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Das Weiße Martyrium

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(651 n. Chr.)

„Du siehst alles, was dich umgibt, du siehst bis an den Horizont, aber nichtweiter. Du siehst, was tiefer als der Himmel ist, aber nichts darüber. Deine Unwissenheit ist starr und hindert dich zu begreifen. Werwird dirvon unglaublichen Wundern erzählen? Unglückliche Menschheit, wer wird dir zu Hilfe kommen?“

Der heilige Columbanus der Jüngere (6. Jh.)

Zwei Männer, in hellbraune Kutten gekleidet, standen am Ufer des Meeres. Während ihre Köpfe vorne kahl geschoren waren, hingen ihnen hinten die Haare lang bis auf die Schultern. Der eine war gebeugt, er mochte an die sechzig sein, mit grauen Strähnen und dunkler Haut. Der andere, der ihn um Haupteslänge überragte, konnte kaum zwanzig Jahre zählen. Er hatte rotblondes, leicht gekräuseltes Haar, helle Haut mit Sommersprossen und ein ebenmäßiges, freundliches Gesicht. Sie sahen über das Meer in Richtung der Sonne, die, hinter einer Wolke verborgen, sich dem Horizont näherte.

„Warum hast du mich hierher geführt?“, fragte der Jüngere und beobachtete ein Hermelin, das mit unruhigen Bewegungen den Strand nach etwas Essbarem absuchte.

„Damit du lernst, es als Gottes Wille anzunehmen. Ich weiß, dass du seitdem nicht mehr hier warst.“

Padraich blickte sich um. Alles schien unverändert: Die grünen Hügel, die Fischerkate, die Landzunge, hinter der die Felseninsel lag, und der Strand, an dem Memilians Leiche angeschwemmt worden war.

„Du und Kilian, ihr habt bereut und gebüßt“, sagte Eirenäus ruhig. „Dem reuigen Sünder verzeiht Gott.“ Padraich nickte, doch ohne wahre Überzeugung. Wenn es nur leichter wäre, sich selbst zu verzeihen. Das eigene Gewissen war schlimmer als die Qual der fünfzig Peitschenhiebe, mit einer Woche Unterbrechung verabfolgt, da die Bußregel nicht mehr als fünfundzwanzig auf einmal zuließ. Schlimmer auch als das anschließende Jahr bei Wasser und Brot, verschärft durch ein absolutes Schweigegebot. Denn selbst nach Verbüßung der Strafe war die Erinnerung an das Schreckliche kaum verblasst, sie hatte ihn bei Tag verfolgt und sich bei Nacht in seine Träume geschlichen.

Mit Kilian hatte er kein Wort mehr gewechselt. Aus dem einst fröhlichen Jungen war ein starr blickender, hagerer Mann geworden, dem der Abt auferlegt hatte, mit einem Boot aufzubrechen, um sich bei der Suche nach Brendans Insel dem Urteil Gottes zu unterwerfen. Von geradezu fanatischem Eifer erfüllt, hatte er ein großes Curragh mit zwei Masten gebaut und dieses mit drei Gefährten bestiegen. An einem Sommertag vor einem Jahr war das Boot am Horizont verschwunden. Padraich, der eine Woche zuvor das Mönchsgelübde abgelegt hatte, war nicht zur Verabschiedung gekommen.

„Morgen werde ich aufbrechen, um mein Bußgelübde zu erfüllen“, sagte er leise.

Eirenäus nickte. „Ich weiß, wie schwer es ist, für immer ins Exil zu gehen. Aber auch Abraham folgte Gottes Ruf ohne Zögern.“ Er stellte sich vor den Jüngeren, legte ihm seine Hände auf die Schultern und sah ihm fest in die Augen: „In Zukunft sollen das Wort Gottes und der Glaube deine wahre Heimat sein.“ Der alte Ägypter schwieg einen Augenblick und ließ seinen Blick über das Meer wandern. „Du hast das Weiße Martyrium gewählt, den Aufbruch in die Fremde. Damit bringst du Gott das größte Opfer, das es für einen Iren gibt. Deshalb wirst du nie alleine sein. Wohin dein Weg dich auch führt, Gott wird über dich wachen!“

Padraich schluckte schwer und nickte, dann schlugen sie den Weg zum Kloster ein. Dort bat ihn Pater Eirenäus in seine Zelle und nahm ein kleines Buch von einem Brett an der Wand.

„Nimm es, ich habe es vor vielen Jahren mit eigener Hand geschrieben. Es enthält das Evangelium des Lukas und die Briefe des Apostels Paulus mit dem Kommentar des Pelagius. Aus dieser geistigen Heimat kann dich niemand vertreiben!“

„Danke, Pater.“ Padraich kniete nieder und der alte Mann segnete ihn, bevor er noch etwas von dem Brett nahm, das er dem jungen Mönch reichte. Dieser betrachtete verwundert den kleinen, rundlichen Stein. „Sieht das nicht aus wie ein Seeigel?“, fragte er zurückhaltend. „Was soll ich mit einem Amulett?“

„Ja, das ist ein Seeigel. Ich habe ihn in meiner ägyptischen Heimat gefunden, nahe bei den Pyramiden, die einst der heidnische Pharao von den Israeliten hat erbauen lassen. Gott ließ ihn nach der Sintflut zu Stein werden. Nimm ihn mit als ein Zeichen, dass für den Herrn nichts unmöglich ist.“ Und als der alte Mann merkte, dass Padraich noch immer zögerte, drückte er ihm den Stein fest in die Hand. „Nimm ihn nicht für dich, sondern für jemand anderen, der zweifelt. Eines Tages wirst du einen Menschen treffen, dem du von ganzem Herzen Glück wünschst. Dann gib ihm den Stein. Oder ihr …“

***

Am nächsten Tag, als die Sonne über den Horizont stieg, brach Padraich auf. Der Abt, der zugleich auch Bischof war, hatte ihn eine Woche zuvor zum Priester geweiht, damit er das Sakrament der Taufe spenden konnte. Jetzt segnete ihn der alte Mann und gab ihm eine Abschrift des Buches mit der Erzählung von Brendans Seefahrt mit, dazu einige Briefe sowie einen zusammengefalteten Pergamentbogen mit den Weisheiten Salomos. „Höre meinen Rat: Sage immer die Wahrheit, sei stets friedfertig – vor allem aber halte dich von Häretikern wie Juden fern!“

Padraich nickte, verabschiedete sich schweren Herzens von den Mönchen und vergaß auch den alten Cutbercht nicht, den er häufig besucht hatte. Der ehemalige Torhüter war inzwischen zu schwach, um noch zu arbeiten, so dass er in einer Hütte neben der Schmiede sein Gnadenbrot essen durfte. „Jaja, so schnell geht es“, lächelte der Alte. „Gestern noch warst du ein Junge am Klostertor … und heute brichst du auf, um den Heiden das Evangelium zu predigen. Gott beschütze dich!“ Padraich erwiderte das Lächeln und nahm den Mann, den er nie wiedersehen würde, fest in die Arme.

Später, auf einer kleinen Anhöhe, einige Hundert Schritte entfernt, warf er noch einmal einen Blick zurück. Seine bisherige Heimat lag ruhig im Morgenlicht, umgeben von grünen Wiesen. Spitz ragte das Kirchendach über den dunklen Steinkreis, nach dem das Kloster, wie Padraich inzwischen wusste, seinen Namen Caisel hatte. Rauchfäden stiegen aus der Brauerei, dem Gästehaus und der Küche in den Himmel. In der Ferne konnte Padraich das graublaue Meer erkennen, das im Dunst des Horizonts verschwamm. Alles war wie immer und nichts würde sich ändern, nur weil ein Mitglied der Gemeinschaft zu einer Pilgerfahrt aufbrach, deren Ausgang allein in Gottes Händen lag.

Er wandte sich abrupt um und schlug den Weg nach Nordosten ein. Sein erstes Ziel war Kloster Clonfert, wo der heilige Brendan begraben lag. Danach wollte er seine Wanderung bis Bangor im Nordosten, dem Kloster Columbans, fortsetzen. Von dort aus müsste sich ein Schiff finden lassen, das ihn nach Britannien übersetzen würde.

Padraich war für die Pilgerschaft gerüstet, wie es die Tradition gebot. Über seiner weißen Leinentunika trug er einen braunen Wollmantel mit Kapuze, vom Gürtel baumelte eine Wasserflasche und über der Schulter hing ein Leinensack mit etwas Wegzehrung und dem Brendan-Bericht. Seine festen Sandalen waren neu, seine Hand umklammerte einen mannshohen, oben gebogenen Knotenstock und am Hals hing ein Beutel mit dem Büchlein sowie den zusammengefalteten Weisheiten Salomos. Er kannte die heiligen Schriften, sprach Latein und Griechisch, hatte jahrelang gelernt, was es an Wissenswertem gab, und dazu noch manch guten Rat vom Kellermeister mit auf den Weg bekommen.

Trotzdem fühlte er sich anfangs unwohl, als täte er etwas Verbotenes, indem er sich von dem Steinwall des Klosters entfernte, in dem er den größten Teil seines Lebens verbracht hatte. Doch allmählich gewöhnte er sich an die Weite der Hügellandschaft, die sich vor ihm erstreckte, und er genoss seine neu gewonnene Freiheit. Neugierig musterte er die kleinen Rundhäuser eines Dorfes, sah Schafe auf der Weide grasen und erwiderte freundlich den Gruß der Bauern, die ihm begegneten. Einmal überholte ihn ein Reiter, der ein zweites Pferd mit sich führte und ihm anbot, seinen Weg auf dessen Rücken fortzusetzen. Doch musste er dankend ablehnen – die Klosterregel verwehrte Mönchen das Reiten.

Am späteren Nachmittag kam die Sonne hinter den Wolken hervor, wärmte seinen Hinterkopf und ließ die gelben Löwenzahnblüten im Grün der Wiesen aufleuchten. Er fühlte sich noch nicht müde, und so setzte er seine Wanderung fort, ging mit stetem, weit ausgreifendem Schritt, bis der rote Feuerball nur noch knapp über dem Horizont schwebte und sein schräg vor ihm über den Weg kriechender Schatten zu übermenschlicher Länge angewachsen war. Ein Stück voraus stand eine Mühle, deren Rad sich quietschend drehte. Er überwand seine Scheu, klopfte an, wurde freundlich aufgenommen, zum Abendessen eingeladen und bekam eine Liegestatt in der Ecke zugewiesen.

Mehrfach schrak er aus dem Schlaf, von Angst erfüllt, er könnte die Glocke versäumt haben, die im Kloster zu den nächtlichen Gebeten rief. Aber nur das Rauschen des nahen Baches war zu hören, und plötzlich fühlte er sich unendlich einsam. Ausgestoßen kam er sich vor, nicht länger als Teil jener Gemeinschaft, die ihm so lange Schutz geboten und ihn davor bewahrt hatte, sich der fremden, unbekannten Welt stellen zu müssen. Im Dunkeln tastete er nach dem Büchlein von Bruder Eirenäus und als seine Finger den glatten Ledereinband umschlossen, fand er zu guter Letzt Ruhe in dem Bewusstsein, dass Gottes Wort ihn stets richtig leiten würde.

Am nächsten Morgen stellte ihm die Müllersfrau mit verlegenem Lächeln einen Teller mit Brot und Käse hin, dazu ein Glas Milch. Er frühstückte unter den Blicken und dem Getuschel der vier Kinder, die den Mann mit der seltsamen Haartracht und den gefärbten Augenlidern von der Türe her anstierten. Doch als er ihnen zuwinkte, stoben sie kreischend davon.

Er setzte seinen Weg fort; aber die Aufbruchsstimmung von gestern wollte sich nicht wieder einstellen: Die neuen Schuhe scheuerten an seinen Füßen und der Himmel war voll grauer Wolken, die ein kalter Wind in seine Wanderrichtung zu treiben schien; bald fielen die ersten Regentropfen. Padraich zog missmutig seine Kapuze über den Kopf und marschierte weiter, setzte seinen Stab vor, machte zwei Schritte, hob den Stab an und setzte ihn erneut vor sich auf den Weg, der sich allmählich mit einer dünnen Schlammschicht überzog, in der seine Sandalen laut schmatzten. Stunde um Stunde ging er so, während das Wasser von seiner Kapuze tropfte, er zu frieren begann und seine Gedanken immer düsterer wurden.

Auf einmal hörte er hinter sich das Knirschen von Rädern und das Wiehern eines Pferdes. „Na, willst du nicht mitfahren?“, fragte eine Männerstimme, an der ihm sofort ihr melodiöser Wohlklang auffiel. Schlecht gelaunt sah er auf und erblickte einen vierrädrigen, von zwei Pferden gezogenen Wagen, der von einem etwa fünfzigjährigen Mann gelenkt wurde. Aus der Mitte des verschmitzten Gesichtes ragte eine Hakennase, zu deren beiden Seiten sich die hochgezwirbelten Enden eines Schnauzbarts reckten, während der lange Vollbart unten in zwei Spitzen auslief. Bekleidet war er mit einem Umhang, der aus roten, gelben, grünen und braunen Rechtecken zu bestehen schien, und erst jetzt bemerkte Padraich irritiert, dass die Mähnen der Pferde rot gefärbt waren.

„Na, komm schon hoch“, rief der Mann, „musst doch nicht heiliger tun als der große Padraich, der selbst mit dem Wagen gefahren ist!“ Er kicherte und machte eine Handbewegung, als wolle er etwas auf den Wagen schaufeln.

Zunächst war Padraich verärgert. Aber da der Mann Recht hatte und ein Stück voraus sich der Regen zu einem Gewittersturm zu steigern schien, kletterte er schließlich widerwillig auf den durch eine Plane geschützten Kutschbock.

„Ich bin Kevin, der Barde“, hörte er die singende Stimme sagen, nachdem er sich vorgestellt hatte, „und ein Gelehrter. Von mir kannst du was lernen! Ruhig, Sweeny!“ Bei diesen Worten wandte der Mann sich um und tätschelte einen großen Wolfshund, der im Dunkel des Wagens lag und drohend knurrte, als Padraich seinen Wanderstab in das Wageninnere schob. „Hab keine Angst, sonntags beißt er nicht!“, versicherte er seinem Mitreisenden leutselig. „Zumindest nicht so tief, nicht bis auf die Knochen.“

„Woher kennt der Hund die Wochentage?“, fragte Padraich misstrauisch. „Außerdem ist heute Dienstag, oder?“

„Dann sei besser auf der Hut!“ Der Mann kicherte wieder. Padraich dagegen blickte starr nach vorne und rührte sich nicht. Eine Zeitlang fuhren sie schweigend, während der Regen auf das Tuch trommelte, das über den Wagen gespannt war. Immer häufiger zuckten jetzt Blitze über den Himmel.

Nach einiger Zeit brach Padraich, der sich nun ein wenig sicherer fühlte, das Schweigen. „Danke, dass du mich mitgenommen hast.“

„Keine Ursache, die Pferde machen ja die Arbeit.“ Kevin winkte ab, langte nach hinten in den Wagen, holte einen Tonbecher hervor, aus dem ein kleiner Zweig ragte, zog diesen heraus und führte ihn unter andächtigem Drehen zum Munde.

„Ich liebe Honig“, nuschelte er genüsslich, den Zweig im Mundwinkel, während er den Becher zurückstellte. „Süßen Honig, heiße Bäder und gute Spottgedichte.“ Als er Padraichs erstaunten Blick bemerkte, fügte er hinzu: „Stell dir vor, du hasst deinen Nachbarn und willst ihm so richtig eins reinwürgen …“

„In diesem Fall sagt Christus, dass man seinen Feinden verzeihen soll!“

Kevin sah ihn an, als habe sein Hund soeben Lateinisch gebellt, und schüttelte den Kopf. „Nur weil er nichts von guten Spottgedichten verstand, Mann Gottes!“ Er rollte die Augen himmelwärts. „Ich bin nicht mehr als ein kleiner Barde der vierten Stufe. Aber die des höchsten Grades, des siebten, die können mit der Kraft ihrer Worte Kohl verdorren lassen, Kühen die Milch nehmen und Geschwüre im Gesicht verursachen. Glotz mich nicht so an, das können sie!“

„Ja, aber wer will denn solche Zauberer?“, fragte Padraich ungläubig.

„Wer sich von einem Stärkeren gekränkt fühlt und es ihm heimzahlen will. Man beauftragt einen Barden und macht ihm prächtige Geschenke.“ Kevin schob den Zweig von einem Mundwinkel in den anderen und schaute betrübt drein. „Ich kann leider nur Spottgedichte machen. Solche, die von Mund zu Mund gehen, so dass alle kichern, wenn der Gefoppte kommt. Aber die höchsten Barden, die verstehen es sogar, das Schlachtenglück zu wenden. Und was die dafür einsacken, mein Mönchlein, davon hast du nicht den Schimmer einer Kirchenkerze.“

„Ich weiß dafür, dass man sein Herz nicht an irdische Güter hängen soll“, gab Padraich verschnupft zurück.

„Oh heilige Einfalt!“, seufzte Kevin übertrieben in Richtung des Hundes, während er sich wieder den Honigtopf griff und seinen Zweig darin drehte. „Der hat noch viel zu lernen, Sweeny …“ Eine Weile lutschte er versonnen an dem Holzstückchen. Dann fragte er unvermittelt: „Warum bist du bei diesem Sauwetter unterwegs, statt gepflegt in deinem Kloster zu hocken?“

„Ich habe ein Gelübde geleistet, aufzubrechen, um das Evangelium zu predigen.“

„Hier in Irland?“

„Nein, ich will zuerst weiter nach Britannien …“

„Prächtig! Den Lumpen musst du es ordentlich eintränken!“, grollte der Barde. „Als ich mal dort war und wunderschön auf der Harfe gelärmt hatte, da wollte mich so ein fetter Sachse um den Lohn bescheißen. Gegen den hab ich vielleicht ein meisterliches Spottgedicht verfertigt! Nur war das vergebens wie ein Furz im Sturm. Als ich es vortrug, gespickt mit beißenden Vergleichen und so, da erntete ich nur stummes Geglotze, weil niemand dort unsere Sprache verstand.“ Kevin spuckte seinen abgekauten Zweig auf den Weg. „Frag die Dummbärte einfach, was sie gerade tun, und dann schärf ihnen ein, Gott habe genau das strengstens verboten. Vor allem kräftig mit dem Höllenfeuer drohen! Versprichst du mir das?“

Padraich musste unfreiwillig lachen, schüttelte aber den Kopf. „Nein, das kann ich nicht. Zum einen verstehe ich deren Sprache auch nicht …“

„Dann lern sie halt!“

„So lange bleibe ich nicht dort, außerdem sind das ja jetzt auch Christen …“

„Die? Na ja. Vielleicht sind die mal in der Nähe der Kirche in eine Pfütze gefallen und halten sich seitdem für getauft!“ Kevin holte sich einen neuen Zweig und kaute darauf herum. „Gut, du willst noch weiter. Wohin?“

„Nach Francia, dann nach Germanien, um dort die Heiden zu missionieren.“

„So berühmt bist du, dass die nach dir geschickt haben, weil sie das wollen?“

„Nein, aber …“

„Na, du bist mir einer. Stell dir mal vor, da käme so ein Heide aus Germanien hierher gestapft und finge an, dir ungefragt die Ohren von Wodan und Donar vollzugrunzen. Was würde mein Mann Gottes wohl dazu sagen?“

„Aber das ist doch etwas ganz anderes“, wehrte Padraich ab und hakte argwöhnisch nach: „Woher kennst du überhaupt deren Götter?“

„Na, ich bin doch zehn Jahre lang in die Schule gegangen. Wenn auch nicht im Kloster. Und wieso ist das etwas anderes?“

„Weil die Heiden nur Götzen anbeten, wir Mönche ihnen aber den wahren Glauben bringen. Wir retten sie vor der ewigen Verdammnis.“

„Höllenfeuer, ich sagte es doch. Na ja, mein Mönchlein, du machst das schon. Entschuldige mich einen Augenblick. Brrrr!“

Kevin brachte die Pferde überraschend zum Stehen, sprang behände zu Boden, dass der Schlamm spritzte, und rannte zu einem flechtenbedeckten Stein, der unweit des Weges aus der Wiese ragte. Mit ernstem Gesicht umschritt er den mannshohen Felsen, wobei er Unverständliches murmelte. Dann kehrte er zufrieden lächelnd zurück.

„Ich hab mich beeilt. Aber drei Umrundungen müssen schon sein, damit es wirkt.“

„Was wirkt? Und was ist das für ein Stein?“, wollte Padraich beunruhigt wissen.

„Ein Fluchstein, was denn sonst! Ich glaube, etwas Nützliches lernt man im Kloster nicht, oder?“

Padraich ging darauf nicht ein. „Und warum bist du da herumgelaufen?“

„Eine persönliche Angelegenheit. Nichts für einen Mann Gottes. Hat mit meiner Frau zu tun.“

„Du verfluchst dein Weib!?“

„Wir waren verheiratet, haben uns aber scheiden lassen. Ich weiß“, er tätschelte Padraich begütigend den Rücken, „dass die Kirche unsere Brehon-Gesetze nicht mag. Die sind aber gut!“ Wieder ertönte sein Kichern.

„Und du hast deine … nun ja, frühere Frau verwünscht?“

„Ach, nicht so richtig. Nur, dass ihr die Zähne ausfallen sollen und sie viele Warzen im Gesicht kriegt.“

„Warum denn das?“

„Familiengeschichten, nichts für Gottesmänner. Sonst kommst du mir mit Jesus und der anderen Wange, die man hinhalten soll. Wo willst du übrigens heute Abend dein Haupt betten?“, lenkte der Bärtige ab.

„Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Ich wollte einfach irgendwo fragen“, entgegnete Padraich zurückhaltend.

„Aber das ist falsch! Möchtest du denn deine heilige Anwesenheit an Unwürdige vergeuden?“

Padraich musste gegen seinen Willen schmunzeln. „So heilig bin ich ja nun doch nicht. Ein Strohsack genügt.“

„Ich wusste es ja“, stöhnte Kevin theatralisch und strich sich über den Bart, „das Milchgesicht muss noch viel lernen.“ Er hob den Zeigefinger. „Solange du mit mir reist, ist das Beste gerade gut genug. Ein berühmter Barde, der von einem heiligen Mann begleitet wird – die können doch nicht irgendwo absteigen! Aber wenn dir das nicht passt, dann runter von meinem Wagen und zurück in den Schlamm!“, schloss er barsch und seine ausgestreckte Rechte wies nach vorne, in den peitschenden Regen, der auf die Rücken der Pferde prasselte.

„Ich nehme an“, entgegnete Padraich, „dass du dir schon etwas ausgesucht hast?“

„So wahr ich hier sitze. Mit etwas Glück kommen wir heute noch zu einem der größten Bruden auf der ganzen Insel.“

„Einem was?“

„Ach, ich sag’s doch, im Kloster lernt man nichts! Das ist ein öffentliches Rasthaus, genau das Richtige für müde Reisende wie uns!“

„Ich habe aber nichts zum Bezahlen.“

„Das brauchst du auch nicht, alles ist frei. Dafür hat der berühmte Ri dieser Gegend dem Wirt immerhin zweihundert Kühe gestiftet, dazu das Haus. Na, bei so viel Gastfreundschaft lacht doch das Christenherz, oder?“ Er lachte polternd.

Padraich, der nicht wusste, was er mit dieser Information anfangen sollte, nickte nur. Dann zog er sein Büchlein heraus, schlug es auf und begann, halblaut zu lesen.

Wohl dem, der nicht wandelt

im Rat der Gottlosen

noch tritt auf den Weg der Sünder

Noch sitzt, da die Spötter sitzen …“

„Was brabbelst du da?“, unterbrach ihn Kevins Stimme. „Hat da einer was gegen mich verfasst? Genau bei den Spöttern sitze ich nämlich!“

„Das ist der erste Psalm Salomos“, seufzte Padraich und las von da ab so leise, dass der andere trotz gespitzter Ohren nichts mehr mitbekam. Die nächsten Stunden gelang es ihm, sich in den tröstenden Wohlklang der alten Worte zu versenken und die gelegentlichen Raunzereien des Barden zu überhören. Gegen Abend, als es wegen der grauen Wolkendecke schon früh dunkel wurde, erblickten sie ein Stück voraus ein schwankendes Licht. Beim Näherkommen erkannten sie, dass es eine Laterne war. Sie hing vor einem mit Schindeln gedeckten Haus, das an einer Wegkreuzung stand. Kevin sprang zu Boden und lief durch den Nieselregen zur Türe, die zwei geschnitzte Pfosten einrahmten. Dort nahm er einen kurzen Stab aus einer Nische und klopfte dreimal an. Ein rundlicher junger Mann öffnete und nach einer gestenreichen Unterhaltung rief der Barde mit feierlicher Stimme in Richtung des Wagens. „Komm, oh heiliger Mann, hier können wir weilen. Sogleich wird das heiße Bad unser harren.“

Als Padraich vom Wagen stieg, sprang Sweeny mit einem großen Satz herunter und der Mönch bemerkte erstaunt, dass das Fell des Hundes blau gefärbt war. „Es war nicht leicht, weil alles voll ist“, flüsterte Kevin verschwörerisch, „und ich musste mächtig mit deinen Wundern prahlen. Aber jetzt bekommen wir jeder ein eigenes Bett. Mit Federkissen und so. Also, wenn nachts jemand zu dir krabbeln will, mein schönes Mönchlein, dann schmeiß ihn raus. Es sei denn“, bei diesen Worten hob er die Stimme, „es sei denn, dieses zauberhafte Kind hier besucht dich.“ Dabei tätschelte Kevin die Wange einer jungen Magd, deren teigiges, sommersprossiges Gesicht sich bei dem Kompliment zu einem verlegenen Grinsen verzog.

Padraich errötete und wollte schon etwas erwidern, entschloss sich jedoch, Kevin lieber unter vier Augen ins Gewissen zu reden. Als er durch die Türe trat, sah er in der Mitte des Raumes ein Feuer flackern, über dem ein großer Kessel hing. Darum herum saßen etwa zwei Dutzend Männer auf langen, mit Fellen bedeckten Truhen. Zu beiden Seiten der Halle waren kleine Bretterverschläge zu erkennen, vor denen jeweils eine Bank stand. Die Magd wies ihnen zwei Schlafkammern zu, die fast zur Gänze von großen Betten ausgefüllt wurden, und führte sie anschließend ins Badehaus. Nachdem sie sich in einem großen Holzzuber voll dampfenden Wassers gründlich mit Seife abgeschrubbt hatten, suchten sie sich einen Platz in der Halle. Die Magd brachte ihnen zwei Holzschalen mit Suppe, in der dicke Fleischbrocken schwammen. Dazu reichte sie Brot und zwei Humpen, randvoll mit rötlichem Bier. Als das Mädchen gegangen war, räusperte sich Padraich.

„Kevin, ich muss mit dir reden. So geht das nicht weiter!“

„Ja, das fürchte ich auch“, ächzte der Barde. „Ein vergleichbares Plätzchen finden wir weit und breit so schnell nicht wieder.“

„Das meinte ich nicht, sondern deine gottlosen Reden. Du setzt dein Seelenheil aufs Spiel!“

„So? Ich rette dich vor dem Unwetter, besorge dir ein Nachtlager, handele also als wahrer Christ – Sweeny ist mein Zeuge!“ Er tätschelte den Kopf des blauen Hundes. „Aber du meinst, mich rügen zu müssen – ist das dein Dank?“

„Nein, aber du weißt, was ich meine. Vorhin hast du dein Weib verflucht und hier mit meinen Wundern geprahlt, obwohl es in den Zehn Geboten heißt: Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten!“

„Warte mal, das müssen wir klären. Habe ich irgendetwas wider dich gesagt, dich irgendwie herabgesetzt?“

„Natürlich nicht, aber …“

„Und sind Wunder Gottes nicht dazu da, die Zweifelnden zu bekehren und Fromme im Glauben zu bestärken?“

„Ja, sicher, aber ...“

Kevin unterbrach ihn erneut. „Haben Mönche wie du nicht Wunder gewirkt? Könntest du das nicht auch?“

„Mit Gottes Hilfe wäre es möglich, aber …“, wand sich Padraich.

„Schluss mit dem Ge-Abere! ‚Eure Rede sei ja ja, nein nein, alles andere ist von Übel‘ – so sagt die Heilige Schrift!“

„Das schon, aber …“

„Geht’s schon wieder los?“ Der Barde nahm beschwichtigend Padraichs Rechte. „Sieh her, ich wollte doch nur vorwegnehmen, was mit Gottes Hilfe geschehen kann. Darum habe ich dich gepriesen und dazu beigetragen, diese Seelen hier in ihrem Glauben zu bestärken. Was behagt dir daran nicht?“

„Dass du die Unwahrheit gesagt hast!“, entgegnete Padraich gereizt und zog seine Hand weg, „um uns ungerechtfertigte Vorteile zu verschaffen.“

„Dir wäre es also lieber, wenn diese armen Männer die Glaubensstärkung entbehren müssten?“ Der Barde sah ihn listig an. „Folglich möchtest du dein Bett gerne mit den zwei verlausten Fuhrleuten da drüben teilen, die dich schon die ganze Zeit so lüstern anstarren?“

„Natürlich nicht, aber dennoch würde ich nie lügen!“, erwiderte Padraich würdevoll.

„Na großartig“, knurrte Kevin und zwirbelte seine Schnurrbartenden nach oben. „Dann stell dich bitte hin und erkläre, dass du keine Wunder wirken kannst. Und vergiss nicht hinzuzufügen, dass du zu den beiden ins Bett kriechen möchtest und ergeben darauf wartest, dass sie dir nach Sitte der Söhne Sodoms beiwohnen …“

„Leise, Kevin“, Padraich sah sich verstohlen um, „die schauen schon zu uns herüber!“

„Ja und warum nicht? Je eher sie deine Wahrheit erfahren, umso besser!“

„Wir sollten uns nicht streiten“, lenkte Padraich ein. „Was hast du denn über meine angeblichen Wundertaten erzählt?“

Kevin rieb seine Hakennase und grinste verlegen. „Ach, nichts Besonderes.“

„Als da wäre?“ Der junge Mönch betrachtete ihn aus zusammengekniffenen Augen.

„Nun, ich meine … es ist nicht leicht, sich so schnell etwas auszudenken.“

„Komm schon, Kevin. Erleichtere dein Gewissen!“

„Na ja, wenn du darauf bestehst … Ich habe gesagt, einige Tagesreisen von hier sei ein im Gesicht entstellter Mann zu dir gekommen und habe dich angefleht, das Herz seiner Frau zu erweichen.“

„Warum das?“, fragte Padraich und trank den Rest seiner Suppe aus der Schale. Sogleich war die Magd zur Stelle und füllte sie erneut. „Was hatte die Frau getan?“

„Frag eher, was sie nicht tat. Sie wollte nicht mehr mit ihm …“, Kevin machte eine vielsagende Handbewegung, „nun, weil er eben so hässlich war.“

„Und? Soll ich etwa die Frau …?“

Kevin nickte. „Du hast ihr ins Gewissen geredet, für das Paar gebetet und dich vor die Hütte gesetzt, um Tag und Nacht zu fasten. So lange, bis sich die Frau mit Gottes Hilfe wieder zu ihrem Mann bekannte.“

Padraichs blaue Augen starrten den Barden fassungslos an. „Genau dieses Wunder hat der heilige Columbanus vollbracht …“

„Natürlich, aber der Wirt kannte die Geschichte nicht. Da siehst du übrigens, dass ich nichts Unchristliches erfinde.“ Kevin strich sich zufrieden über den Bauch. „Der gute Mann war so gerührt, dass er der Magd befohlen hat, uns besonders viel Fleisch in die Suppe zu tun, damit du bald wieder zu Kräften kommst.“

Beide schwiegen, während Padraich seine Schale musterte, mit den Schultern zuckte und sie dann leer löffelte. „Danke nochmals für die Fahrt“, sagte er und stand auf. „Ich gehe jetzt beten.“

„Auch für mein Seelenheil?“, fragte Kevin und kniff ein Auge zu.

„Ja“, Padraich musste lachen. „Dafür ganz besonders! Gute Nacht.“

***

Als er am nächsten Morgen aufbrach, schlief Kevin noch. Der Wirt bedauerte es sehr, dass der heilige Mann schon weiterziehen wollte, und drängte ihm einen Beutel mit frischem Brot und einem großen Käse als Wegzehrung auf. Padraich hatte ein schlechtes Gewissen, fühlte sich jedoch zugleich wunderbar erholt und musste sich eingestehen, noch nie so gut geschlafen zu haben. Während er die Landstraße entlangschritt, sann er immer wieder über Kevins Reden und dessen Behauptung nach, dass er noch viel lernen müsse. Hatte der Barde Recht oder war es nur der böse Geist, der ihm solche Gedanken einflüsterte? Fand er sich nicht geborgen in der Heiligen Schrift? Zuletzt verdrängte er die Gedanken und wiederholte mehrfach laut: „Gott wird mich leiten, mit seiner Hilfe werde ich es schaffen!“

Im Kloster Clonfert blieb er zwei Tage auf Einladung des Abtes, dem er das Buch mit Brendans Reisen überbracht hatte. Täglich betete er lange am Grab des heiligen Seefahrers und musste dabei an Kilian denken. Ob Gott ihn in das Land der ewigen Jugend geführt hatte? Oder ob das kleine Boot irgendwo in der unendlichen Wasserwüste leckgeschlagen und von den Wellen verschlungen worden war? Er schloss ihn in seine Fürbitten ein, ebenso seinen Vater, dessen Gesichtszüge in seiner Erinnerung immer mehr verblassten.

Eine Tagesreise entfernt lag Clonmacnoise, eine wahre Klosterstadt mit über tausend Mönchen. Auch hier wurde er freundlich aufgenommen und im Gästehaus untergebracht. Da er ein Schreiben seines Abtes vorwies, durfte er die Bibliothek benutzen, verglichen mit deren Ausmaßen ihm alles winzig erschien, was er bisher gesehen hatte. Eine große Halle erstreckte sich vor seinen Augen, gefüllt mit Pfostenreihen, an denen Lederbeutel hingen. Sie waren außen beschriftet, so dass man sofort erkennen konnte, welche Manuskripte sie enthielten. An einigen Tischen saßen Mönche, die Pergamentbögen glatt schabten und weiß grundierten. Ein Stück weiter tunkten andere ihre Federn in mit Tinte gefüllte Kuhhörner, um sorgfältig die zu kopierenden Texte abzuschreiben, während einige besonders Begabte damit beschäftigt waren, einzelne Seiten mit wundersam verschlungenen Ornamenten zu verzieren.

Padraich erkundigte sich bei einem kleinen, sommersprossigen Novizen nach Büchern über Britannien, dem nächsten Ziel seiner Reise. Als ihn der Junge fragte, ob er Gildas’ Schriften kenne, musste er verneinen, so dass ihm der Bibliotheksgehilfe bald einen kleinen Codex in die Hand drückte.

„Über den Niedergang Britanniens“, las Padraich, suchte sich einen freien Platz und schlug die vor einem guten Jahrhundert verfasste lateinische Chronik auf. Mit einem Male erstand aus den Reihen schwarzer Buchstaben eine Welt des Untergangs, von der er noch nie gehört hatte und die ihn in ihren Bann schlug. Er las vom einstigen Wohlstand Britanniens unter den Römern, die eine große Mauer zum Schutz vor den Barbaren des Nordens erbaut hatten, bevor sie die Provinz verließen. Er las, wie dennoch die wilden Pikten einfielen, und dass ein Bittbrief der Städte nach Rom, doch wieder Legionen zu entsenden, vergebens blieb. Er las, wie Vortigern, ein verblendeter Anführer der Britannier, zur Verteidigung sächsische Söldner anwarb, die mehr und mehr von ihresgleichen ins Land holten. Er las, wie die Forderungen dieser Seewölfe immer dreister wurden, wie sie zu plündern begannen, Frauen, Kinder und Priester erschlugen, die Altäre zertrümmerten und die Städte in Brand steckten. Er las, wie die verzweifelten Menschen sich schließlich um einen Britannier römischer Abstammung namens Ambrosius Aurelianus scharten, dem es mit Gottes Hilfe gelang, den Vormarsch der Sachsen zurückzuschlagen. Gefesselt folgte er Gildas’ Klage darüber, wie schnell anschließend all die Schrecken vergessen gewesen waren, ja dass sich weder der gottlose Sinn der Fürsten noch der lasterhafte Lebenswandel der Priester gebessert habe, obgleich, wie der fromme Mann anhand zahlloser Bibelstellen nachwies, Gottes Strafgericht gewiss sei.

Als er das Buch erschüttert aus der Hand legte, war der Abend schon hereingebrochen und die Glocke rief zum Gebet. Nach dem schweigend eingenommenen Nachtmahl ging Padraich hinunter zu dem Fluss, der sich unweit des Klosters durch die Hügel wand. Lange saß er auf einem Bootssteg, bis es dunkel wurde, Frösche quakten und der aufgehende Mond sich in dem leise plätschernden Wasser spiegelte. Sein Geist war zu aufgewühlt, um schon schlafen zu können, denn immer wieder gingen ihm dieselben Fragen durch den Kopf.

Warum ließ Gott es zu, dass die Menschen einander wie Wölfe zerfleischten?

Wie konnte Britannien, ein bereits christliches Land, so tief in Heidentum und Barbarei versinken, dass der Papst vor einem halben Jahrhundert erneut Missionare hatte entsenden müssen?

Padraich dachte an Memilian, an seine schrecklichen Erzählungen aus dem Frankenreich und seinen Tod in den kalten Fluten, und wieder peinigten ihn die Fragen.

Welche Schuld hatte der junge Mönch auf sich geladen, dass er so sterben musste? War es ein von Gott vorbestimmtes Schicksal oder hätten Kilian und er anders handeln können?

Wie konnten getaufte Königinnen und Könige, noch dazu aus der gleichen Familie, sich gegenseitig vergiften, erstechen und zu Tode foltern lassen? Weshalb zeigte sich Gott so langmütig und vertilgte nicht, wie einst in der Bibel, diese Schlangenbrut mit Feuer und Schwert?

Welchen Sinn hatte es, sein Leben der Bekehrung der Heiden zu widmen, wenn Christen sich so gebärdeten?

War es da nicht besser, als Einsiedler ganz der Welt zu entsagen und nur das eigene Seelenheil zu erstreben?

Natürlich kannte Padraich die Antworten der Kirche auf diese Fragen, doch heute erreichten sie sein Herz nicht, ließen ihn nur einsam und zweifelnd zurück. Nach Stunden erst ging er zum Gästehaus und kroch in das Bett, das er mit zwei anderen Reisenden teilte. Als einer begann, lautstark zu schnarchen, musste er an Kevin denken und sah nun die Lästereien des Barden in einem milderen Licht.

Nach einigen Tagen, in denen er gelesen hatte, bis seine Augen tränten, und er seinen Seelenfrieden in langen Gesprächen mit dem Abt des Klosters wiedergefunden hatte, brach er erneut auf. Inzwischen war er das Wandern gewohnt, genoss die sonnigen Stunden und ließ sich auch nicht durch Wind und Regen aus der Ruhe bringen. Nach einer Woche erreichte er das Kloster Bangor, dessen Abt ihn fragte, ob er einen Umweg machen könne, um seinem Amtsbruder auf der Insel Hy ein Schreiben zu überbringen. Gerne stimmte Padraich zu, da er so das berühmte Kloster sehen würde, das der heilige Columbanus vor fast einem Jahrhundert gegründet hatte. Mit etwas Herzklopfen bestieg er ein Segelschiff, das ihn auf der Klosterinsel absetzte, wo ihn der Abt herzlich begrüßte und einen ganzen Abend lang in ein Gespräch verwickelte, was die wahre Weise sei, das Datum des Osterfestes zu berechnen.

Mehrere Wochen lang musste Padraich seine Reise unterbrechen, da heftige Stürme über die Insel fegten, Brecher ans Ufer donnerten und kein Schiff in See stechen konnte. Wieder vergrub er sich in der Bibliothek, wo er sich in die Werke heidnischer Autoren wie Cicero, Tacitus, Seneca und Cassius Dio vertiefte. Da es im Kloster zahlreiche angelsächsische Mönche gab, nutzte er den Aufenthalt auch dazu, möglichst viele Worte dieser fremden, rauen Sprache zu erlernen. Als es endlich aufklarte, fand er kein Schiff nach Süden, sondern nur einen Fischer, der ihn nach Alba, den nördlichen Teil Britanniens, übersetzen konnte. Da Padraich gehört hatte, dass es unter den Pikten noch viele Heiden zu bekehren gäbe, dankte er Gott für diese Fügung und ließ sich an einem warmen Sommertag an der unbekannten Felsenküste absetzen.

***

Erwartungsvoll begann er seine Wanderung, doch diesmal war es nicht mehr die vertraute Heimat, sondern ein wildes, einsames und feindliches Land, das er zu durchqueren hatte. Die wenigen Hütten lagen weit verstreut, und die Wege dazwischen waren oft nicht mehr als Trampelpfade, die sich durch Wald und Gebüsch wanden. Bald ging das hart gewordene Brot zur Neige, dann der Käse und zuletzt konnte er sich nur noch von dem getrockneten Fisch ernähren, den ihm die Mönche mitgegeben hatten und den er stundenlang in Wasser einweichen musste, bevor er ihn kochen konnte. Er begann, Beeren und Pilze zu suchen und schalt sich einen Toren, nicht mehr über das Fischen oder Legen von Schlingen gelernt zu haben. Eines Nachts riss ihn zu allem Übel ein Heulen aus dem Schlaf, das immer näher kam, und als er auf einem Hügel den Umriss eines Wolfes erblickte, ließ er von da ab nachts das Feuer nicht mehr ausgehen. Die Menschen, denen er gelegentlich begegnete, glotzten ihn nur misstrauisch an, und wenn er auf sie zuging, um ihnen das Wort Gottes zu predigen, verschwanden sie im Gebüsch.

So beschloss Padraich nach einer Woche, sich nach Süden zu wenden, doch dicke, graue Wolken bedeckten seit Tagen den Himmel und machten jede Orientierung unmöglich. Immer mehr Zeit verbrachte er mit der Suche nach Beeren, Pilzen und Feuerholz, denn die Wölfe schienen jede Nacht näher an seinem Lager zu heulen. Einmal, als er sich gerade zum Schlafen niedergelegt hatte, musste er wieder aufspringen, um ein loderndes Scheit nach zwei glühenden Augen zu schleudern, die seine kleine Lichtinsel umkreisten.

Doch eines Nachmittags, nachdem er einen Pass überquert hatte, erstreckte sich vor ihm ein lang gezogenes Tal. In der Mitte glänzte ein See, am Ufer drängten sich einige runde Hütten, aus denen Rauchfäden in den Himmel stiegen.

Als Padraich sich dem Dorf näherte, begegnete ihm eine junge, schwarzhaarige Frau, die einen Korb voller Pilze trug. Er sprach sie an, und sie schien ihn zu verstehen, winkte ihm, ihr zu einem Haus zu folgen, dessen riedgedecktes Dach alle anderen überragte. Als er seinen Wandersack abstellte und durch die offen stehende Türe trat, sah er einen kräftigen, bärtigen Mann, der sich auf einer reich geschnitzten Liege räkelte.

„Wer bist du, was willst du?“, fragte der Herr des Hauses in einer Sprache, die dem Irischen nahe genug war, dass Padraich sie verstehen konnte.

„Ich bin ein wandernder Mönch. Ich erbitte eure Gastfreundschaft und möchte euch die Botschaft Christi bringen.“

Der Mann richtete sich auf, kratzte seinen Bart, und Padraich konnte erkennen, dass seine Arme mit roten und gelben Schlangenlinien bedeckt waren.

„Niemand soll sagen, dass Aed einem Fremden die Gastfreundschaft verweigert“, antwortete der Pikte. „Von deinem Gott habe ich schon mal gehört. Aber den brauchen wir nicht. Wir haben unsere“, er wies nach hinten, wo sich in einer Ecke eine geschnitzte Figur abzeichnete, „die wir kennen. Die reichen.“

„Nur sind das machtlose Götzen“, wandte Padraich ein, „während ich euch ...“

„Was habe ich dir eben gesagt?“, entgegnete der Mann in scharfem Ton, erhob sich und griff nach einem Speer. „Sehe ich aus wie einer, dessen Wort man verlacht?“

„Das gewiss nicht“, gab Padraich mit mehr Festigkeit in der Stimme zurück, als er wirklich empfand, „aber sehe ich aus wie einer, der sich fürchtet?“

„Vielleicht nicht heute“, erwiderte der Pikte mit seltsamem Unterton, „aber das kann sich morgen schon ändern …“ Die Männer musterten sich. Beide waren überdurchschnittlich groß, kräftig, hatten rotblonde Haare und lange Bärte, doch damit endete bereits jede Gemeinsamkeit.

Aed mochte etwa vierzig Jahre zählen, eine helle Narbe zog sich über seine Stirne und jede sichtbare Stelle seines Körpers bedeckten Tätowierungen. Bekleidet war er mit einem kurzen Umhang und einer Hose aus grobem Leinenstoff, über den Schultern trug er einen Mantel aus Biberfellen. An seinem Gürtel schimmerte der goldene Griff eines Dolches, der Schaft des mannshohen Speeres war mit bunten Schnitzereien und blauen Eichelhäherfedern verziert. Ein Häuptling, das Befehlen genauso gewohnt wie das Töten, stand Padraich gegenüber.

Dessen weiße Tunika war fleckig und eingerissen, sein dunkler Mantel starrte vor Schmutz und die ehemals kahle Vorderseite seines Kopfes wurde von einem feinen Haarflaum bedeckt. Sein ebenmäßiges Gesicht sah eingefallen aus, und mit einem Male fühlte er sich so schwach, dass er sich auf seinen Wanderstab stützen musste. Doch als er mit der Linken nach dem kleinen Buch griff, das er in einem Beutel um den Hals trug, verspürte er neue Kraft und hielt dem Blick des Pikten stand. Zuletzt knurrte der Häuptling.

„Du kannst bleiben. Wer es hören mag, dem erzähl von deinem Gott. Unter meinem Dach aber schweig davon.“

Als Padraich einwilligend nickte, rief Aed einen Jungen herbei, der den Mönch zu einer Hütte geleitete, die von einem alten, weißhaarigen Mann bewohnt wurde. Dort sollte sein Schlafplatz sein, und bald darauf brachte eine bucklige Frau einen Teller Gemüsesuppe, aus der der Schwanz eines gekochten Fisches ragte, dazu einen Kanten Brot und einen Krug Wasser. Padraich dankte Gott, bevor er aß und sich auf seinem Lager ausstreckte – für eine kurze Rast, wie er meinte. Doch als er wieder erwachte und aus der Hütte trat, stand schon die Morgensonne am Himmel. Er ging zum Ufer des Sees hinunter, beobachtete die Fischerboote und ließ seinen Blick über die umliegenden Berge schweifen, die von dichten Wäldern bedeckt waren. Auf dem Rückweg begegnete er einem Jungen, der seine Schafherde aus dem Dorf trieb und den Fremden scheu anstarrte. Plötzlich wusste Padraich nicht, wie er seine Missionsarbeit beginnen sollte. Im Kloster hatte alles so einfach geklungen, doch hier, in der Fremde, unter diesen einfachen Fischern, Bauern und Handwerkern, schien ihm die Heilige Schrift unendlich fern. So war er dankbar, als er die Frau traf, die ihn zu dem Häuptling gebracht hatte. Sie trug ein langes, hellbraunes Wollkleid und hielt ein kleines Kind auf dem Arm. Nach einigen Worten lud sie ihn ein, ihr zu dem Rundhaus zu folgen, das sie mit ihrer Familie bewohnte. „Ich heiße Ita“, sagte sie freundlich.

„Hast du auch Söhne?“, fragte sie unverblümt, nachdem er seinen Namen genannt hatte.

„Nein, ich bin nicht verheiratet“, antwortete er etwas verlegen.

„Wie traurig“, rief sie aus, „ein stattlicher Mann wie du braucht eine Frau!“

„Wir Mönche leben enthaltsam, nur für Gott.“

„Das ist nicht gut“, entgegnete Ita ernst. „Du hast nur noch nicht die Richtige getroffen.“

Padraich begann, ihr von seinem Gelübde zu erzählen, vom Leben der Mönche und dem Glauben, der sie dazu trieb, in die Welt hinauszuziehen.

„Irgendwann findest du bestimmt die richtige Frau“, unterbrach ihn Ita und legte den Kopf schief. „Meine jüngere Schwester könnte dir gefallen.“

„Sie gefällt mir sicher, wenn sie so ist wie du, nur verbietet es mir mein Glaube.“

„Ein dummer Glaube.“ Das kleine Kind weinte, und Ita gab ihm die Brust. „Ohne Frau keine Kinder, und ohne Kinder keine Mönche, nicht wahr?“

Padraich, der seinen Blick nun gesenkt hielt, antwortete geduldig. „Die gewöhnlichen Christen heiraten schon.“

„Dann bist du ein besonderer Priester?“

„So ähnlich. Unsere Priester können schon Frauen haben. Nur wir Mönche widmen uns ganz dem Dienst an unserem Gott. Da bleibt keine Zeit für eine Familie.“

Ita zuckte mit den Schultern und streichelte das Kind, das zufrieden schmatzte. „Zwei Tagesreisen entfernt wohnt ein Druide, der die Geister beschwört, Wunden heilt und uns Fruchtbarkeit bringt. Der hat sogar drei Frauen!“

Padraich lächelte. „Mein Gott ist der wahre Gott, stärker als alle Götzen.“

In diesem Augenblick näherten sich Schritte, und ein junger Pikte trat ein, einen Korb mit Fischen auf der Schulter.

„Das ist Maedóc, mein Mann“, strahlte Ita und umarmte den Fischer. Er war nur wenig älter als Padraich; schlank, schwarzhaarig und gut aussehend. Mit gewinnendem Lächeln begrüßte er den Fremden, nachdem er den Korb abgestellt und das Kind geküsst hatte. Padraich erwiderte den Gruß, doch etwas in seinem Innersten versetzte ihm einen Stich, als er die glückliche Familie sah. Eifersucht, tadelte er sich sogleich, ist ein Gefühl, das kein Mönch haben darf, und er beschloss, am Abend fünfzig Psalter extra zu beten. Aber da war noch etwas, etwas Furchtbares, etwas, dass er seit zwei Jahren nicht mehr gespürt hatte: Einen Moment lang schien ihm das Gesicht des jungen Mannes verschwommen, wie hinter einem Nebelschleier. Aber das konnte, durfte nicht sein …

Er wechselte noch ein paar Worte mit den beiden, dann verabschiedete er sich. Im Eingang wandte er sich um. „Maedóc“, sagte er, „hast du irgendetwas Gefährliches vor?“

„Nein, gewiss nicht“, lachte der junge Fischer. „Warum fragst du?“

„Nur so. Nimm dich in Acht.“

Als er nach dem Abendessen in seiner Hütte betete, hörte er unvermittelt die krächzende Stimme des Greises, der sich auf seiner Liege aufgerichtet hatte. „Hast du Angst?“

„Warum fragst du mich das?“

„Weil du zu deinem Gott sprichst. Ich war früher im Süden, weit jenseits der großen Mauer. Da habe ich Christen kennengelernt.“

„Ich bete nicht für mich, sondern für jemand anderen.“ Padraich zögerte. „Droht Krieg mit einem Nachbarstamm?“

„Wir leben mit allen in Frieden“, antwortete der Alte verwundert. „Es gibt viel Platz und nichts, für das es sich zu töten lohnt.“

„Leben hier Bären oder andere gefährliche Tiere?“

„Einige Wölfe vielleicht. Bären haben wir hier schon seit Jahren nicht mehr gesehen.“ Der Mann hielt kurz inne, setzte dann leise, fast flüsternd hinzu: „Und ihn auch nicht ...“

„Wen?“, fragte Padraich, der sich nicht sicher war, richtig verstanden zu haben.

„Man darf seinen Namen nicht nennen“, murmelte der Alte. „Das bringt Unglück.“

So sehr Padraich auch in ihn drang, mehr wollte er nicht sagen.

Die nächsten Tage waren eine ruhige Zeit für den jungen Mönch. Nachdem er einem gestürzten Jäger das gebrochene Bein geschient hatte, war er in jeder Hütte willkommen. Die meisten lauschten zwar höflich, wenn er von Christus sprach, doch niemand wollte mehr über den neuen Glauben wissen – bis auf Lugne, einen unscheinbaren Mann aus Eoforwic, einer Stadt im Süden. Er war einst als reisender Händler durch das Land gezogen, in dem Dorf erkrankt und von einer Frau gepflegt worden, die er dann geheiratet hatte. Nach einem längeren Gespräch gestand er, selbst Christ zu sein, dies aber aus Angst vor dem Häuptling niemandem außer seiner Frau gesagt zu haben. Durch ihn erfuhr Padraich, dass das Dorf weit nördlicher lag, als er angenommen hatte, so dass er allein bis zur großen Mauer schon über zehn Tage brauchen würde.

Am Abend des vierten Tages, den Padraich im Dorf verbrachte, lud ihn Aed in sein von Fackeln erleuchtetes Haus ein.

Inmitten der Dorfältesten saß ein ihm unbekannter älterer Mann. Der Fremde war mittelgroß, hager, trug eine Kette aus Bärenzähnen und Bernsteinperlen um den Hals. Sein stechender Blick maß Padraich von Kopf bis Fuß, dann griff er sich den Metkrug und trank schlürfend, während sein Adamsapfel wippte.

„Das ist also der neue Wunderheiler“, grunzte er und rülpste laut, während die umliegenden Gespräche verstummten und sich die Blicke auf die beiden Kontrahenten richteten.

„Ich tat nur, was jeder getan hätte“, entgegnete Padraich ruhig und nahm den ihm gereichten Krug.

„Was willst du hier?“, fragte der Fremde herausfordernd, offenbar der Druide, von dem Ita gesprochen hatte.

„Ich bringe das Wort Christi. Ein Glaube des Friedens und der Versöhnung.“

„Ein Gott für Schwächlinge“, knurrte der Zauberer. „Oder stimmt es etwa nicht, dass euer Prophet von den Römern gekreuzigt wurde?“ Ein Murmeln lief durch die Reihen.

„Ja, er war so mutig, sein Leben für uns Menschen zu opfern“, erwiderte Padraich. „Aber in diesem Haus rede ich nicht darüber, das habe ich Aed versprochen.“

„Also bist du auch ein Feigling?“, stichelte der andere.

„Wenn für dich jemand ein Feigling ist, nur weil er Beleidigungen nicht mit der Faust vergilt, dann glaub das nur!“

„Aufhören! In meinem Haus wird kein Gast beleidigt!“ Aed schlug mit der Faust auf den Tisch, dass der Met aus den Krügen spritzte. „Redet meinetwegen von Weibern oder eurer Verdauung!“

Just da wurde unter Gejohle ein Spieß mit einem gerösteten Ferkel hereingetragen. Bald schmatzten alle zufrieden, und niemand wollte mehr über Götter streiten. Man sprach von der Ernte, wie viele Schafe Junge werfen würden, von baldigen Hochzeiten und den Kostbarkeiten, die es in den Städten des Südens gab. Padraich saß satt, aber noch immer verstimmt, inmitten der Männer, trank seinen Met und hatte gerade beschlossen, am nächsten Tag nach Süden aufzubrechen, als draußen laute Stimmen zu hören waren. Die Türe flog auf und ein Mann mit verzerrtem Gesicht stürzte herein, der wild gestikulierend Satzfetzen und Worte hervorstieß, die Padraich kaum verstehen konnte. Alle sprangen auf, ergriffen die Fackeln und liefen zum Seeufer.

„Was ist geschehen?“, rief der Mönch einem der Dorfältesten zu, der neben ihm rannte.

„Er ist wiedergekommen“, keuchte der Mann. „Er hat einen Fischer getötet.“

„Wer?“, schrie Padraich, doch der andere eilte nur schwer atmend weiter.

Am Ufer hatten sich die Einwohner des Dorfes versammelt. Männer mit Fackeln bildeten einen großen Lichtkreis, jenseits dessen alles in graublauer Nacht versank. Der Mond drang kaum durch die Nebelschwaden, die über dem See lagen und wie bleiche Finger nach dem Ufer zu greifen schienen. Als Padraich näher kam, hörte er eine Frau schreien. Es waren spitze, abgehackte Laute, denen eines verwundeten Tieres gleich, die in Schluchzen übergingen und schließlich verstummten. Als er die Menge erreichte, war nichts außer dem Zirpen der Grillen zu hören. Padraich drängte sich durch die schweigenden Menschen, bis er die Fackelträger erreichte. In der Mitte der Fläche lag ein Mann auf dem Rücken, von dem nur ein Bein zu erkennen war, denn über Brust und Kopf hatte sich die trauernde Frau geworfen. Ihr Körper schien von Krämpfen geschüttelt zu werden, die Hände zuckten, öffneten und schlossen sich, ihr schwarzes Haar war aufgelöst. Padraich verspürte eine schreckliche Vorahnung, schob einen Fackelträger beiseite, lief zu ihr und legte die Hand auf ihre Schulter. Sie blickte auf, und er fuhr zurück, als habe ihn ein glühendes Eisen berührt. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt, die Augen vor Schreck geweitet, der Mund halb offen. Doch das schlimmste war die Mischung aus Tränen und Blut – Blut, das auch ihre Arme und ihr Kleid befleckte. Blut, das von Maedóc stammte, dessen verkrümmter Körper unter ihr lag, das rechte Bein unterhalb der Hüfte nur mehr ein roter Stumpf.

„Was …“, fragte Padraich leise, „was ist geschehen?“

Ita starrte ihn bloß an. Zitternd wies ihr ausgestreckter Arm in Richtung des Sees. „Da, da draußen …“

„Was ist da draußen?“, insistierte er.

Die Frau zögerte, dann formten ihre Lippen unhörbar ein Wort.

Padraich beugte sich tiefer und sah ihr ins Gesicht. „Wer hat das getan?“

„Niseag!“

„Niseag?“, wiederholte Padraich irritiert.

„Der Wasserdrache!“ Ita heulte auf, wandte sich ab und warf sich wieder über den Toten.

Padraich bekreuzigte sich und ging hastig zum Ufer. Dort stand der Häuptling und sprach leise mit den Fischern, die ihre Boote ans Ufer gezogen hatten. Wieder und wieder, als könnten sie es nicht fassen, sprudelten sie ihre Geschichte hervor, zu der jeder noch schrecklichere Einzelheiten beizutragen wusste: Sie seien ausgefahren, um nachts beim Fackelschein zu fischen, da habe Maedóc Schwierigkeiten beim Einholen des Netzes gehabt. Lachend sei er in den See gesprungen, um das Netz zu lösen und habe ihnen noch zugewinkt, als auf einmal das Wasser zu brodeln angefangen habe. Auf die Schreie Maedócs hin seien sie sofort zu ihm gerudert, hätten noch gesehen, wie er mit irgendetwas Gewaltigem gekämpft, um sich geschlagen habe, dann sei er kurz unter Wasser gezogen worden, doch gleich danach wieder aufgetaucht. Mit vereinten Kräften hätten sie den regungslosen Körper in eines der Boote gezogen, um sofort ans Ufer zu rudern, doch sei jede Hilfe zu spät gekommen.

Mit versteinerter Miene hörte der Häuptling zu, ballte stumm die Faust und blickte sich um. Sein Blick streifte erst den Druiden, dann Padraich, und plötzlich verzogen sich seine Lippen zu einem schmalen Strich.

„Vorhin haben sich zwei Priester über ihre Götter gestritten.“ Er sprach jetzt mit lauernder Stimme, die sogleich die Aufmerksamkeit der Umstehenden auf sich zog. „Jetzt können sie uns ihre Macht beweisen.“ Aed wies auf den See. „Seht ihr da draußen Maedócs Boot?“

Alle starrten auf die schwarz glänzende Seeoberfläche, über der Nebelschwaden hingen. Einige Steinwürfe entfernt zeichnete sich ein kleiner Rumpf ab.

„Wer von euch wagt es, unter dem Schutz seines Gottes hinauszuschwimmen, um das Boot zurückzuholen?“ Er sah den Zauberer an. „Wir kennen uns schon viele Jahre. Du sollst den Vortritt haben.“

Der hagere Mann befingerte seine Bärenzahnkette. Sah sich um wie ein Tier in der Falle. Schüttelte den Kopf.

„Das geht nicht … Niseag ist erzürnt. Er ist ein mächtiger Dämon …“ Er trat einen Schritt zurück. „Nein, sich jetzt ins Wasser zu wagen, wäre Tollheit. Es würde ihn nur reizen.“

Einen Augenblick herrschte Schweigen, bevor sich der Häuptling Padraich zuwandte.

„Und du, Christenpriester?“

Durch Padraichs Kopf wirbelten die Gedanken. Angst würgte ihn beim Anblick des blutigen Körpers am Boden. Sein eigener Schweißgeruch stieg ihm in die Nase. Er starrte auf die dunkel glänzende Wasserfläche, auf der sich die Mondsichel spiegelte

Da hörte er eine leise Stimme fragen: „Du kannst nicht schwimmen?“

Padraich sah zur Seite, gewahrte Lugne, nickte stumm, beschämt. Da straffte der andere seinen Körper, trat vor und erklärte. „Ich werde es tun. Ich bin Christ. Lange habe ich mich nicht zu meinem Glauben bekannt. Heute hat diese Feigheit ein Ende!“

Eine Frau schrie auf, kam herangerannt und versuchte, ihn zurückzuhalten, doch Lugne riss sich los. Durch die Menge lief ein Raunen, während er zum Ufer ging und seinen Umhang zu Boden fallen ließ. Ohne seinen Schritt zu verlangsamen, setzte er seine Füße ins Wasser. Schnell wurde es tiefer, reichte ihm bis zu den Knien, umspülte seine Oberschenkel. Seine Tunika blähte sich kurz auf, als er sich nach vorne sinken ließ und zu schwimmen begann. Mit ruhigen Bewegungen, die nur kleine Wellen ans Ufer schlagen ließen. Langsam wurde sein Kopf kleiner, näherte sich dem Boot. Alles blieb ruhig. Padraich hörte den Mann neben sich erleichtert ausatmen. Allmählich ließ die Anspannung nach. Hinter ihm murmelte jemand Unverständliches, erste Schritte knirschten auf dem Uferkies.

Eine Bewegung am linken Rand seines Gesichtsfeldes ließ Padraich aufmerken. Es schien, als pflüge ein Baumstrunk durchs Wasser. Etwas näherte sich dem Schwimmer. Ein Schrei, jetzt hatte es einer der Männer am Ufer bemerkt. Lugne wandte den Kopf, änderte dann seine Richtung. Nur weg, weg von diesem Etwas! Seine Bewegungen wurden hastig, Wasser spritzte. Er schwamm, das Gesicht in Todesangst verzerrt, wie ein Wahnsinniger aufs Ufer zu. Doch was auch immer hinter ihm her war, schoss noch schneller durch die von kleinen Wellen geriffelte Oberfläche. Mit einem Mal war ein seltsames Geräusch zu vernehmen: ein Knurren, das sich zu einem zischenden, grollenden Laut steigerte, wie ihn Padraich noch nie vernommen hatte. Lugne schwamm um sein Leben, verfolgt von einem großen, weit aufgerissenen Maul. Rasch kam es näher, war jetzt nur noch ein Dutzend Schritte hinter ihm. Wenige Herzschläge noch und es würde den Schwimmer fassen, seine Zähne in den Körper des Mannes schlagen, ihn zerfetzen und in die Tiefe reißen.

Padraich schob die Menschen beiseite, lief ans Ufer, schlug weithin sichtbar das Kreuz in die Luft. So laut er konnte, rief er auf den See hinaus: „Im Namen Gottes! Nicht weiter! Rühre diesen Mann nicht an! Kehre um!“

Die Worte verhallten über der Wasserfläche. Am Ufer standen alle wie versteinert. Dann plötzlich war nur noch Lugnes Keuchen und das Klatschen seiner hastigen Schwimmbewegungen zu vernehmen. Das Ungeheuer dagegen schien ruckartig in seiner Bewegung zu verharren, noch einmal ließ es ein drohendes Knurren ertönen, machte kehrt, tauchte ab und verschwand.

Kurz darauf hatte Lugne das Ufer erreicht. Erschöpft stolperte er ans Land, triefend vor Wasser. Padraich fing ihn auf, spürte das Herz des Mannes pochen, hörte sein Keuchen und achtete nicht auf die Nässe, die auch seine Tunika durchdrang. Er hörte das Schluchzen der Frau, die sich herandrängte, um ihren Mann in die Arme zu schließen. Eine Zeitlang standen sie so zu dritt, umringt von den Bewohnern des Dorfes, die untereinander tuschelten und immer wieder auf den See hinausblickten. Doch Niseag zeigte sich nicht mehr.

Zuletzt näherte sich der Häuptling. „Ich glaube, ich habe dir und deinem Glauben Unrecht getan. Predige, so viel du willst. Sogar in meinem Haus“, fügte er mit sichtlicher Überwindung hinzu und ging mit schweren Schritten zum Dorf zurück.

Padraich blieb nun doch noch eine Woche, in der er fast ein Dutzend Dorfbewohner taufen konnte, darunter auch Maedócs Witwe Ita.

„Aber nur, wenn ich nicht Mönch werden muss!“, war ihre Bedingung gewesen. „Irgendwann brauche ich wieder einen Vater für meinen kleinen Sohn“, hatte sie unter Tränen ergänzt, „irgendwann. Wenn ich nicht mehr trauere und den Richtigen treffe.“ Dabei hatte sie Padraich tief in die Augen gesehen, so dass dieser unwillkürlich den Blick niederschlug. „Auch dir wünsche ich, dass du eines Tages die Richtige triffst. Alleine sein ist nicht gut!“

Die meiste Zeit widmete Padraich der Unterweisung Lugnes, der die kleine Gemeinde leiten sollte. „Kannst du mich zum Priester machen, so dass ich taufen kann?“, hatte er den Mönch gefragt, doch dieser musste verneinen. „Ich kann dich nicht zum Priester weihen. Aber wenn du mich auf dem Weg nach Süden begleitest, bis zu deiner Heimatstadt Eoforwic, so werden wir dort einen Bischof finden, der das Sakrament spenden kann.“

So waren sie gemeinsam aufgebrochen, vom Häuptling reich mit Vorräten versorgt. Nach zehn Tagen Wanderung gelangten sie zu der Römermauer, die Gildas beschrieben hatte. Mehr als drei Mann hoch zog sich das ungeheure Bauwerk über die Hügel. Fassungslos durchschritt Padraich eine von Brennnesseln eingerahmte Pforte, hinter der sich ein verlassenes, von Bäumen überwuchertes Kastell erstreckte. Eine weitere Woche später erhoben sich die Mauern und Türme von Eoforwic vor ihnen.

Nachdem sie den Bischof aufgesucht hatten, durchwanderte Padraich, der noch nie eine ehemalige Römerstadt gesehen hatte, die verfallene Pracht. Staunend befühlte er die bemoosten Säulen des Forums, sah den blauen Himmel durch zerfallene Tempeldächer und die leeren Fensterhöhlen einer großen Halle lugen und ging zu der kleinen Kirche, die an der Stelle stand, an der einst Konstantin von seinen Soldaten zum Kaiser ausgerufen worden war.

Padraich spürte, wie sehr er sich in den letzten Wochen verändert hatte, wie sein Vertrauen in Gott gewachsen war. Eines Tages, das ahnte er, würde er auch nach Rom kommen, der Stadt des Papstes. Und irgendwann vielleicht sogar in die Kaiserstadt Konstantinopel.

Sie kamen bis Konstantinopel

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