Читать книгу Sie kamen bis Konstantinopel - Frank Stefan Becker - Страница 6
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Prolog
Allahs Schwert …
(674 n. Chr.)
„Ihr werdet gewiss Konstantinija erobern. Vortrefflich der Führer und das Heer, die es nehmen.“
Mohammed zugeschriebener Ausspruch (Hadith der Umm Haram)
Als der rote Feuerball über die blaugrauen Berggipfel stieg, frischte der Wind auf. Er kräuselte das Meer und ließ das Spiegelbild der Sonne in zahllose Lichtflecken zerfallen, die funkelten, als habe jemand eine Handvoll Diamanten über die türkise Fläche gestreut. Hunderte von Schiffen begannen sanft zu schwanken. Ihre grünen Wimpel flatterten, lose Taue pochten an die Masten und Wellen schmatzten leise gegen die hölzernen Rümpfe.
Der hagere, sonnenverbrannte Mann mit dem Turban beugte sich ein letztes Mal gen Südosten. Er murmelte die Schlussworte seines Morgengebetes, bevor er sich mit leisem Ächzen erhob, die Glieder streckte und die kleine Matte zusammenrollte, die auf dem Deck ausgebreitet lag. Mehr als die Hälfte seines Lebens hatte Daud dem Djihad gewidmet, dem Bemühen um den wahren Glauben. Manchmal bedauerte er es, dass es ihm nicht vergönnt gewesen war, schon mit den ersten Kriegern zu reiten. Mit den Kampfgenossen des Propheten, gepriesen werde sein Name, die aus der Wüste hervorgebrochen waren, um einem Sandsturm gleich die Reiche der Ungläubigen hinwegzufegen. Doch damals, dachte er dann spöttisch, hatte noch Furcht vor dem Meer die Herzen beherrscht. Wenn heute dagegen sein Blick durch den Mastenwald zu den Mauern der fernen Stadt vordrang, so erfüllte ihn unbändiger Stolz auf das, was die Gläubigen im Namen Allahs, des Allmächtigen, geschaffen hatten: Die stärkste Flotte des Meeres, das die Rum einst als das Ihrige betrachtet hatten.
Hier war die letzten Jahre sein Platz gewesen – am Bug stehend, von salziger Luft umweht, den Blick nach vorne gewandt. Hierher gehörte er, auf die Planken seines Schiffes, des zweitgrößten der Flotte. Saif ud-Din, Schwert des Glaubens – so nannte man ihn auf den Schiffen, die ihm der Kalif in seiner Gnade unterstellt hatte. Er war ein Teil jener unaufhaltsamen Woge, die Insel um Insel für das Dar al-Islam eroberte, unaufhörlich dessen Grenzen vorschob und das grüne Banner an Küsten aufpflanzte, von denen früher nicht einmal die Märchenerzähler zu berichten gewusst hätten.
Aber noch immer gab es das Dar al-Harb, das Haus des Krieges. Dort lebten die Feinde, denen Allah ein schreckliches Los zugedacht hatte: „Für die Ungläubigen sind Kleider aus Feuer bereitet und siedendes Wasser soll über ihre Häupter gegossen werden, wodurch sich ihre Eingeweide und ihre Haut auflösen. Geschlagen sollen sie werden mit eisernen Keulen. Sooft sie versuchen, der Hölle zu entfliehen aus Angst vor der Qual, so oft sollen sie auch wieder in dieselbe zurückgejagt werden mit den Worten: ‚Nehmt nun die Strafe des Verbrennens hin.‘“ So stand es in der zwanzigsten Sura des Korans, und Daud, der das ganze Buch auswendig konnte, hatte diese Zeilen in letzter Zeit oft wiederholt. Doch die Kräfte der Ungläubigen schwanden, und es wurden immer weniger, die sich weigerten, die Herrschaft des Islams anzuerkennen. Dieser Kampf sollte Dauds letzter sein, dann war er am Ziel. Er würde heimkehren, endlich wieder das Haus mit dem plätschernden Brunnen im Hof betreten, das Gesicht in den dunkelblonden Locken seiner jungen Frau vergraben und seinen kleinen Sohn an sich drücken.
Lange blickte er zu den Feinden hinüber, die jetzt gewiss zwischen den Zinnen der Stadtmauer hervorspähten. Kurz stellte er sich vor, dort eine vertraute Gestalt zu erkennen, doch die Entfernung war zu groß. Dennoch spürte er einen leichten Stich im Herzen, hatte er selbst doch einst eine Ungläubige geliebt. Aber sie hatte ihn hintergangen, und sein Wohlwollen war in Hass und Rachsucht umgeschlagen. Er schüttelte den Kopf, als wolle er eine lästige Erinnerung verscheuchen, und erteilte seine Befehle. Schon hallte der dumpfe Schlag der Trommeln, im Takt klatschten die Ruder ins Wasser und schoben die Galeere voran.
***
Auf der Mauer, die Konstantinopel wie ein Panzer umschloss, drängten sich die Menschen. Vor vier Jahrzehnten, beim ersten Überfall der Sarazenen, hatte man in der Hauptstadt allenfalls die Stirn gerunzelt. Was scherte man sich in den Marmorpalästen am Propontismeer um Scharmützel am Südrand des Imperiums, in einer fernen Grenzprovinz, jenseits derer der Wind nur noch Sand zwischen den Felsen aufwirbelte? Doch aus dieser Wüste waren die Heere der Sarazenen aufgebrochen, um unaufhaltsam in den Körper des Reiches vorzustoßen, ihm Provinz um Provinz zu entreißen, bis die grüne Fahne ihres Propheten vor der Hauptstadt flatterte.
Jetzt einte die Menschen auf der Mauer ängstliche Erwartung – Hofbeamte in ihren reich bestickten Roben standen Seite an Seite mit Soldaten, deren Brustpanzer in der Morgensonne glänzten, mit Kaufleuten, deren Finger ihre Geldbörsen umklammerten, und mit Bogenschützen, die ihre Hand vor die Stirne hielten, um nicht von der Morgensonne geblendet zu werden. Alle hatten nur Augen für die Feinde, kaum jemand achtete auf die Frau, die an eine Zinne gelehnt verharrte, obgleich sie sonst die Blicke auf sich gezogen hätte. Sie war groß, hatte scharf hervortretende Wangenknochen, dunkle Brauen und helles Haar, das sie sorgfältig aufgesteckt trug. Ihr langes Kleid umfloss den schlanken Körper, am Hals schimmerte eine blaue Glasperlenkette mit zylinderförmigem Anhänger.
Pelagia, so hieß die Frau, achtete ihrerseits nicht auf die Männer neben ihr. Sie blickte hinunter auf den Kai, als suche sie jemanden inmitten der Matrosen und Soldaten, die wie aufgescheuchte Ameisen durcheinanderliefen. Einen Augenblick kehrten ihre Gedanken zurück zu dem ersten Mal, als sie ihren Fuß auf die Planken eines Schiffes gesetzt hatte. Aus dem Nebel der Erinnerung formte sich das Bild jener ersten Schiffsreise von Karthago nach Rom, dieser Fahrt, mit der alles begonnen hatte. Ein Anfang voller Erwartungen, gefolgt von Enttäuschungen, von Schrecken, von Leid … Würde Gott ihre Bitte erhören, ihr das ersehnte Glück schenken, bevor es endgültig zu spät war?
Sie erstarrte, als ihre Augen den großen, dunkel gekleideten Mann gewahrten, der sich mit langsamen Schritten dem Kai näherte. Er hielt inne, um zu beten – zu einem anderen Gott als die Männer auf den Schiffen. Oder doch vielleicht zum gleichen, dachte Pelagia, während sie beobachtete, was am Julianshafen vor sich ging.
***
Der neue Tag versprach strahlend zu werden, aber der Betende bemerkte es nicht. Sein Kopf mit dem rotblonden Haarkranz war gebeugt, seine Hände gefaltet. Stumm stand er am Ufer, regungslos inmitten der Matrosen, die zu ihren Schiffen liefen. Doch niemand beachtete den schweigsamen Kirchenmann, denn diesen Morgen hatte jeder mit einem Gebet begonnen. Jeder, selbst der roheste Soldat, der sonst mit Flüchen und Hurerei sein Seelenheil verwirkte.
„Oh Gott, der du uns deinen Sohn als Erlöser geschickt hast, nimm diese Heimsuchung von uns!“, murmelte er, doch schon schweiften seine Gedanken ab. Er hatte keine Macht über sie; wie Holz auf dem Wasser trieben sie weg, hin zu der Frau, mit der er vor drei Tagen gesprochen hatte. Wie eine Hofdame trug sie das aufgesteckte Haar mit Edelsteinbändern durchflochten. Doch ihre warmen Augen unterschieden sie von den Fischblicken der anderen Frauen des Kaiserhofes. Nach dem Gottesdienst in der Hagia Sophia, der größten Kirche der Stadt, waren sie sich in der Vorhalle begegnet. Unter glänzenden Mosaiken, auf denen das Licht unzähliger Lampen tanzte, beim Goldenen Meilenstein und dann auf der Terrasse am Meer hatten sie miteinander gesprochen. Dort hatte sie ihm sein Geheimnis entrissen. Seitdem war nichts mehr wie zuvor. Seitdem hatte er sich jede Nacht gequält, weil er nicht wusste, was er tun sollte.
Müde hob Patricius den Kopf und sah die wogenden Masten. Vorne, im Julianshafen, ankerte die Christenflotte, alle Schiffe, die das Römerreich noch aufbieten konnte. Langsam glitten seine Augen weiter, zu dem sich nähernden Mastenwald der Feinde, in deren Mitte die Wimpel des Admiralsschiffes flatterten. Doch die Menschen darauf konnte er nicht erkennen. Diese Anhänger des falschen Propheten Mohammed, die der Herr zur Strafe über seine sündige Herde kommen ließ.
Schritte rissen den Priester aus seiner Versenkung. Eben trottete wieder ein Trupp Träger vorbei, große Kessel und bauchige Rohre geschultert. Seit gestern beluden sie die Galeeren mit dieser geheimnisvollen Last, auf die er sich keinen Reim machen konnte. Da sah er den Syrer kommen, der das Kommando zu haben schien.
„Seid gegrüßt, Kallinikos.“ Der kleine, kahlköpfige Mann mit den listigen Augen erwiderte den Gruß, kam herüber, befeuchtete einen Finger und hielt ihn empor.
„Ablandiger Wind“, nickte er zufrieden, dann musterte er die Sarazenenflotte, „sehr schön.“
„Was ist an diesem Anblick schön?“, fragte Patricius verwundert. „Erfreuen die Schiffe der Gottlosen etwa Euer Auge?“
„So ist es“, nickte Kallinikos wieder. „Ihr Anblick gefällt mir sogar sehr.“
„Und was, im Namen der Dreifaltigkeit, gefällt Euch daran?“
Über ihnen krächzte ein Möwenschwarm, so dass der Priester die seltsame Erwiderung kaum verstand. „Was habt Ihr gesagt?“
„Sie sehen so brennbar aus …“, murmelte der Syrer, drehte sich um und verschwand in der Menge.
Patricius schüttelte den Kopf, dann hob er den Blick und verfolgte die weißgrauen Möwen, die über den Himmel segelten. Ihr Anblick erinnerte ihn an einen Tag, der lange zurücklag. Einen Tag in seiner Kindheit, als er noch ein sechsjähriger Junge namens Padraich gewesen war.
Der Tag, an dem all das begonnen hatte, das sich heute vollenden würde.