Читать книгу Philipps Entscheidung - Frank Springer - Страница 5

2. Noch mehr Enttäuschungen

Оглавление

Als die Schneiders am nächsten Morgen den Speiseraum betraten, saß dort bereits eine Familie an einem der Tische und frühstückte. Schneiders grüßten freundlich und nahmen am Nachbartisch Platz. Ihr Tisch war bereits gedeckt. Speisen und Getränken holten sie sich von einem kleinen Buffet, das auf einer Anrichte liebevoll zurechtgemacht war. Herr Petersen kam kurz herein und wünschte seinen Gästen einen guten Morgen und guten Appetit.

Von seinem Platz aus musterte Philipp die neu hinzugekommene Familie kritisch. Das war die erste große Enttäuschung an diesem Tag, denn ein Junge in etwa seinem Alter war nicht dabei. Neben den beiden Eltern gab es ein Mädchen, das etwas jünger war als er selbst, und einen kleinen Jungen in Mimmis Alter. An ihrem Dialekt konnte Philipp hören, dass die Familie irgendwo aus Süddeutschland stammen musste. Das Mädchen hatte lange, dunkle Locken, die ihr schmales Gesicht umrahmten. Ihre dunklen Augen leuchteten zwischen ihren Haaren hervor. Philipp fragte sich, wie es möglich sein konnte, dass so dunkle Augen so kräftig leuchten können. Das Mädchen trug ein kurzes Strandkleid mit einem fröhlichen Muster darauf und bunte Flipflops. Als sie sah, dass Philipp sie betrachtete, lächelte sie ihn freundlich an. Es war jedoch Philipp unangenehm, dass sie bemerkt hatte, wie er sie ansah. Daher lächelte er nur kurz zurück und wand schnell seinen Blick ab.

Das war keinen Moment zu früh, denn nun betrat eine weitere Familie den Frühstücksraum und setzte sich an einen freien Tisch. Die Familie bestand nur aus drei Personen: Vater, Mutter und einem Sohn. Philipp konnte sein Glück kaum fassen, denn tatsächlich war dieser Junge in seinem Alter. Sofort fing Philipp an, sich auszumalen, was er alles mit diesem Jungen unternehmen wollte. Aber schon bald bemerkte Philipp, dass er sich zu früh gefreut hatte. Der Junge trug eine dicke Brille. Sein Haar war mit einem Scheitel sorgfältig zur Seite gekämmt. Er hatte lange Hose mit Bügelfalte und ein weißes Hemd mit Kragen an. Als Hausschuhe trug er ein Paar Filzpantoffeln. Philipp selbst hingegen hatte seine Shorts und Badelatschen angezogen. Unter der Shorts trug er schon seine Badehose, damit er gleich nach dem Frühstück an den Strand hinaus konnte.

Dieser Junge aber benahm sich recht unbeholfen.

Seine Mutter redete während des gesamten Frühstücks nahezu ununterbrochen mit spitzer Stimme auf ihn ein: „Iss langsam, Hans-Georg Schatzi, sonst verschluckst du dich. Puste deinen Tee, Hans-Georg, damit du dir den Mund nicht verbrennst. Hans-Georg, sitz bitte gerade. Nimm nicht so viel Butter, Schatzi.“

Der Junge quittierte die Äußerungen seiner Mutter nur kurz mit: „Ja, Mama. Wie du meinst, Mama. Ist recht, Mama.“

Sein Vater hingegen sprach in der ganzen Zeit kein einziges Wort. Philipp konnte zunächst den Dialekt von Mutter und Sohn nicht ganz einordnen, dann war er sich jedoch sicher, dass sie aus dem Rheinland kamen.

Philipp war enttäuscht. Auf so ein Muttersöhnchen wie Hans-Georg konnte er verzichten. Mit dem konnte er sicherlich keine spannenden Abenteuer erleben. Inzwischen war Mimmi aufgesprungen und spielte mit dem kleinen Bruder von dem dunkelhaarigen Mädchen Fangen um die Tische herum. Vorher hatte Philipp schon gehört, dass der kleine Junge von seiner Schwester und seinen Eltern Lenni gerufen wurde. Philipp beneidete seine kleine Schwester darum, wie schnell sie Anschluss gefunden hatte.

Nach dem Frühstück ging Familie Schneider an den Strand. Es war herrliches Badewetter. Philipp setzte sich etwas abseits auf sein Handtuch und begann damit, ein Buch zu lesen. Es war ein Abenteuerroman. Wenn er selbst schon keine Abenteuer erleben konnte, so wollte er doch zumindest davon lesen. Die Familie aus Süddeutschland hatte sich bereits am Strand niedergelassen. Sofort fing Mimmi zusammen mit Lenni an, eine Sandburg mit ihren Schaufelchen und Eimerchen zu bauen. Isabelle ging zu dem dunkelhaarigen Mädchen und sprach es an. Kurz darauf spielten die beiden miteinander Federball.

Philipp ärgerte sich. Jeder hatte jemanden gefunden, mit dem er spielen konnte, nur er selbst ging leer aus. In den Ferienparadiesen, in denen sie sonst ihren Urlaub verbrachten, sorgten professionelle Animateure ständig dafür, dass es den Kindern und auch den Erwachsenen nie langweilig wurde. Dabei gab es abwechslungsreiche Angebote mit vielen spannenden Aktivitäten. Im letzten Jahr hatte Philipp sogar bei einem Tauchkurs mitgemacht. Aber hier an der Ostsee weitab der Zivilisation gab es nichts, nur Langeweile. Der große, öffentliche Badestrand war über einen Kilometer weit weg. Philipp sah dort viele Menschen. Es war ihm aber zu weit, um dorthin zu laufen in der Hoffnung, dort auf jemanden Interessantes zu treffen.

Die Familie mit Hans-Georg kam an den Strand. Der Junge zog sich umständlich um. Unverzüglich begann seine Mutter damit, ihn dick mit Sonnencreme einzuschmieren. Wenn Philipp nicht länger alleine sein wollte, sondern zusammen mit einem anderen etwas unternehmen wollte, dann blieb ihm keine andere Wahl. Philipp legte sein Buch zur Seite, stand auf und ging auf Hans-Georg zu.

Philipp fragte ihn: „Hallo, hast du Lust, mit mir schwimmen zu kommen?“

Der Junge war sehr überrascht. Offenbar hatte er nicht erwartet, dass ihn jemand ansprach.

Unsicher drehte er sich um und fragte: „Mama, darf ich?“

Seine Mutter sagte: „Ja, Hans-Georg, aber pass auf, dass dein Haar nicht nass wird, sonst erkältest du dich. Und schwimm nicht so weit raus. Pass auf, dass du nicht so lange in der Prallsonne bist, Schatzi.“

Hans-Georg antwortete: „Ja, Mama. Danke, Mama.“

Dann stand er auf und trottete mit Philipp zum Wasser.

Philipp lief sofort ins Meer. Als ihm das Wasser schon fast bis zur Hüfte reichte, drehte er sich um. Er sah, dass Hans-Georg ganz langsam und vorsichtig auf das Wasser zu ging.

Er berührte gerade eben das Wasser mit seinen Zehenspitzen, als er schrie: „Au, ich bin auf einen Stein getreten.“

Dann ging er zaghaft weiter und zeterte dabei: „Igitt, hier ist ja alles voller Seetang.“

Als Hans-Georg bis zu den Knöcheln im Wasser stand, rief er hysterisch: „Hilfe, mich hat eine Qualle gebissen.“

Ungeduldig rief ihm Philipp zu: „Nun komm doch! Ich denke, wir wollen schwimmen.“

Hans-Georg entgegnete: „Nein, auf keinen Fall gehe ich in dieses Wasser. Hier wimmelt es nur so von gefährlichen Tieren.“

Philipp verlor seine Geduld und bespritzte Hans-Georg mit Wasser.

Das war zu viel für den ängstlichen Jungen.

Er schrie: „Meine Brille ist nass geworden. Ich kann nichts mehr sehen.“

Dann lief Hans-Georg zu seiner Mutter und klagte ihr sein Leid.

Seine Mutter beruhigte ihn und sagte: „Aber das hat der Junge sicherlich nicht mit Absicht gemacht, Schatzi. Er wollte doch nur mit dir spielen.“

Es reichte Philipp. Wieder stand er ganz alleine da und hatte niemanden, mit dem er sich beschäftigen konnte. Wütend schwamm er mit kraftvollen Zügen weit aufs Meer hinaus. Philipp war ein sehr guter Schwimmer. Früher hatte er sogar im Schwimmverein trainiert. Wegen der Schule blieb ihm aber keine Zeit mehr dafür. Nachdem er seine Wut abreagiert hatte, kehrte er um und schwamm ans Land zurück. Erschöpft ließ sich Philipp auf sein Handtuch fallen und von der Sonne trocknen.

Er hatte schon eine Zeit lang vor sich hingedöst, als ihn plötzlich jemand ansprach: „Hallo du, darf ich dich mal was fragen?“

Philipp brauchte seine Augen gar nicht zu öffnen, denn bereits an der Stimme erkannte er, dass es das Mädchen aus Süddeutschland war. Trotzdem blinzelte er und schaute sie an. Mit ihren langen und dünnen Armen und Beinen wirkte sie fast zerbrechlich. Sie trug einen zweiteiligen Badeanzug, der nur aus vier kleinen dreieckigen Stoffstückchen bestand, die mit dünnen Schnüren verbunden waren.

Er sagte knapp: „Was denn?“

Sie fuhr fort: „Magst du mit mir Federball spielen?“

Philipp hatte dazu keinerlei Lust, aber ihm fiel so schnell keine geeignete Ausrede ein.

Daher antwortete er unfreundlich: „Meinetwegen.“

Er stand auf und das Mädchen reichte ihm einen Schläger.

Sie sagte: „Ich heiße Josephine. Wenn du magst, kannst du Josi sagen. Wer bist du?“

Philipp entgegnete kurz: „Philipp.“

Lustlos begann er mit dem Spiel. Sie spielten den Ball einige Male hin und her. Philipp strengte sich dabei jedoch kaum an, so dass der Ball öfters zu Boden fiel. Josephine kicherte dann jedes Mal albern.

Isabelle half nun Mimmi und Lenni bei dem Bau ihrer Sandburg. Inzwischen hatte sie schon größere Erdmassen aufgetürmt. Philipp spielte weiter mit Josephine Federball. Als er genug davon hatte, gab er ihr den Schläger zurück und setzte sich wieder auf sein Handtuch. Damit hatte er aber längst noch keine Ruhe vor dem Mädchen.

Josephine fragte ihn: „Darf ich mich zu dir setzen?“

Philipp antwortete barsch: „Wenn es sein muss.“

Sie setzte sich direkt neben ihn auf sein Handtuch. Philipp war diese unmittelbare Nähe unangenehm, zumal er das Mädchen kaum kannte.

Sie sagte: „Du kannst sehr gut Federball spielen.“

Philipp war verwundert, da es ihr kaum verborgen geblieben sein dürfte, dass er sich dabei keinerlei Mühe gegeben hatte.

Er erwiderte: „Meinst Du?“

Ja“, sagte Josephine, „es hat richtig viel Spaß mit dir gemacht.“

Philipp entgegnete genervt: „Ach, wirklich?“

Josephine fragte: „Ich bin im Frühjahr zwölf geworden. Wie alt bist du?“

Philipp antwortete: „Dreizehn.“

„Das ist schön“, sagte das Mädchen.

Philipp fragte sich gerade, was daran schön sein sollte, als er spürte, dass Josephine seine Hand berührte. Instinktiv zog Philipp seine Hand ruckartig weg. Das Mädchen erschreckte sich sehr darüber und rückte ein wenig von dem Jungen ab. Philipp tat es zwar irgendwie etwas leid, dass er Josephine so einen großen Schrecken versetzt hatte, aber er fühlte sich dadurch wohler, dass sie nicht mehr so sehr dicht bei ihm saß.

Um die Situation zu überspielen, zeigte Josephine auf das Buch und fragte: „Was liest du denn da?“

Philipp antwortete: „Das ist ein Abenteuerroman.“

Sie fragte weiter: „Ist das Buch auch romantisch?“

Er antwortete: „Nein, nur spannend.“

Sie sagte bedauernd: „Schade, ich mag romantische Geschichten.“

Er entgegnete: „Ich nicht.“

Das Gespräch war Philipp äußerst unangenehm. Er wusste nicht, was das Mädchen von ihm wollte und was er ihr sagen sollte. Ihre ständige Fragerei nervte ihn. Am liebsten wäre er jetzt einfach aufgestanden und weggegangen. Das wäre aber unhöflich von ihm gewesen und er wollte nicht unhöflich sein. Ihm fiel auch keine Ausrede ein, mit der er hätte die Unterhaltung beenden können.

Wie eine Erlösung kam für ihn daher der Ruf seiner Mutter: „Philipp, kommst du bitte. Gleich gibt es Mittagessen.“

Sonst mochte Philipp nie, wenn seine Eltern ihn riefen, aber jetzt war es ihm sehr recht. Endlich hatte er einen Vorwand, um das für ihn anstrengenden Gespräch mit dem Mädchen zu beenden. Er nahm seine Sachen und stand auf.

Josephine sagte: „Bis gleich. Wir sehen uns beim Essen.“

Ohne ihr zu antworten, ging Philipp mit seinen Eltern zum Haus. Er grübelte darüber nach, weshalb das Mädchen ihn so hartnäckig bedrängt hatte, obwohl er sich ihr gegenüber recht abweisend verhalten hatte. Ihm fiel keine Antwort ein.

Kurz bevor sie die Pension erreichten, sah Philipp etwas, das ihn sehr erfreute und auf andere Gedanken brachte. Der weißblonde Junge von gestern war dabei, schwere Kisten und Kästen aus einem Kombiwagen zu entladen und durch die Hintertür ins Haus zu bringen. Er hatte wieder seine blaue Latzhose und den weiten Sommerpullover an.

Bevor Philipp mit seinen Eltern und Schwestern das Haus betrat, sagte er zu ihnen: „Geht schon vor. Ich komme gleich nach.“

Philipp ging zu dem Jungen mit den struppigen Haaren, der gerade einige Kisten aus dem Auto hob, und sagte: „Hallo, kann ich dir helfen?“

Der Junge lachte und antwortete: „Hallo! Nein, du bist hier Gast. Du sollst nicht arbeiten.“

Um sich bekannt zu machen und so vielleicht eine Freundschaft zu beginnen, fragte Philipp ihn: „Ich bin Philipp. Wie heißt du?“

Der Junge erwiderte: „Ich heiße Wibke.“

Es traf Philipp wie ein Schlag. Das hatte er nun überhaupt nicht erwartet. Der Junge war in Wirklichkeit ein Mädchen. Philipps einzige Hoffnung auf wenigstens etwas Abwechselung in diesem eintönigen Urlaub war auf ein Mal zunichte. Sein gesamter Traum von gemeinsamen, spannenden Abenteuern mit diesem Jungen zerplatzte wie eine Seifenblase.

Philipp konnte seine Überraschung nicht verbergen und sagte: „Du bist ein Mädchen?“

Wibke lachte: „Ja klar, bin ich das. Was dachtest du denn? Ist das ein Problem für dich?“

Philipp beeilte sich zu sagen: „Nein, nein, überhaupt nicht.“

Er musste immer noch sehr verwundert ausgesehen haben, denn Wibke lächelte freundlich: „Mach dir nichts draus. Es ist nicht das erste Mal, dass mich jemand für einen Jungen gehalten hat. Das ist mir schon öfters passiert.“

Philipp war die Situation äußerst peinlich. Am liebsten wäre er jetzt sofort im Boden versunken. Zum Glück hatte niemand außer Wibke seinen Irrtum bemerkt. Sie selbst schien es gelassen zu nehmen und war höchstens leicht amüsiert darüber.

Wibke trug vor sich einen Stapel Kisten und kam direkt auf Philipp zu.

Sie sagte: „Wenn du mir wirklich helfen möchtest, dann geh bitte einen Schritt zur Seite, damit ich an dir vorbei komme. Du stehst mir nämlich mitten im Weg.“

Philipp konnte nun sehen, dass in der obersten Kiste, die Wibke trug, sorgfältig aufgereiht mehrere Fische lagen. Die Fische sahen ihn mit ihren starren, toten Augen an und verströmten dabei eine unverkennbare Duftwolke.

Philipp konnte sich nicht beherrschen und rief: „Igitt, was ist den das?“

Wibke antwortete ruhig: „Das ist dein Abendessen. Heute gibt es frischen Fisch. Du kennst wohl nur Fischstäbchen aus dem Tiefkühlfach.“

Dabei aß Philipp sehr gerne Fisch. Selbstverständlich kannte er aus der Fischabteilung im Kaufhaus die verschiedenen Fischarten, die appetitlich aussehend in der Auslage auf Eis präsentiert wurden. Er liebte auch den Anblick, wenn der Fisch vor wohlschmeckend zubereitet vor ihm auf seinem Teller lag. Aber so unmittelbar und unvorbereitet damit im Rohzustand konfrontiert zu werden, erschreckte ihn im ersten Moment doch etwas.

Wibke bot ihm an: „Wenn es dich interessiert, dann kannst du mir dabei zusehen, wenn ich die Fische ausnehme.“

Philipp entgegnete: „Nein danke, darauf verzichte ich gerne. Ich konzentriere mich nachher lieber auf das Essen. Aber jetzt gibt es erst Mittagessen. Ich gehe dann mal.“

Wibke sagte: „Mach das und guten Appetit dabei.“

Wibke verschwand mit den Kisten im Hintereingang, während Philipp zum Vordereingang des Hauses lief. Er war wütend und enttäuscht. Weit und breit gab es nun niemanden mehr, mit dem er in diesen Ferien etwas erleben konnte. Dazu kam noch die unangenehme Blamage, dass er Wibke für einen Jungen gehalten hatte.

Philipps Entscheidung

Подняться наверх