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6. Der Heimweg
ОглавлениеThiemo und Dörte hatten das gleiche Schicksal erlitten. Sie waren beide ausgeraubt worden. Durch den Überfall waren sie zu Leidensgenossen geworden.
Obwohl Thiemo deswegen Dörte nicht weniger hasste als zuvor, fühlte er sich nun verantwortlich für sie und schlug ihr vor: „Wenn du möchtest, dann begleite ich dich nach Hause.“
Dörte schaute ihn misstrauisch von oben bis unten an. Thiemo spürte, dass sie ihn genauso wenig mochte wie er sie und dass sie sich ihre Antwort genau überlegte.
Sie zuckte mit den Schultern und sagte kurz: „In Ordnung. Warum nicht?“
Gemeinsam setzten sich die beiden in Bewegung.
Nachdem sie ein kleines Stück gegangen waren, schrie Dörte: „Au, das tut weh!“
„Was ist?“, fragte Thiemo besorgt. „Tut dein Bauch noch weh?“
Dörte kommandierte: „Nein, ich bin nur auf einen spitzen Stein getreten. Bleib bitte stehen!“
Thiemo blieb stehen und Dörte hielt sich mit ihrer linken Hand an seiner Schulter fest. Dann hob sie ihren linken Fuß und legte ihn auf ihren rechten Oberschenkel ab. Mit ihrer freien Hand strich sie sich über die nackte Fußsohle. Danach gingen sie weiter. Nach weiteren hundert Metern trat Dörte erneut auf einen Stein und das Ganze wiederholte sich. Diesmal fiel ihr Blick auf Thiemos verletztes Knie.
Sie fragte: „Du blutest. Tut das sehr weh?“
„Nein, es geht schon“, sagte Thiemo und lächelte, obwohl es beim jedem Schritt schmerzte.
Thiemo fuhr fort: „Wir müssen unbedingt so schnell wie möglich zur Polizei und die beiden anzeigen.“
Wie zu Tode erschrocken sagte Dörte: „Nein, das geht nicht.“
„Warum nicht?“, fragte Thiemo erstaunt. „Willst du, dass die beiden einfach so mit dem Überfall davonkommen?“
Dörte entgegnete entschieden: „Nein, aber das geht auf gar keinen Fall. Bitte nicht.“
„Wieso denn nicht?“, hakte Thiemo voller Unverständnis nach. „Möchtest du nicht deine Schuhe wiederbekommen?“
„Das schon“, erwiderte Dörte, „aber bitte keine Polizei.“
Thiemo verstand das Mädchen nicht. Er sah keinerlei Gründe, weshalb sie den Überfall nicht der Polizei melden sollten.
Entschlossen sagte er daher: „Dann gehe ich eben alleine zur Polizei.“
„Nein“, rief Dörte voller Entsetzen, „tu das bitte nicht.“
„Weshalb denn nicht?“, fragte Thiemo erneut nach. „Ich möchte mein Geld wiederhaben.“
Dörte wurde immer aufgeregter: „Das kann ich dir nicht sagen. Wenn du nicht zur Polizei gehst, dann gebe ich dir das Geld.“
„Bist du verrückt?“, erwiderte der Junge. „Da hast doch selbst gesagt, dass du kaum Geld hast. Wie willst du mir denn das Geld geben?“
Dörte war völlig aufgelöst: „Das schaffe ich schon irgendwie. Hauptsache, du gehst nicht zur Polizei.“
„Mir reicht es“, sagte Thiemo wütend. „Ich gehe jetzt zur Polizei. Mach du doch, was du willst.“
„Nein, bitte nicht!“, schrie Dörte und warf sich vor ihm auf die Knie.
Thiemo wollte an ihr vorbeigehen, aber Dörte hielt ihn fest.
„Dann sag mir endlich, warum nicht“, wurde Thiemo ungeduldig.
„Nein, ich kann nicht“, schluchzte das Mädchen und fing an zu weinen.
Thiemo riss sich los und ging weiter. Dörte rannte hinter ihm her und klammerte sich erneut an ihm fest.
„Bitte, bitte nicht!“, schrie sie verzweifelt.
Tränen rannen über ihr Gesicht. Thiemo blieb stehen und schaute in ihre verweinten Augen.
Dann sagte er ruhig und bestimmt: „In Ordnung, ich gehe nicht zur Polizei, wenn du mir den Grund dafür erzählst.“
Dörte atmete tief durch und antwortete: „Na gut, aber versprich mir erst, dass du nichts weitersagst.“
Thiemo war erstaunt: „Warum soll ich nichts weitersagen?“
Das Mädchen kniete vor ihm und hielt seine Hand umklammert.
„Bitte versprich es mir, sonst kann ich es dir nicht erzählen“, sagte sie weinend.
„Also gut“, lenkte Thiemo endlich ein, „erzähl schon.“
„Du musst es schwören“, verlangte das Mädchen.
„Wenn du unbedingt willst, dann schwöre ich eben“, entgegnete Thiemo genervt.
„Schwörst du es wirklich?“, vergewisserte sich Dörte.
„Ja, ich schwöre es“, wiederholte der Junge.
„Was schwörst du?“, bohrte Dörte nach. „Sag genau, was du schwörst.“
Thiemo stöhnte: „Hiermit schwöre ich, dass ich nichts von dem weiterersagen werde, was mir eine gewisse Dörte Schröter gleich erzählen wird. So, bist du nun zufrieden?“
Das Mädchen ließ Thiemo los und stand auf. Die beiden gingen langsam weiter.
Dörte fing an zu erzählen: „Meine Schuhe waren Markenschuhe.“
„Ja und?“, wunderte sich Thiemo. „Dann solltest du erst recht dafür sorgen, dass du sie wiederbekommst.“
„Eigentlich schon“, druckste Mädchen herum, „aber du weißt doch, dass ich mir gar keine Markensachen leisten kann.“
„Ach jetzt verstehe ich“, erwiderte Thiemo. „Du hast die Schuhe selbst gestohlen.“
„Nein, gestohlen ist nicht der richtige Ausdruck“, antwortete Dörte verlegen. „Besser gesagt, ich habe sie mir geborgt“.
„Geborgt?“, fragte der Junge nach. „Was meinst du damit? Nun erzähl schon und lass dir nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen.“
Mit einem Taschentuch trocknete Dörte ihre Tränen und fuhr fort: „Ich hatte keine vernünftigen Schuhe mehr. Da hat mir meine Mutter letzte Woche zwanzig Euro gegeben, damit ich mir vom Billigmarkt ein Paar neue Schuhe kaufen kann. Schuhe vom Billigmarkt fand ich aber zu peinlich. Die anderen Mädchen hätten mich damit ausgelacht. Also habe ich mir noch hundert Euro vom Haushaltsgeld meiner Mutter aus dem Versteck genommen und mir davon Markenschuhe gekauft. Die sind jetzt weg und nun habe ich nichts mehr zum anziehen.“
„Das ist ja ein gewaltiges Ding“, staunte Thiemo entsetzt. „Du bestiehlst deine Mutter, um dir Schuhe zu kaufen, die du dir wiederum stehlen lässt.“
„Nein, ich habe meine Mutter nicht bestohlen“, widersprach Dörte. „In einigen Tagen bekomme ich von meiner Patentante Geld. Dann hätte ich das fehlende Haushaltsgeld heimlich zurückgelegt, ohne dass meine Mutter es bemerkt. In sofern wäre es nur geborgt. Wenn wir aber zur Polizei gehen, dann erfährt meine Mutter davon und wäre mir ewig böse.“
Thiemo war fassungslos: „Du hättest deine Mutter fragen müssen. Dann wäre es geborgt. So ist und bleibt es Diebstahl.“
„Wie denn?“, entgegnete Dörte. „Freiwillig hätte sie mir das Geld niemals gegeben.“
„Dann bleiben dir immerhin noch die Schuhe vom Billigmarkt übrig“, sagte Thiemo überlegen.
Traurig sagte Dörte: „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie das ist. Du trägst meist teure Klamotten. Auch wenn sie nicht immer neu sind, so sieht man doch, dass du sie dir leisten kannst. Ich kann das nicht. Aber ohne Markensachen nehmen mich die anderen Mädchen doch gar nicht ernst. Sie lachen über mich und verspotten mich. Ich will so schön aussehen wie sie. Ich will zu ihnen gehören. Dazu ist nun mal ein gewisses Äußeres notwendig.“
In Thiemo stieg Wut auf, die sich langsam einen Weg zur Entladung suchte.
Mit deutlichen Worten sagte er: „Jetzt hörst du mir mal zu. Die anderen Mädchen machen sich über dich lustig, weil du ständig versuchst, ihnen nachzueifern, und weil du dich vollkommen selbst aufgibst, nur um so zu sein wie sie. Allen voran Laetitia und Felicitas machen dir immer mehr vor, von dem sie ganz genau wissen, dass du es niemals wirst erreichen können. Sie halten dich damit zum Narren. Spürst du denn gar nicht, wie sehr sie dich verachten, weil du vor ihnen herumkriechst und dich ihnen anbiederst? Merkst du nicht, wie sie auf dich herabschauen, weil du ununterbrochen versuchst, dich bei ihnen einzuschmeicheln?“
„Selbstverständlich spüre ich das“, sagte Dörte und weinte laut los. „Aber du weißt doch gar nicht, wie das ist. Ohne die anderen Mädchen wäre ich ganz allein. Ich brauche sie. Sonst mag mich niemand. Du hingegen brauchst dir keine Sorgen zu machen. Du hast deine Bande, die immer für dich da ist. Du bist sogar ihr supertoller Anführer, den alle bewundern. Woher willst du also wissen, wie es mir geht?“
Thiemo musste schlucken. Er war tief getroffen. Zwar war er froh, dass Dörte nicht wusste, dass er als Anführer abgesetzt war und sich von seiner Bande abgewendet hatte, aber er musste sich eingestehen, dass er dadurch einsam und traurig geworden war. Daher fiel ihm nichts ein, womit er Dörte hätte trösten können. Über sich und seine Bande wollte Thiemo nicht mit ihr reden. Dazu saß der Schmerz noch zu tief. Ihm wurde klar, dass es ihm nun kein bisschen besser ging als ihr. Er war ebenso allein und einsam und hatte keine Freunde mehr. Wie konnte er sich da anmaßen, sie zu verurteilen oder gar zu verachten? Thiemo spürte, dass er traurig wurde und ihm Tränen in die Augen stiegen.
Um sich abzulenken, fragte er Dörte: „Was willst du mit den Schuhen machen? Du kannst morgen doch nicht barfuss zur Schule kommen.“
„Ich weiß nicht“, antwortete das Mädchen kopfschüttelnd. „Heute schaffe ich es nicht mehr, mir neue zu kaufen. Ich habe ein Paar alte Sandalen vom letzten Jahr. Die müssten mir noch passen. Morgen Nachmittag nach der Schule kaufe ich mir dann beim Billigmarkt ein Paar neue Schuhe. Etwas von meinem eigenen Geld habe ich noch übrig. Das könnte gerade dafür ausreichen.“
Thiemo nickte, um sie zu bestärken: „Das wird sicherlich das Beste sein.“
Eine Straßenecke, bevor sie in die Straße einbogen, in der Dörte wohnte, blieb sie stehen.
Sie sagte: „Es ist besser, wenn du jetzt gehst. Meine Mutter darf dich nicht sehen. Vermutlich steht sie am Fenster und hält nach mir Ausschau.“
Verwundert fragte Thiemo: „Weshalb soll mich deine Mutter nicht sehen?“
Dörte wurde verlegen: „Ich darf noch keinen Freund haben. Meine Mutter meint, dass ich noch viel zu jung dafür bin.“
Empört erwiderte Thiemo: „Ich bin doch nicht dein Freund. Soweit kommt es ausgerechnet noch. Das wäre ja noch schöner.“
„Nein, selbstverständlich nicht“, entgegnete das Mädchen entschieden. „Woher soll aber meine Mutter das wissen? Wenn sie uns zusammen sieht, dann zieht sie daraus sofort ihre Schlüsse.“
Allmählich erkannte Thiemo das Problem.
Trotzdem fragte er nach: „Wieso darfst du keinen Freund haben? Merle scheint sich mit Emilio angefreundet zu haben. Sie ist nicht älter als du.“
Dörte stöhnte: „Du willst heute aber alles ganz genau von mir wissen? Also gut, aber bitte behalte das auch für dich.“
„Ich hab es dir vorhin geschworen“, erinnerte Thiemo sie.
Das Mädchen schluckte.
Danach erzählte sie: „Meine Mutter war noch sehr jung, als sie mich bekam. Sie war nur wenige Jahre älter als ich jetzt bin. Kurz nach meiner Geburt hatte uns mein Vater verlassen. Sie war glücklich, dass sie einige Zeit danach einen anderen Mann kennenlernte, aber nachdem mein Bruder zur Welt kam, ist der auch weggegangen. Meine Mutter musste sich von da an ganz allein um uns kümmern und konnte ihr Studium nicht abschließen. Deswegen kann sie nur stundenweise als Kassiererin arbeiten und verdient so wenig. Vor diesem Schicksal möchte mich meine Mutter beschützen. Kannst du das verstehen?“
Betroffen nickte der Junge.
Er sagte: „Dann mach es gut.“
Dörte entgegnete: „Ja, du auch. Danke fürs Bringen.“