchssinns, bei dem es ebenfalls Moleküle sind, die mit dem Sinnesorgan reagieren und einen Reiz auslösen. Die PCR wird in der Kriminologie eingesetzt, um einen »genetischen Fingerabdruck« zu erheben, und ersetzt dort vielfach die Nase des Spürhundes. So hilfreich ein PCR-Test im Einzelfall sein kann, um beispielsweise einen Verdacht zu bestätigen oder einen Verlauf zu beurteilen, so sehr können die bei Massentestungen erhobenen Zahlen ins Nebulöse führen, wenn über die getesteten Menschen gar nichts bekannt ist.

Der Mensch in Sein und Zeit, modifiziert nach K. Dumke (Dumke 1988)


Sinnesverlust in der modernen Medizin. Spezifikation des Sehens: Mikroskopieren geht immer mit dem Verlust der Ganzheit und der Farbe einher.

Auge – Brille – Mikroskop – Elektronenmikroskop


Mensch – Barthaar – Haar – Haar unter dem Mikroskop – Haar unter einem Elektronenmikroskop

Spezifikationen des Hörens in der Medizin


Ohr – Stethoskop – Ultraschall

Der Blick in die »Unterwelt« des Menschen bedarf regelmäßig der »Tötung«. Denn Organmaterial, das in die Pathologie Einlass erhält, ist aus dem lebendigen Leib ausgeschiedenes Gewebe. Das gilt schon für eine Laborprobe, mehr noch für subzelluläre Elemente bis hin zu einzelnen Molekülen. Der Tod ist also Grundbedingung der Forschung. Wo der Tod aber Grundbedingung ist, da herrscht der Zeitmodus »Ver-gangen-heit« des Gewordenen vor. Es sind Erfahrungen aus der Pathogenese, nicht der Salutogenese, die in diesen Ausschnitten aus dem Körper gemacht werden können.

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