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4. Alles ist vorbei

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Der restliche Schultag verging für Thiemo wie im Fluge. Er war überglücklich, neben Merle zu sitzen. Da sie ohnehin den gleichen Heimweg hatten, schlenderten die beiden nach Schulschluss miteinander nach Hause. Dabei lachten sie und alberten ausgelassen herum. Zum ersten Mal seit Ludwigs Umzug war Thiemo wieder richtig fröhlich und unbeschwert. Nie zuvor hätte er gedacht, dass er so viel Spaß mit einem Mädchen haben könnte. In Merles Gegenwart fühlte sich Thiemo so wohl, dass er seine Trauer um Ludwig vergaß.

Thiemo freute sich über alle Maße, als Merle ihn fragte: „Hast du heute Nachmittag Zeit? Wir könnten die Hausaufgaben gemeinsam erledigen. Das ist nicht so langweilig, als wenn wir sie alleine machen müssen.“

„Ja gerne“, wollte Thiemo voller Freunde ausrufen, aber ihm fiel gerade noch rechtzeitig ein, was er bisher erfolgreich aus seinen Gedanken verdrängt hatte.

Stattdessen sagte er: „Nein, tut mir leid. Das geht nicht. Heute ist Bandentreffen.“

„Was, bitte?“, fragte das Mädchen erstaunt nach.

In diesem Augenblick hätte sich Thiemo am liebsten auf seine Zunge gebissen, denn ihm wurde urplötzlich bewusst, dass er einen schwerwiegenden Fehler begangen hatte. Er hatte einem Mädchen von seinem Bandentreffen erzählt. Ein Mädchen in einer Jungenbande war unvorstellbar. Es war die erste Bandenregel, dass kein Mädchen aufgenommen werden durfte. Außerdem mussten Ort und Zeitpunkt der Treffen strikt geheim gehalten werden, insbesondere vor Mädchen. Thiemo ärgerte sich, dass es ihm herausgerutscht war. Merle wusste noch nichts von seiner Bande und fragte nun nach. Das war natürlich.

Thiemo antwortete zögerlich: „Ach nichts. Ich habe nur schon etwas anderes vor.“

Merle war neugierig geworden und hakte nach: „So, was denn?“

Thiemo versuchte sich herauszuwinden: „Nichts wichtiges. Nur so eben.“

Damit gab sich das Mädchen jedoch nicht zufrieden: „Wenn es nicht wichtig ist, dann können wir uns doch treffen. Nun sag schon, was es ist!“

„Das kann ich nicht sagen“, antwortete Thiemo. „Es geht einfach nicht. Sieh es bitte ein!“

Merle spürte, dass es Thiemo unangenehm war, darüber zu sprechen, und dass er deshalb etwas böse wurde. Daher gab sie sich geschlagen und sah von weiteren Fragen ab.

Sie sagte traurig: „Schade, dann eben nicht.“

Auch Thiemo war traurig, denn er hätte viel lieber etwas gemeinsam mit Merle unternommen. Vor dem Bandentreffen hingegen hatte er große Angst, da ihm noch nichts eingefallen war, womit er die Jungen aus seiner Bande beeindrucken konnte. Er durfte es sich keinesfalls erlauben, bei diesem Treffen zu fehlen. Dann würde er seinen Posten als Anführer sofort verlieren.

Zu Hause stocherte Thiemo lustlos in seinem Mittagessen herum und machte sich kurze Zeit später auf den Weg zum Hauptquartier. Als er unten im Treppenhaus angekommen war, glaubte Thiemo zu hören, dass in einem der Stockwerke über ihm eine Tür zugezogen wurde. Er blieb kurz stehen, um zu lauschen, hörte aber keine Schritte. Schnell stieß er die schwere Haustür auf und lief los. Er wollte auf keinen Fall zu spät zum Treffen kommen. Obwohl er den Schuppen noch kurz vor der vereinbarten Zeit erreichte, waren die anderen schon alle da und erwarteten ihn. Thorben hatte bei einem Schulfreund aus seiner Klasse zu Mittag gegessen und war direkt von dort gekommen.

Alle schauten erwartungsvoll Thiemo an. Thiemo wurde es ganz heiß, denn er hatte noch immer keine Idee, die er seinen Freunden mitteilen konnte.

Um Zeit zu gewinnen, fing er umständlich an: „Meine lieben Freunde, hiermit eröffne ich offiziell unser planmäßiges Bandentreffen. Wie ich sehe, sind alle Mitglieder anwesend, sodass wir voll beschlussfähig sind.“

Emilio fiel ihm ins Wort: „Lass den Unsinn! Gibt es nun etwas Neues, was wir machen können? Los erzähl schon!“

„Ja, erzähl es uns!“, stimmten die anderen mit ein.

Thiemo stockte. Er spürte, wie seine Hände feucht wurden und sich der Schweiß auf seiner Stirn sammelte. Alle hatten ihren Blick auf ihn gerichtet und erwarteten seinen Vorschlag. Thiemo versuchte nachzudenken, aber je mehr er sich konzentrierte, desto weniger fiel ihm ein. Er spürte, wie die anderen Jungen allmählich unruhig wurden. Thiemo wusste, dass alles für ihn auf dem Spiel stand. Er musste jetzt etwas sagen, irgendetwas. Aber sein Kopf war leer. Kein Gedanke kam ihm, der ihn hätte retten können. Ihm war klar, dass er nicht mehr länger Anführer seiner Bande sein würde, wenn es ihm nicht in diesem Moment gelang, seinen Freunden einen überzeugenden Vorschlag zu unterbreiten. Diese Schmach wollte er nicht ertragen. Daher unternahm er einen letzten verzweifelten Versuch.

Ohne zu wissen, was er sagen sollte, stammelte er unsicher: „Also, ja, ich habe mir Folgendes überlegt ...“

Weiter kam er nicht, denn vor der Schuppentür war ein Geräusch zu hören. Es war nicht laut, aber dennoch deutlich vernehmlich. Es war wie ein leises Knacken. Alle hatten es gehört und starrten mucksmäuschenstill wie gebannt zur Tür. Thiemo war zunächst froh, dass er vorerst gerettet war, da dieses Geräusch die anderen davon ablenkte, dass er noch keinen Plan hatte, mit dem er sie begeistern konnte. Langsam und leise ging er auf die Tür zu, fasste den Griff und riss die Tür mit einem Schwung auf. Thiemo glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Hinter der Tür stand Merle und schaute ihn erschreckt an. Sie musste ihm gefolgt sein, denn alleine hätte sie das Versteck nicht so schnell finden können. Im allerersten Augenblick freute sich Thiemo, sie wiederzusehen. Dann wurde ihm klar, dass sie ihn in eine unangenehme Lage gebracht hatte.

Noch ehe Thiemo einen sinnvollen Gedanken fassen konnte, fragte ihn Emilio: „Was will die denn hier? Hast du ihr etwa von unserem Treffen erzählt?“

Axel fügte hinzu: „Du weißt doch selbst ganz genau, dass hier bei uns keine Mädchen dabei sein dürfen.“

Thiemo war rot geworden und versuchte zu beschwichtigen: „Nein, ich habe ihr nichts gesagt. Ehrenwort.“

Mirko setzte nach: „Und das sollen wir dir glauben? Ich habe doch selbst gesehen, dass ihr beide heute in der Schule immer die Köpfe zusammengesteckt habt.“

„Das war doch nur wegen der Schulbücher, in die wir gemeinsam hineingucken mussten“, wand sich Thiemo.

Es war ihm bewusst, dass dieses Treffen entscheidend dafür war, ob er weiterhin Anführer der Bande bleiben konnte. Daher musste er so schnell wie möglich diese Situation klären. Thiemo wusste sich in dieser aussichtlosen Lage nicht anders zu helfen. Er packte Merle, die immer noch überrascht in der Tür stand, grob am Arm und zerrte sie mitten in den Schuppen.

Dann rief er triumphierend: „Sie ist eine Spionin der Mädchenclique. Sie hat sich heimlich angeschlichen, um uns auszuspionieren.“

Axel entgegnete: „Sie sieht aber gar nicht so aus wie eine von denen. Sie trägt doch gar kein bisschen Rosa.“

„Das ist alles nur Tarnung, damit sie nicht auffällt“, behauptete Thiemo.

Emilio erwiderte: „Sie kann doch gar nicht zur Mädchenclique gehören. Dazu ist sie noch nicht lange genug in der Klasse.“

Mirko warf ein: „So gemein, wie die beiden Rosas sie heute Morgen in der Schule behandelt haben, gehört sie mit Sicherheit nicht zu denen.“

Thiemo rang nach Worten: „Das war nur ein Ablenkungsmanöver. Das war alles geplant.“

Merle hatte bislang kein Wort gesagt, sonder verfolgte verstört das Treiben. Alle Augen ruhten auf Thiemo. Der jedoch steigerte sich immer mehr hinein und fing selbst an zu glauben, was er sagte. In seiner Verzweiflung wusste er nicht, was er tun sollte. Aus der größten Not heraus versuchte Thiemo, sich zu retten. Er griff Merles Arm und drehte ihn ihr auf den Rücken, ohne darüber nachzudenken, was er tat.

Dazu sagte er zu ihr: „Los, gestehe! Sag, dass du eine Spionin bist!“

Merle fauchte ihn an: „Spinnst du jetzt komplett? Du tust mir weh. Lass mich sofort los! Ich bin dir vorhin nur nachgegangen, weil ich neugierig war, was du machst. Mehr nicht.“

Das war für Thiemo fast noch schlimmer, dass er so nachlässig gewesen war und zugelassen hatte, dass ein Mädchen ihn unbemerkt verfolgen konnte, ausgerechnet als er auf dem Weg zum Bandenversteck war. Daher dachte er nicht daran aufzuhören, sondern drehte ihren Arm weiter um.

Bedrohlich sprach er zu ihr: „Nun sag endlich die Wahrheit!“

„Au!“, schrie Merle vor Schmerz laut auf und Tränen rannen über ihr hübsches Gesicht.

Energisch sagte Emilio zu Thiemo: „Lass sie los! Du tust ihr doch weh.“

Kämpferisch entgegnete Thiemo: „Ja und? Im Krieg wurden auch weibliche Spione umgebracht.“

Mikro bemerkte scharfsinnig: „Wir sind aber nicht im Krieg und sie ist nur ein Mädchen, das du letztendlich hierher gelockt hast.“

Thiemo wollte nicht aufgeben und hielt Merles Arm weiterhin fest.

Daraufhin näherten sich Emilio und Axel ihm drohend und Emilio sagte entschlossen zu ihm: „Lass sie sofort los!“

Nun erst löste Thiemo seinen Griff. Er musste einsehen, dass er allein auf verlorenem Posten stand und keiner bereit war, ihn zu unterstützen.

Zu Merle gewandt sprach Emilio mit freundlicher, aber kühler Stimme: „Es ist besser, wenn du jetzt gehst.“

Blitzschnell drehte sich das Mädchen um und lief weinend nach Hause.

Eine ganze Weile lang sagte keiner etwas. Thiemo stand fassungslos mitten im Schuppen.

Emilio brach das Schweigen: „Das Verhalten von unserem Anführer war eben unzumutbar. Es bringt unsere gesamte Bande in Verruf, wenn er Mädchen quält. Mädchen zum Spaß zu ärgern, ist ganz lustig. Aber was Thiemo hier mit Merle gemacht hat, ging eindeutig viel zu weit. Er ist nicht mehr würdig, unser Anführer zu sein, denn er wirft damit auch schlechtes Licht auf uns alle. Daher fordere ich, dass Thiemo als unser Anführer mit sofortiger Wirkung abgesetzt wird.“

Mirko schlug vor: „Lasst uns darüber abstimmen. Wer ist dafür, dass Thiemo weiterhin unser Anführer bleibt?“

Zaghaft hob Thiemo seine Hand und blickte sich verunsichert um. Keiner von den anderen erhob seinen Arm. Thiemo schaute hilfesuchend zu Thorben und zu Jannick, die ihm bislang die Treue gehalten hatten. Die beiden hatten ihren Blick betroffen zu Boden gesenkt, damit sie Thiemo nicht ins Gesicht sehen mussten, aber ihre Arme blieben unten.

Emilio fasste zusammen: „Damit wäre diese Frage geklärt.“

Wütend schrie daraufhin Thiemo: „Macht doch eure Sache alleine, wenn ihr mich nicht mehr haben wollt! Eine Jungenbande ist doch Kinderkram. Da mache ich nicht mehr mit. Seht zu, wie ihr ohne mich zurechtkommt!“

Dann wandte er sich ab und ging nach Hause. Dort legte er sich auf sein Sofa und weinte. Zum ersten Mal, seitdem er ein kleines Kind war, weinte er wieder. Mit einem Schlage hatte Thiemo alles verloren, was ihm wichtig war. Seine Bande war für ihn sein bisheriger Lebensinhalt gewesen. Dort fand er die Kameradschaft, Anerkennung und Zuversicht, die er dringend brauchte. Das war nun alles zunichte. Was sollte er jetzt ohne seine Bande machen? Bislang war Thiemo der berühmte und von allen geachtete Anführer der bekanntesten und berüchtigtsten Jungenbande im gesamten Viertel. Er mochte sich die Peinlichkeit nicht vorstellen, wenn die anderen erfuhren, dass er nun nicht mehr dieser Anführer war. Jetzt war er ein Nichts, ein absoluter Niemand. Wenn doch nur Ludwig hier wäre. Der wüsste sicherlich einen Rat. Thiemo weinte bitterlich. Er war froh, dass er alleine zu Hause war und niemand ihn sah.

Noch mehr ärgerte ihn, dass er das Vertrauen, das Merle in der kurzen Zeit zu ihm gefasst hatte, zerstört hatte. Er musste daran denken, wie viel Spaß sie erst heute am Vormittag in der Schule miteinander hatten, als sie gemeinsam in dem Buch gelesen hatten. Thiemo sah ein, dass er einen großen Fehler begangen hatte. Er hätte sich selbst Ohrfeigen können, aber damit hätte er sein Verhalten nicht ungeschehen gemacht. Nie wieder würde er Merle aufrichtig ins Gesicht sehen können. Thiemo war verzweifelt.

Er lag schon eine ganze Weile auf seinem Sofa und hatte sich mittlerweile ein wenig beruhigt, als er von draußen durch das offene Fenster ein Pfeifen hörte. Sofort kam es ihm bekannt vor, denn Emilio hatte die Angewohnheit, beim Gehen manchmal ein Liedchen vor sich hinzupfeifen. Thiemo stand auf und ging zum Fenstern. Er wischte sich seine Augen trocken und schaute hinaus. Tatsächlich konnte er durch das Laub der Straßenbäume Emilio entdecken, wie er die Straße entlang geschlendert kam.

,Sicherlich hat Emilio eingesehen, dass es falsch war, mich als Anführer abzusetzen, und möchte sich bei mir dafür entschuldigen‘, dachte sich Thiemo.

Emilio steuerte tatsächlich auf den Hauseingang zu. Thiemo konnte sein Glück nicht fassen. Emilio wollte ihn wahrhaftig besuchen und das nach alledem, was geschehen war. Schnell rannte Thiemo zur Wohnungstür, um sie zu öffnen, sobald Emilio klingelte. Thiemo legte sein Ohr an die Tür und horchte. Er hörte, wie unten die schwere Haustür geöffnet wurde und jemand die Treppen zu ihm hinaufstieg. Danach vernahm er deutlich die Schritte auf dem Treppenabsatz. Gleich in wenigen Sekunden würde Emilio bei ihm klingeln. Thiemo war ganz aufgeregt. Er nahm den Türgriff in die Hand, um die Tür aufzureißen, sobald er den ersten Klingelton hörte.

Es klingelte. Thiemo wollte schon die Tür mit einem Schwung öffnen, als ihm auffiel, dass irgendetwas nicht stimmte. Er hielt inne und überlegte kurz. Das war nicht die Klingel zu seiner Wohnung, die er gehört hatte. Es war die Klingel von der Wohnung gegenüber, von Merles Wohnung. Thiemo war verwirrt. Was wollte Emilio bei Merle? Thiemo presste sein Ohr noch fester gegen seine Tür, um möglichst jedes einzelnen Wort verstehen zu können, das auf dem Hausflur gesprochen wurde.

Merle öffnete ihre Tür und fragte überrascht: „Hallo, was willst du denn hier?“

Emilio antwortete: „Ich möchte mich bei dir entschuldigen für vorhin. Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was in Thiemo gefahren ist. Sonst ist er nie so. Bitte denke nicht von uns, dass wir sein Verhalten gut finden und damit einverstanden sind, was er mit dir gemacht hat. In Wirklichkeit sind wir alle ganz nette Kerle.“

Thiemo war es peinlich, dass sich ausgerechnet Emilio für sein Verhalten bei Merle entschuldigen musste. Am liebsten wäre er auf den Treppenflur hinausgestürmt und hätte selbst mit dem Mädchen gesprochen, aber er wusste, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt dafür war. Daher lauschte er weiter.

Merle entgegnete freundlich: „Magst du nicht hereinkommen? Wir können uns drinnen besser unterhalten.“

Thiemo konnte zwar durch die Tür hindurch ihr Gesicht nicht sehen, aber er spürte, dass sie lächelte. Er war glücklich, dass sie wieder lächeln konnte.

„Ja, gerne“, erwiderte Emilio und trat ein. Thiemo hörte, wie sich die Tür hinter ihm schloss.

Thiemo wollte abwarten, bis Emilio wieder aus Merles Wohnung herauskam. Währenddessen stand er hinter seiner Tür und passte auf. Nach über einer Stunde war es endlich soweit.

,Was hat Emilio so lange bei Merle gemacht?‘, fragte sich Thiemo und belauschte die beiden.

Emilio verabschiedete sich von Merle: „Bis morgen.“

„Ja, bis morgen, Emilio“, entgegnete Merle.

Die beiden klangen dabei sehr vertraut miteinander. Thiemo hörte, wie Emilio die Treppe hinunterging und Merle die Tür schloss. Er zog sich daraufhin in sein Zimmer zurück und wollte niemanden mehr sehen.

Thiemos Bande

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