Читать книгу Thiemos Bande - Frank Springer - Страница 8
5. Der Überfall
ОглавлениеAls Thiemo am nächsten Morgen das Klassenzimmer betrat, saß Merle neben Emilio. Auf den freien Platz neben Thiemo hatte sich Bertram der Klassenstreber gesetzt, den keiner von seinen Mitschülern mochte. Aber Thiemo störte das nicht. Im Gegenteil war er froh, dass er großen Abstand zu seinen ehemaligen Bandenmitgliedern und zu Merle hatte, denn dadurch wurde er möglichst wenig an seine Niederlage erinnert. Thiemo sprach in den nächsten Tagen so gut wie gar nicht mit irgendjemandem. Selbst mit Thorben wechselte er nur die allernotwendigsten Worte. Dafür fiel ihm auf, dass sich Merle meist in der Nähe von Emilio aufhielt und er auch ihre Nähe suchte. Von Thiemo hingegen hielt sich Merle fern. Sie ging ihm aus dem Weg. Obwohl sie den gleichen Schulweg hatten, vermied Merle es, ihn gemeinsam mit Thiemo zu gehen.
Zwei Tage später stieg Thiemo in Gedanken versunken die Treppe hinauf. Er hatte gerade einige Utensilien für die Schule eingekauft und kam nach Hause, als Merle auf dem Treppenabsatz zwischen zwei Stockwerken unerwartet vor ihm stand. Sofort drückte sie sich ängstlich in eine Ecke und hielt ihre Arme schützend vor ihren Körper.
Mit angstvoll zitternder Stimme sagte sie zu Thiemo: „Bitte tu mir nichts. Geh weg! Ich fürchte mich vor dir.“
Thiemo entgegnete: „Du brauchst doch vor mir keine Angst zu haben. Ich tue dir nichts.“
Das Mädchen antwortete: „Ich glaube dir kein Wort.“
Thiemo wollte ihr noch etwas Versöhnliches zur Beruhigung sagen, aber ihm fiel nichts ein und er ging wortlos an ihr vorbei. Nachdem er sie passiert hatte, lief Merle schnell die Treppe hinunter, als wenn sie vor ihm fliehen wollte. Thiemo hatte ein schlechtes Gewissen. Er wollte nicht, dass Merle vor ihm Angst hatte. Er musste erneut schmerzlich einsehen, dass er alles zunichte gemacht hatte, was zwischen ihr und ihm gewesen war. Thiemo fühlte sich traurig und einsam.
So verging fast eine ganze Woche, ohne dass Thiemo jemanden hatte, mit dem er sprechen mochte. Mit seinen Eltern hätte er zwar sprechen können, aber die hatten keine Ahnung davon, wie es ihm ging. Schließlich überwand er sich und sprach mit seinem Bruder. Thorben erzählte ihm, dass sich die Bande nur noch selten traf und dass sie kaum noch gemeinsam etwas unternahmen. Außerdem berichtete er, dass Emilio meist mit Merle zusammen war. Es machte Thiemo noch trauriger, dass die Bande durch seinen Fehler auseinanderzufallen drohte. Immerhin hatte er die bekannteste und berüchtigtste Jungenbande im gesamten Viertel gegründet und war stolz darauf. Auch wenn er nicht mehr dazu gehörte, sollte wenigsten die Bande weiter bestehen bleiben.
Die einzigen, die Thiemo noch mit gewissem Respekt behandelten, waren die Mädchen aus der Clique. Wenn es auch nur der Respekt war, der Feinden gegenüber gezeigt wurde, so genoss Thiemo diesen kleinen Rest seines Ansehens. Offenbar hatte die Mädchenclique bislang nicht bemerkt, wie es um Thiemo stand. Das war insofern nicht weiter verwunderlich, da sämtliche Unternehmungen der Jungenbande vor den Mädchen abgeschirmt im Verborgenen stattfanden. Solange die Jungen keine Aktionen gegen die Mädchenclique durchführten, konnte sich Emilio auch nicht als ihr neuer Anführer hervortun. Die Mädchen wunderten sich vermutlich, dass sie in der letzten Zeit von der Jungenbande nicht mehr geärgert wurden.
An einem der folgenden Nachmittage hatte Thiemo einige Bücher in die Bücherei zurückgebracht, die er sich über die Ferien ausgeliehen hatte und die seitdem mehrfach angemahnt worden waren. Es waren Detektivgeschichten, die er für sein Leben gerne las. Die Sonne schien und es war warm. Um dieses Wetter zu genießen, nahm Thiemo den Rückweg durch den großen Park, der mitten im Viertel lag. Außerdem war dies eine kleine Abkürzung. Obwohl der Park schön angelegt war, waren zu dieser Zeit kaum Besucher unterwegs. Wahrscheinlich mussten die meisten Leute noch arbeiteten. Thiemo hatte es nicht eilig, weil er ohnehin nichts mehr an diesem Tag vorhatte außer Hausaufgaben. Die konnten aber warten, da er keine große Lust verspürte, sie zu erledigen.
Thiemo schlenderte gemütlich den Parkweg entlang und schaute verträumt den Eichhörnchen nach, die flink auf den Bäumen und Büschen herumkletterten und verspielt hin und her huschten, als unerwartet etwas in seine Augen stach. Thiemo wollte sich abwenden, da ihm der Anblick unangenehm war. Zwischen dem ganzen Grün tauchte eine Farbe auf, die eindeutig nicht hierher gehörte und die ihn zutiefst anekelte. Etwa zwanzig Meter vor ihm bog von einem Seitenweg Dörte auf seinen Weg ein. Wie immer war sie gänzlich in Rosa gekleidet. Sie trug einen kurzen Minirock in kräftigem Rosa, ein zartrosa Top mit einem lila Herzen auf der Brust und dazu ein Paar pinkfarbene Sneaker, die auffallend neu aussahen. Darüber leuchtete in krassem Kontrast ihr roter Schopf. Allein der Anblick dieser Farben erregte Thiemos Würgereiz. Das Mädchen ging vor ihm her und hatte ihn noch nicht bemerkt oder tat zumindest so. Vermutlich kam Dörte gerade von einem Treffen der Mädchenclique und befand sich auf dem Heimweg.
In Thiemo stieg der Hass auf dieses Mädchen auf. Er verachtete Dörte dafür, wie sie immerzu vor den beiden Rosas herumkroch, um sich bei ihnen anzubiedern und einzuschmeicheln. Dabei machten die Zwillingsmädchen sich lustig über sie und sahen überheblich auf sie herab. Es war für Thiemo unverständlich, dass ein Mensch sich so weit selbst aufgeben und erniedrigen konnte, um anderen zu gefallen. Er war fest davon überzeugt, dass man so einen Menschen hassen musste. In Gedanken malte Thiemo sich aus, was Dörte alles Schlimmes zustoßen könnte. Die Erde könnte sich auftun und sie verschlucken, ohne dass eine Spur von ihr übrig blieb. Oder ein Blitz aus heiterem Himmel könnte sie auf der Stelle erschlagen.
Thiemos finstere Fantasien wurden immer lebhafter, als er sich bildhaft vorstellte, was mit Dörte Schreckliches geschehen könnte. Niemals hätte er im Entferntesten geahnt, dass seine üblen Verwünschungen wahr werden könnten. Doch dann geschah es. Überraschend traten seitlich aus einem Gebüsch neben dem Weg eine Junge und ein Mädchen hervor und stellte sich vor Dörte auf. Thiemo kannte die beiden flüchtig vom Sehen. Sie wohnten am Rande des Stadtteils in einem großen, schäbigen Wohnblock. Der Junge war etwa ein Jahr älter als Thiemo und hatte einen kräftigen, gedrungenen Körper, während das Mädchen ungefähr elf Jahre alt war und ähnlich kräftig wirkte. Die Kleidung der beiden war abgetragen und verschlissen. Sie trugen ausgeleierte Jogginghosen und verwaschene T-Shirts. Dörte blieb vor Schreck stehen und schaute die beiden angstvoll an.
Mit grober Stimme sagte der Junge: „Schau mal an. Was haben wir den hier? Ein Paar nagelneue Schuhe für meine kleine Schwester. Los Bea, schau mal, ob sie dir passen!“
Dabei zeigte er auf die Sneaker von Dörte.
Dörte sammelte all ihren Mut zusammen und entgegnete: „Das sind aber meine. Die bekommt ihr nicht.“
Der Junge wurde bedrohlicher: „Falsch! Das sind jetzt unsere. Rück sie freiwillig raus, sonst holen wir sie uns!“
„Kommt gar nicht in Frage“, rief Dörte, wobei sich ihre Stimme überschlug.
Daraufhin machte der Junge einen Schritt auf Dörte zu und schubste sie so kräftig, dass sie zurücktaumelte, das Gleichgewicht verlor und unsanft auf ihrem Hinterteil landete. Sofort versuchte Dörte aufzustehen, aber der Junge war schneller und stellte seinen Fuß auf ihren Bauch, sodass sie sich nicht mehr aufrichten konnte.
Zu seiner Schwester sagte er: „Los Bea, hol dir die Schuhe!“
Bea versuchte, Dörte die Sneaker auszuziehen, was ihr nicht gelang, da Dörte nach ihr trat.
„Au!“, schrie Bea. „Sie hat mich getreten. Mach was, Björn.“
Nun verlagerte Björn sein Gewicht stärker auf Dörtes Bauch, wodurch ihr die Luft wegblieb und sie sich nicht mehr verteidigen konnte. Bea zog ihr die Schuhe aus, streifte sich ihre eigenen, ausgetretenen Turnschuhe ab und schlüpfte in Dörtes Sneaker.
„Au fein, sie passen mir“, rief sie triumphierend und warf ihre eigenen Schuhe ins Gebüsch.
Eigentlich hätte Thiemo jetzt schadenfroh sein müssen bei dem, was mit Dörte geschah, jedoch gelang es ihm nicht. Stattdessen war er schockiert von der rohen Gewalt, die gegenüber dem Mädchen ausgeübt wurde. Obwohl er Dörte hasste und ihr in seinen eigenen Vorstellungen allerlei üble Dinge gewünscht hatte, litt er nun innerlich mit ihr, ohne dass er sich dagegen wehren konnte. Ihm wurde übel davon. Am liebsten hätte er sich übergeben, aber dazu fehlte ihm die Kraft. Vor Entsetzen unfähig, sich zu bewegen, blieb er wie angewurzelt in etwa zehn Metern Entfernung stehen und beobachtete tatenlos das brutale Geschehen. Kurz darauf bereute Thiemo, dass er es nicht geschafft hatte, sich zu verstecken oder wegzulaufen.
Denn Björn schaute in seine Richtung und rief ihm zu: „Da haben wir ja noch so einen. Los Reichensöhnchen, komm her!“
Der Schrecken fuhr Thiemo in die Glieder, als ihm klar wurde, dass er jetzt im Mittelpunkt des Interesses der beiden jungen Räuber stand. Aus Angst war er wie betäubt und stand regungslos da, wie zu einer Säule erstarrt.
„Du sollst herkommen, Reichensöhnchen!“, brüllte Björn ihn an.
Als sich Thiemo immer noch nicht rührte, ging Björn gefolgt von seiner Schwester auf ihn zu.
Drohend kommandierte Björn: „Los, rück schon raus! Was hast du für uns?“
Thiemo vermochte nicht zu antworten, da seine Furcht ihm die Kehle zuschnürte.
Bea fragte: „Was ist mit seinen Schuhen? Das sind Markenturnschuhe.“
„Viel zu alt“, entgegnete Björn. „Das lohnt sich nicht.“
Björn wurde ungeduldig: „Na mach schon! Irgendetwas musst du doch haben. Pack mal deine Taschen aus!“
Thiemo war gelähmt vor Entsetzen, denn Björn sah brutal und kräftig aus. Thiemo wusste, dass er keine Chancen gegen ihn hatte. Als Thiemo nicht reagierte, packte Björn ihn und hielt ihn fest, sodass er sich nicht bewegen konnte. Er spürte, dass Björn noch viel stärker war, als er befürchtet hatte. Wenn jetzt seine Bande hier wäre, dann würden sie Björn gemeinsam in die Flucht schlagen, auch wenn er noch so stark sein mochte. Aber seine Bande war nicht da. Es war nicht einmal seine Bande mehr. Thiemo gehörte nicht mehr dazu, soweit es sie überhaupt noch gab. Er fühlte sich einsam und allein. Schmerzlich vermisste er in diesem Moment seine Bande, wo er sie dringend brauchte. Er machte sich große Vorwürfe, dass er sie mit seinem eigenen Verhalten zerstört hatte.
Björn sagte zu seiner Schwester: „Schau nach, was er in seinen Hosentaschen hat!“
Daraufhin durchsuchte Bea die Taschen von Thiemos Shorts. Es fühlte sich komisch an, wie sie mit ihren Händen darin herumwühlte. Schließlich fand sie einen kleinen Geldschein und zog ihn freudestrahlend hervor.
Ihr Bruder kommentierte diesen Fund: „Na also, da haben wir ja etwas gefunden. Warum denn nicht gleich so?“
Thiemo war wütend, da dieser Schein sein Taschengeld für diese Woche war. Bea steckte das Geld ein und Björn gab Thiemo einen kräftigen Stoß, wodurch er vornüber hinfiel und sich das Knie aufschlug. Thiemo war nicht fähig, ein Wort zu sagen. Selbst seinen Schmerzensschrei unterdrückte er.
Björn rief ihm zu: „Bring beim nächsten Mal gefälligst mehr für uns mit! Verstanden! Sonst verhauen wir dich.“
Dann liefen die beiden jungen Räuber lachend weg.
Benommen richtete sich Thiemo auf und schaute sich um. Von Björn und Bea war nichts mehr zu sehen. Dörte lag einige Meter entfernt auf dem Boden und krümmte sich. Thiemo ging zu ihr und half ihr aufzustehen. Sie hielt sich den Bauch und atmete mehrfach tief durch. Tränen liefen über ihre Wangen.
Thiemo fragte: „Bist du verletzt?“
Bleich vor Schreck antwortete sie schwer atmend: „Nein, glaub nicht. Es geht schon.“
Allmählich ging es ihr besser und sie sammelte sich.
Dann schrie sie verzweifelt: „So ein Mist! Meine Schuhe! Meine Schuhe sind weg.“
Thiemo war ebenfalls wütend über seinen Verlust und entgegnete: „Sei froh, dass es nur Schuhe sind. Sie haben mein gesamtes Taschengeld für diese Woche gestohlen.“
Zornig sagte das Mädchen: „Du kannst ohne Geld laufen, aber wie soll ich ohne Schuhe nach Hause gehen?“
Thiemo holte Beas alte Schuhe aus dem Gebüsch und stellte sie vor Dörtes Füßen ab.
Dazu sagte er: „Du kannst ja die hier anziehen.“
Voller Ekel schüttelte sich Dörte: „Igitt, diese alten Dinger zieh ich nie im Leben an. Dann gehe ich lieber den ganzen Weg barfuss.“
Sie zog sich ihre kurzen Sneakersocken aus, die selbstverständlich ebenfalls rosafarben waren, und stopfte sie in ihre Rocktaschen.
Thiemo schaute sich Beas Schuhe an und meinte: „Wenn ich so alte und ausgetretene Schuhe hätte, dann würde ich mir auch neue klauen.“
„Jetzt nimm die beiden nicht auch noch in Schutz“, schnaubte Dörte vor Wut. „Es ist schlimm genug, was sie gemacht haben.“
Thiemo erwiderte: „Ich nehme sie doch nicht in Schutz. Immerhin haben die beiden mich arm gemacht. Mein Taschengeld ist weg.“
Dörte knurrte: „Sei lieber froh, immerhin bekommst du regelmäßig Taschengeld.“
Eine Weile überlegte Thiemo, dann fragte er: „Was meinten die beiden mit Reichensöhnchen? Meine Eltern haben doch gar nicht so viel Geld. Die Eltern von Laetitia und Felicitas die sind richtig reich.“
Dörte schaute ihn voller Mitleid an und antwortete: „Ihr wohnt in einer großen und schönen Wohnung, du hast ein eigenes Zimmer, bekommst regelmäßig dein Taschengeld und kannst teure Markenklamotten anziehen. Das ist viel mehr, als ich habe. Wir leben nur in einer kleinen Wohnung und ich muss mir mit meinem jüngeren Bruder ein Zimmer teilen. Taschengeld gibt es für mich auch nur, wenn am Monatsende vom Haushaltsgeld etwas übrig bleibt und das ist selten genug. Meine Sachen muss ich im Billigmarkt kaufen. Die beiden, die uns überfallen haben, bekommen vermutlich noch viel weniger.“
Thiemo hakte ein: „Jetzt nimmst du sie aber in Schutz.“
„So ein Unsinn“, fluchte Dörte.