Читать книгу Sie kamen bis Konstantinopel - Frank Stefan Becker - Страница 9
Die Insel der Gottesmänner
Оглавление(638–649 n. Chr.)
„Viele hatten sich aufgemacht und ihr Heimatland verlassen, um entweder zu lernen oder ein rein asketisches Leben zu führen.Und viele von ihnen verschrieben sich tatsächlich bald überzeugt dem Klosterleben, andere widmeten sich lieber dem Lernen und gingen von einer Meisterzelle in die andere. Die Iren nahmen- sie alle bereitwillig auf und bemühten sich, sie Tag für Tag zu unterstützen mit Nahrung, ohne Bezahlung, mit Büchern für ihre Studien und unentgeltlichem Unterricht.“
Kirchenschriftsteller Gildas im 6. Jh. über die Iren
Mit jedem Schritt wuchs die Mauer vor ihm höher in den Himmel. Sie war aus grauen Hausteinen aufgeschichtet und mit rotgelben Flechten besprenkelt. Auf der Oberkante zitterten Grashalme im Wind, überragt von spitzen Dächern. Auch diese waren düster und schmucklos – wie alles hier. Große, weiße Basstölpel segelten im Wind, der dunkle Wolken über den Himmel scheuchte. Weit entfernt brach ein schräger Sonnenstrahl durch die Wolkendecke, ließ grüne Hügel aufleuchten und erlosch wieder. Krächzend erhob sich ein Rabe, der am Wegrand entlangstolziert war, und flog mit klatschenden Flügeln davon.
„Mutter, bitte …“ Die Stimme des Jungen zitterte. Unmerklich wurden seine Schritte langsamer.
„Du weißt, dass es sein muss.“ Die schwieligen Finger umklammerten die seinen fester. „Und du willst es doch auch. Denk an sein Seelenheil …“
Die große Hand zog ihn energisch voran, so dass er der Frau hinterherstolperte. Wieder musste er an diesen Schrei denken. Diesen letzten, verhallenden Schrei. Ohne ihn, Padraich, wäre es nie geschehen. Seine Mutter hatte Recht! Er musste tun, was er konnte, um wenigstens einen winzigen Teil seiner Schuld abzutragen. Denn für alles würde selbst ein ganzes Leben nicht reichen …
Während er einen Fuß vor den anderen setzte und die letzten Schritte zurücklegte, die ihn aus seiner bisherigen Welt reißen sollten, tränten seine Augen leicht. Ob wegen des Windes oder aus Trauer hätte er nicht sagen können. Aber er schämte sich dafür, und der Grund tat auch nichts zur Sache. Seine Familie war arm, so bitterarm, dass sie im letzten Winter fast verhungert waren. Schon Monate bevor … es geschehen war.
Seine Mutter hatte Recht, wie immer. Er musste dankbar sein, dass ihn die frommen Männer aufnahmen, ihn, den Sohn eines armen Torfstechers. An seine beiden jüngeren Schwestern gekauert, hatte er die Ohren gespitzt, als seine Mutter mit dem Mann in der schwarzen Kutte gesprochen hatte. Der große Fremde, der sich bücken musste, um ihre aus gestapelten Grassoden erbaute Hütte zu betreten, hatte der verhärmten Frau geduldig zugehört, ein paar leise Fragen gestellt und gehustet, wenn der Qualm des Torffeuers in seine Richtung zog. Nach einiger Zeit hatte er genickt, wenige Sätze gesagt und die Dankesbezeugungen der Witwe mit erhobenen Händen abgewehrt. Einiges hatte Padraich verstanden, den Rest hatte ihm seine Mutter erklärt: Dass nun sein ärmliches, aber freies Leben zu Ende sein würde, weil er bald zu den Mönchen in das Kloster kommen sollte.
Mit seinen sechs Jahren war er zwar noch zu jung, um Novize zu werden, doch alt genug, um zusammen mit zwei Dutzend anderer Kinder in die Klosterschule zu gehen. Die nächsten Jahre würde er am Rande dieses Klosters leben, Unterricht erhalten und den Knechten bei der Feldarbeit zur Hand gehen. Bis zum Tag seines fünfzehnten Geburtstages, an dem auch er die Worte sprechen durfte, die seinen Bund mit Gott begründen und ihn für immer von der Welt trennen würden.
Der Junge hielt die linke Hand seiner Mutter fest umklammert, als sie mit der Rechten gegen die Bohlen des Tores pochte. Dreimal. Kräftig, doch nicht zu hastig, um nicht den Anschein zu erwecken, dass man hier voller Ungeduld Einlass begehre. Eine Klappe in der Mauer öffnete sich, unter buschigen Brauen spähten zwei Augen heraus.
„Ich bringe Padraich, meinen Sohn“, sagte die Frau, und jetzt zitterte ihre Stimme leicht.
Die Klappe schloss sich, während der Junge seine Mutter rasch ein letztes Mal umarmte. Schritte waren zu hören, dann knirschte ein Riegel und die Türe schwang auf. Der Pförtner, krumm gewachsen wie eine vom Wind gebeugte Eiche, trat heraus. Er beäugte den Jungen, der groß war für sein Alter, doch mager; mit rotblonden Haaren, die sich zu einem wilden Schopf verknäulten, der jedem mütterlichen Kamm widerstand. Blaue Augen blitzten aus einem mit Sommersprossen übersäten Gesicht von auffälliger Ebenmäßigkeit.
„Soso, ein neuer Gast Gottes“, nuschelte der Mann durch zwei fehlende Vorderzähne, wobei sich die Runzeln in seinem wettergegerbten Gesicht zu einem Lächeln verzogen. Er trug einen graubraunen, geflickten Umhang. Sein eisgraues Haar war kurz geschnitten, doch nicht zu einer Tonsur geschoren. Derjenige, der über die Verbindung der Klosterbrüder mit der Außenwelt wachte, war selbst nur ein Laienbruder.
„Soso, Padraich heißt du also, ein schöner Name.“
Mit großen Augen blickte der Junge den Pförtner an. „Mein Vater hieß so, und mein Großvater, und …“
„Jaja, viele tragen diesen Namen“, nickte der Pförtner bedächtig, „seit der heilige Padraich uns vor zwei Jahrhunderten den Glauben gebracht hat. Kommt rein.“
Nachdem er das Tor wieder geschlossen hatte, ergriff er die Hand des Jungen, der sich umdrehte und seiner Mutter einen Blick zuwarf, in dem sich Angst mit Stolz mischte.
„Ein großer Heidenbekehrer war er, der heilige Padraich, jaja“, meinte der Pförtner wie zu sich selbst, während er den freien Platz hinter dem Tor gemächlich durchschritt, gefolgt von dem Jungen und der Frau, die sich scheu umblickte. „So voller Gotteseifer war der Heilige, dass er auf dieser grünen Insel keinen zum Bekehren mehr übrig gelassen hat, jaja.“
Sie näherten sich einem aus Holzlatten errichteten Zaun, der sich von der Umfassungsmauer bis zu einem größeren Bau erstreckte, aus dessen Schornstein dichter Rauch quoll. „Weit wirst du einmal reisen müssen, mein kleiner Padraich, wenn du deinem Namen Ehre machen willst“, schmunzelte der Pförtner. „Aber was rede ich da. Noch bist du nicht einmal richtig hier, schon schwätzt der dumme alte Cutbercht vom Aufbrechen, jaja …“
Bei diesen Worten hatten sie ein kleines Gattertor im Zaun erreicht. Der Pförtner öffnete es, bedeutete den beiden zu warten und schlurfte zu dem nächsten Kegelhaus. Es war aus unbehauenen Steinen aufgeschichtet, die Ritzen mit trockenem Moos verstopft, die grobe Bohlentüre stand offen. „Bruder Eirenäus, ich bringe den neuen Schüler“, rief der Pförtner hinein.
Ein Mann trat kurz darauf heraus, bei dessen Anblick der Junge unwillkürlich nach der Hand seiner Mutter fasste. Der Mönch war in eine weiße Kutte gekleidet, der vordere Teil des Schädels bis zu den Ohren kahl geschoren, während hinten die Haare lang über die Schulter wallten. Doch was den Jungen am meisten verstörte, war das bärtige Gesicht. Aus der braunen Haut, die auch unzählige irische Winter nicht hatten bleichen können, musterten ihn zwei scharfe Augen, deren Lider dunkel gefärbt waren.
Der Mönch durchschritt das Gattertor. „Habt ihr keine Zeugen mitgebracht?“
„Nein“, antwortete die Frau verlegen, „wir kennen leider niemanden, der die Zeit gefunden hätte, mit uns zu kommen …“
„Ich hole einen der Knechte aus der Brauerei“, nuschelte Cutbercht eilfertig und kehrte wenig später mit einem Mann mittleren Alters zurück, der sich seine Hände an einer Schürze abwischte.
Padraich wurde gefragt, ob er als Schüler in das Kloster kommen wolle, um später Mönch zu werden, und murmelte ein leises „Ja“.
„Du bist dir bewusst, für was du dich entscheidest? Dass hinfort hier deine Familie ist und du keine Verbindung mehr zu deiner Mutter oder deinen Schwestern haben wirst?“
Der Junge sah Hilfe suchend zu seiner Mutter, und als sie nickte, antwortete er erneut mit „Ja“.
„Dass die Liebe zu Gott, der Wille zur Buße und das Streben zur Abtötung irdischer Begierden dich ganz und gar erfüllen sollen?“
Der Mönch mit der Stirnglatze musterte den Knaben eindringlich, der sich wie ein gefangener Vogel fühlte. „Ja“, drängte die Mutter und Padraich nickte beklommen. „Ja.“
„Dann sei willkommen.“
Mit einem Gruß verabschiedete der Mönch die Frau, die mit raschen Schritten zum Tor ging. Padraich sah ihr nach und erhaschte einen letzten Blick von seiner Mutter, bevor sich die Türflügel schlossen und der große Riegel vorgeschoben wurde.
„Sieh mich an, mein Junge.“ Padraichs Kopf fuhr herum. „Erschrecke ich dich?“
Die Stimme des Mannes war mild, aber mit einem fremdländischen Akzent, wie ihn der Junge noch nie gehört hatte. Er schüttelte zögernd den Kopf. „Nein, aber es … Sie sehen so ungewohnt aus!“
Der Mönch lächelte. „Das verstehe ich. Anfangs geht das allen Neuen so.“ Er sah dem Jungen in die Augen. „Ich komme von weit her, aus Ägypten. Aus einem Kloster, das der heilige Antonius in der Wüste gegründet hat. Weißt du, wer das war?“
Verlegen schüttelte Padraich erneut den Kopf. „Nein, ich weiß nichts. Meine Eltern sind arme Leute …“
Er dachte an seinen Vater und musste schlucken. „Aber ich bin hier, um zu lernen. Alles will ich lernen, alles!“
Bruder Eirenäus schmunzelte. „Da bist du bei mir richtig, denn ich lehre Latein und Griechisch. Aber das kommt später, zuerst musst du vieles andere lernen.“
Er winkte dem Jungen. „Jetzt zeige ich dir das Kloster. Den Eingangsbereich hast du ja schon gesehen. Hier aber sind wir im eigentlichen Klosterbezirk, den nur die etwa hundert Mönche, die Novizen und die Schüler der Klosterschule betreten dürfen.“
Padraich sah sich mit großen Augen um. Er kam sich vor wie in einem Dorf, so viele Häuser drängten sich auf der grünen Wiese, die den Raum innerhalb der Mauer ausfüllte.
„Gleich vor uns steht das wichtigste Gebäude, unser Teampull.“ Padraichs Augen folgten der ausgestreckten Hand, die auf eine aus sorgfältig behauenen Steinen errichtete, mit Schindeln gedeckte Kirche wies. Über dem niedrigen, rechteckigen Erdgeschoss erhob sich ein hoher Giebel, an dessen Spitze sich zwei geschnitzte Balken kreuzten; ein großer Querstein überspannte den Eingang mit der schmucklosen Türe. Noch manche andere Gebäude zeigte ihm der Mönch, deren Bedeutung er erst im Laufe der Zeit begriff: Die Bibliothek mit dem Skriptorium, das Haus des Abtes, die Küche, den Gemeinschaftsraum, die Latrine sowie die zahlreichen Kegelhäuser, in denen jeweils zwei bis drei Brüder lebten. Dazu kamen im Besucherbereich eine Brauerei, der Speicher, ein Hühnerstall, die Wohnungen der Knechte und Schüler, eine Kirche und das Hospiz für Gäste.
Dies alles wurde in den nächsten Jahren zu Padraichs neuer Heimat. Er lernte, sich dem strengen Tagesablauf zu fügen, der durch Gebete, Gottesdienste und die Schule geprägt war. Neben der irischen Sprache, Lesen und Schreiben wurden die Geschichten der Bibel und Theologie gelehrt, gefolgt von Latein. Die Grundlagen unterrichtete Bruder Eirenäus anhand der Grammatik des Aelius Donatus, doch bald gingen sie zu den Schriften von Cicero und anderen heidnischen Autoren über. Dazu kamen Astronomie, Geschichte, Rechnen, Medizin und Recht. Da Padraich aufgeweckt und fleißig war, durfte er später auch zu Pater Eirenäus in dessen Griechischklasse, wo er manches über die heilige Stadt Jerusalem erfuhr, in der der Ägypter einst ein Jahr an der Grabeskirche verbracht hatte. So wuchs er in der Geborgenheit einer eng umgrenzten Gemeinschaft auf, die von der strengen Klosterregel mit ihren Geboten und Strafen bestimmt war. Doch zugleich durfte sein Geist in fernen Welten wandern und Wissen aufnehmen, von dem außerhalb des Klosters kaum jemand etwas gehört hatte.
Abends vertilgte er große Portionen von Brot und Haferbrei, dazu gab es Molke, an Sonntagen gekochte Gänseeier und an hohen Festtagen auch einmal ein Stück Schweinebraten. Mit den Jahren wurde er groß und stark, da er früh in der Landwirtschaft half und Eirenäus ihm, wenn die Klostermahlzeit nicht ausreichte, stets noch etwas zusteckte. Doch auch die anderen Mönche mochten den pflichtbewussten, stets hilfsbereiten Jungen mit den regelmäßigen Gesichtszügen und dem klaren Blick. So war es für ihn keine Frage, dass er mit fünfzehn Novize wurde und bald begann, in der Klosterbibliothek zu arbeiten. Dort lernte er Kilian kennen, einen grazilen, dunkelhaarigen Jungen, der zwei Jahre älter war als er. Da er aus der Sippe des örtlichen Herrschers, des Ri, stammte und der Neffe des Abtes war, würde er wohl einst dessen Nachfolge antreten. Doch ließ er sich diese Sonderstellung nicht anmerken, nur sein gewinnendes Auftreten und seine natürliche Autorität verrieten, dass er aus einer Herrscherfamilie stammte. Mit Padraich verband ihn bald eine tiefe Freundschaft, so dass es Pater Eirenäus einrichtete, dass sie die gleiche Zelle teilen durften.
***
Eines Tages, als Padraich gebeugt über einem Stapel Pergamentblätter saß, um sie auf das richtige Format für Buchseiten zu schneiden, vernahm er hinter sich die schlurfenden Schritte Ultans.
„Nimm deinen Griffel und komm mit“, hörte er den Leiter des Skriptoriums sagen, „wir wollen ein neues Buch beginnen.“ Er sah verwundert auf und erblickte neben dem verwachsenen Männlein seinen Freund Kilian, der einen Stapel mit Wachs beschichteter Holztafeln trug.
„Wir dürfen selbst ein Buch kopieren?“, fragte Padraich ungläubig, während sie den Hof überquerten und sich einem der Kegelhäuser näherten, das neben der Wohnung des Abtes lag. „Was für eines?“
„Nichts wird kopiert“, knurrte Ultan, „wir machen ein neues Buch.“
„Ein neues Buch? Worum geht es darin?“, wollte nun Kilian wissen.
„Ihr mit eurer Fragerei“, seufzte Ultan und schüttelte den Kopf. „In den nächsten Tagen werdet ihr genau das notieren, was euch Bruder Grellan erzählt. Er ist über achtzig und sein Geist weilt manchmal weit weg. Vor vielen Jahren hat er ein Schweigegelübde abgelegt und lange als Einsiedler gelebt.“ Ultan blieb stehen und sah die Jungen an. „Doch jetzt ist er zu schwach geworden, und Bruder Eirenäus hat ihn dazu bewegen können, zu uns ins Kloster zu kommen. Gestern Abend ließ Bruder Grellan den Abt wissen, dass er uns die Geschichte des heiligen Brendan anvertrauen möchte, den er selbst noch gekannt hat. Fragt ruhig nach, wenn ihr etwas nicht versteht.“ Der Mann ging weiter und hob den tintenfleckigen Finger. „Später wird es ins Reine geschrieben und mit Bildern versehen. Aber das machen unsere besten Buchmaler, nicht die Novizen.“
Padraich umklammerte seinen Griffel. Brendan – war das nicht der Heilige, über den solch seltsame Geschichten unter den Mönchen kursierten? Als sie das Kegelhaus erreicht hatten, die Türe aufstießen und ins Innere traten, war Padraich für die Dauer einiger Herzschläge fast blind, bis sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Innen gab es nur eine mit Stroh aufgeschüttete Schlafstelle, unter einer Wolldecke zeichnete sich eine menschliche Gestalt ab. Daneben stand eine abgewetzte Bank.
„Bruder Grellan“, die Stimme Ultans hallte so laut, dass Padraich zusammenzuckte. „Hier sind die zwei Novizen, die deinen Bericht aufschreiben werden.“
Ein schwaches Husten war die Antwort, dann richtete sich die Gestalt auf. In den Lichtkegel, der durch die Türe in den kleinen Raum fiel, schien sich ein Totenschädel zu schieben, von altersfleckiger Haut überspannt. Vom Hinterkopf hingen einige weiße Haarfäden, die Augen lagen tief in den Höhlen. Eine Hand mit klauenartig verkrümmten Fingern wies auf die Bank. Der von Runzeln umgebene Mund öffnete sich zu einem Lächeln und gab zahnlose Schwärze frei.
„Setzt euch.“
Beim Anblick des alten Mönchs begann Padraich plötzlich zu zittern, er ergriff unwillkürlich Kilians Arm und blickte sich nach Ultan um. Doch der hatte die kleine Zelle bereits verlassen. Kilian sah ihn erstaunt an und fragte, ob ihm nicht wohl sei, doch Padraich winkte ab und atmete tief durch. Dann rückten die Jungen die Bank so an den Eingang, dass Licht auf die Schreibtafeln fiel. „Wir sind bereit, Bruder Grellan.“
„Wie alt seid ihr?“, fragte der Mönch. Seine Stimme kratzte, als würde langsam ein Stück Pergament zerrissen.
„Ich bin sechzehn und Kilian achtzehn“, antwortete Padraich befangen.
„Dann war ich damals fast so alt, wie ihr es jetzt seid. Und heute …“, die zittrige Stimme wurde leise, fast beschwörend, „bin ich selbst fast so alt, wie er damals war.“
„Wer, Bruder Grellan?“, erkundigte sich Kilian neugierig.
„Brendan, der Seefahrer. Gott gewährte mir die Gnade, ihn noch gekannt zu haben. Damals, in Clonfert, wo er später auch begraben wurde. Alles, was ich euch erzähle, habe ich aus seinem eigenen Mund erfahren. Vor vielen Jahrzehnten hat er es mir erzählt, in meiner Jugend. Als mein Gesicht noch nicht faltig war, meine Augen noch nicht trübe und mein Geist noch nicht erschöpft.“
„Meint ihr wirklich den heiligen Brendan?“, fragte Kilian aufgeregt.
Der alte Mönch nickte, lächelte versonnen, dann schwieg er eine Weile, bevor er zu erzählen begann. Die nächste Zeit war nur die brüchige Stimme zu hören, dazu das Kratzen der Griffel auf den Wachstafeln, gelegentlich unterbrochen von Rückfragen der Novizen. Grellan berichtete, wie Brendan einst einen Mann namens Barinthus getroffen hatte, der ihm von dem Land der ewigen Jugend erzählte, zu dem er selbst nach einer weiten Fahrt über den Ozean gelangt sei. „Dort gab es keine Pflanze ohne Blüte, keinen Baum ohne Frucht und niemals wurde es Nacht.“ Grellan verstummte und schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein. Padraich ging zu ihm, reichte ihm still einen Becher mit Wasser und wartete ruhig, bis ihn Grellan ausgeschlürft hatte, während Kilian ungeduldig auf der Bank hin und her rutschte. Endlich fuhr der Greis fort und berichtete, wie diese Erzählung Brendan nicht mehr losgelassen hatte, so dass der junge Mönch begann, gemeinsam mit anderen Brüdern ein Curragh zu bauen. Ein Boot mit Weidenästen als Spanten, bezogen mit Ochsenhäuten, die man durch Gerben in Eichenrindesud haltbar gemacht und danach mit Fett eingerieben hatte.
„Dann segelte Brendan mit einer Schar von Mönchen los, und sie waren viele, viele Jahre unterwegs …“ Der Greis verstummte abermals.
„Und, wie ging es aus?“, drängte Kilian, „gelangten sie ans Ziel?“
„Ja, mein Junge. Gott der Herr geleitete sie. Aber jetzt bin ich müde.“ Grellans Kopf sank nach vorne und sein Atem ging schwer. „Kommt morgen wieder. Dann will ich euch von der Fahrt des heiligen Mannes erzählen.“
Die Novizen packten ihre Schreibtafeln, schoben die Bank an ihren ursprünglichen Platz und traten hinaus. Die Sonne war hinter Wolken verschwunden, ein kalter Wind fegte über das Kloster und verwirbelte den Rauch, der aus dem Kamin des Küchenhauses quoll. Als sie zum Brunnen kamen, blieb Kilian stehen. Nachdenklich sah der schlanke Junge mit den dunklen Locken seinen Mitbruder an.
„Du hast bei seinem Anblick nach meinem Arm gegriffen. Warum?“
Padraich legte seine Tafeln auf das grob geschichtete Brunnenmauerwerk und starrte den Eimer an, der im Sturm pendelte. Wie er sich dabei bewegte und drehte, glich er einem gefangenen Tier, das sich in seinen Fesseln wand.
„Einen Augenblick lang“, er zögerte kurz, „sah ich sein Gesicht nur verschwommen, wie durch eine Art Nebel …“
„Was für einen Nebel? Ich habe nichts gesehen.“
„Das hat meine Mutter damals auch nicht. Nur ich habe es bemerkt.“
„Ja, und? Was hat das zu bedeuten?“, fragte Kilian kopfschüttelnd.
„Das wir uns beeilen müssen.“ Padraich stockte, als müsse er gegen den Wind ankämpfen, der immer stärker wurde und ihm den Atem in den Hals zurückzustoßen schien. „Einen Tag später war derjenige, bei dem ich den Nebel gesehen habe, tot!“
Kilian sah ihn bestürzt an, dann murmelte er: „Das tut mir leid.“ Stumm gingen die Jungen zur Bibliothek, wo sie Ultan ihre Tafeln aushändigten.
***
Am nächsten Tag lauschten die beiden gebannt, wie Grellan von den widrigen Winden erzählte, die Brendans Fahrt behindert hatten, bis der Heilige mit seinen Begleitern zuletzt die fruchtbare Insel der Schafe erreichte, von deren Felsenufer sich zahllose Bäche ins Meer ergossen. Hier konnten sich die entkräfteten Seefahrer erholen und die freundlichen Einwohner gaben ihnen Nahrung für die Weiterfahrt.
„Doch die nächste Insel, auf der sie landeten, war klein und flach“, berichtete der alte Mönch mit bedeutungsschwerer Stimme. „Sie machten ein Feuer und setzten einen Kessel auf, um gefangene Fische darin zu kochen, als auf einmal der Boden zu schwanken begann. Alle rannten in die Boote, sie ließen den Kessel zurück und sahen von Ferne, wie die Insel durchs Wasser rauschte und dann versank.“
Kilian runzelte die Stirn, während Padraich zweifelnd fragte: „Einfach so versank?“
Grellan nickte bekräftigend. „Ja, denn sie waren auf dem Rücken von Iasconius gelandet, dem größten aller Wale. Doch Gott der Herr hielt seine schützende Hand über sie, denn sie sollten noch viel mehr Unglaubliches erleben.“ Grellan erzählte weiter: von der Insel der sprechenden Vögel, in Wahrheit die Seelen sündiger Menschen, von den in der Tiefe des Ozeans lauernden Ungeheuern und der meerumtosten Felseninsel, wo sie widrige Winde immer wieder abtrieben. Erst nach dreitägigem Beten und Fasten fanden die erschöpften Mönche zu guter Letzt eine Bucht, in der sie landen konnten. Dort trafen sie zu ihrer großen Verwunderung eine schweigende Mönchsgemeinschaft, die sie freundlich aufnahm und verpflegte. „Und so priesen Brendans Begleiter die Gnade des Herrn, der ihnen immer dann Rettung sandte, wenn manche bereits meinten, verzweifeln zu müssen.“
Der Greis verstummte und sank zurück, so dass Padraich besorgt aufstand und sich neben das Lager kniete. Doch die von weicher, runzeliger Haut umgebenen Augen starrten an ihm vorbei, hinaus aus der Zelle, in die unerreichbare Weite des Himmels, an dem der gezackte Rand einer weißen Wolke einem Wolfsmaul gleich das Blau zu verschlingen schien.
Schließlich streckte Grellan seine Hand aus und machte Kilian ein Zeichen, ebenfalls zu ihm zu kommen. Als die Jungen neben ihm knieten, sah sie der Alte erstaunlich klar an.
„Demut ist die größte und schwerste Tugend. Hütet euch vor der Selbstsucht und dem Zorn, vor der Unbedachtheit des Wortes und der Heftigkeit der Tat.“ Er segnete sie und murmelte. „Weit wird euch Gottes Hand führen. Viel werdet ihr leiden müssen. In Unfrieden werden sich eure Wege trennen, und manches wird ganz anders enden, als ihr euch es vorstellt ...“
Padraich schluckte und öffnete den Mund wie zum Protest, doch dann ging er nur wieder zu der Bank zurück und nahm seine Schreibtafel, gefolgt von Kilian. Grellan begann erneut mit seiner Erzählung, berichtete von weiteren Inseln, von den Ungeheuern der Tiefe und dem Gottvertrauen, das Brendan und seine Mönche durch alle Gefahren leitete.
„Eines Tages sahen sie im Meer eine helle Säule, die nicht weit entfernt zu sein schien, doch sollte es drei Tage dauern, bis sie sie erreichten. Sie war so hoch, dass auch der heilige Brendan die Spitze, die in den Himmel reichte, nicht zu erkennen vermochte, und außen mit einem Netzwerk bedeckt. Das Material, aus dem das Gebilde bestand, war silberfarben und hart wie Stein, während die Säule selbst aus klarem Kristall zu bestehen schien. Der heilige Brendan wies auf eine Öffnung und sprach: ‚Lasst uns hineinfahren und dies Wunderwerk Gottes genauer betrachten.‘ Und als sie das taten, konnten sie in dem klaren Meerwasser sehen, wie weit sich die Säule nach unten erstreckte, und sie ruderten vier Tage an dem Gebilde vorbei, bis sie bei günstigem Wind ihren Weg nach Norden fortsetzen konnten.“
Während die Jungen eifrig kritzelten, sah Padraich verstohlen in Kilians Richtung und als sich ihre Blicke kreuzten, zog er zweifelnd die Augenbrauen hoch, doch Kilian sah ihn nur streng an.
„Einige Tage später kamen sie in Sichtweite einer felsigen, mit Schlacke bedeckten Insel ohne Baum oder Strauch, aber voller Schmiedefeuer“, drang da die Greisenstimme erneut in Padraichs Gedanken, so dass er sich mit dem Schreiben beeilen musste. „Der heilige Brendan sprach: ‚Diese Insel, auf die uns der Wind zutreibt, macht mir Angst, und ich möchte ihr nicht näher kommen oder gar meinen Fuß darauf setzen.‘ Und als sie sich bis auf Steinwurfweite genähert hatten, so dass sie das Zischen der Blasebälge und das Hämmern der Schmiede vernehmen konnten, schlug der heilige Brendan das Kreuz und flehte: ‚Jesus Christus, unser Herr, errette uns vor dieser üblen Insel.‘ Und kaum hatte er das gesprochen, so kam ein Wilder ans Ufer gelaufen“, Grellan hob seine Stimme, „haarig und abscheulich, voller Rauch und Feuer, der mit Schlackebrocken warf. Und obgleich er die Mönche verfehlte, da sie das Kreuzzeichen vor dem Übel bewahrte, so brachten doch die Brocken, wo sie einschlugen, das Meer zum Kochen. Immer mehr dieser grässlichen Kreaturen versammelten sich am Ufer und schleuderten glühende Steine, während die Mönche mit ganzer Kraft ruderten, um den Ort des Unheils zu verlassen. Da kehrten die Wilden zu ihren Schmieden zurück und heizten die Feuer an, dass die Flammen zum Himmel emporschlugen und das Meer ringsum zu brodeln und dampfen begann. Und den ganzen Tag, bis die Brüder außer Sichtweite der Insel waren, hörten sie die schrecklichen Laute und rochen den Gestank. Da sprach der heilige Brendan, um ihnen Mut zu machen: ‚Soldaten Christi, seid stark im Glauben, denn nun sind wir an den Grenzen der Hölle, seid wachsam und tapfer.‘ Und so segelten sie weiter …“
Mit einem Male, als sei die Anstrengung zu viel für ihn gewesen, wurde Grellans Stimme so schwach, dass die Novizen kaum mehr etwas verstanden, bis Kilian zuletzt besorgt fragte:
„Bruder Grellan, sollten wir nicht lieber morgen weitermachen?“
Der Alte nickte. Sein Kopf sank zur Seite und der Atem ging schwer. Padraich nahm die runzelige, knochige Hand und erschrak, wie kalt und leblos sie wirkte.
„Bis morgen“, sagte er verzagt.
„Bis morgen, und Gott segne euch“, antwortete Grellan fast unhörbar.
Diese Nacht konnte Padraich nach dem Gebet nicht wieder einschlafen, und als er merkte, wie sich auch Kilian auf seinem Lager unruhig hin und her wälzte, rief er ihn mit gedämpfter Stimme an. Beide erhoben sich leise und setzten sich vor ihrer Zelle auf den Boden. Der halbvolle Mond war hinter einer zerfransten Wolke verborgen, doch sein Schein ließ ihren Rand erstrahlen und tauchte das Kloster in einen bleichen Schimmer. Padraich blickte den Fledermäusen nach, deren schwarze Umrisse über den Himmel huschten, dann wandte er sich Kilian zu.
„Was hältst du von Grellans Erzählung?“
Der Ältere sah ihn verwundert an. „Was ich davon halte? Du meinst, ob ich daran glaube?“
Padraich nickte zögernd. „Manches klingt so … nun ja, seltsam.“
Kilian schüttelte entschieden den Kopf. „Ich glaube jedes Wort! Eines Tages werde ich auch zu so einer Fahrt aufbrechen.“
„Aber haben wir nicht gelobt“, gab der Jüngere zu bedenken, „gemeinsam die Heiden zu bekehren und bis nach Rom zu pilgern?“
„Heiden können wir auch bei einer solchen Seefahrt begegnen“, erklärte Kilian zuversichtlich. „Du kommst natürlich mit. Der heilige Brendan ist ja auch nicht alleine losgesegelt.“
Padraich schwieg. Er hätte sein Gefühl nicht in Worte fassen können, aber mit einem Male schien sich etwas Fremdes zwischen ihn und seinen Freund zu schieben. Das Rauschen des Meeres klang lauter, der Wind musste gedreht haben. Er fröstelte und erhob sich, um wieder schlafen zu gehen. „Kommst du mit?“, fragte er Kilian, doch dieser schüttelte den Kopf. „Später. Warte nicht auf mich. Ich muss nachdenken.“
Als die beiden am nächsten Tag Grellans Zelle betraten, rührte sich nichts. Sie ließen sich neben dem Strohlager nieder und schüttelten die Gestalt unter der Wolldecke. Nur widerwillig öffneten sich die von faltiger Haut umgebenen Augen. „Was ist, was wollt ihr, wer seid ihr?“, flüsterte die Stimme, die noch schwächer wirkte als sonst.
„Wir sind es, Padraich und Kilian. Wir schreiben deine Geschichte auf, die von Brendan dem Seefahrer.“
Diese Worte schienen den Greis mit neuem Leben zu erfüllen. „Brendan. Gott sei gepriesen, der mir die Gnade gewährte, ihn noch gekannt zu haben …“ Einen Augenblick schien es, als ob er sich in der Dämmerung seines erlöschenden Gedächtnisses verlieren würde. Doch dann begann er, von der Weiterfahrt der Mönche zu erzählen, die nach vielen weiteren Prüfungen in eine dichte Nebelwolke gerieten, in deren Mitte sie zuletzt eine große Insel entdeckten. „Dicht standen dort die Bäume, schwer beladen mit allerlei Früchten, und nie wurde es völlig Nacht. Die Mönche wanderten über das Land, bis sie zu einem gewaltigen Strom kamen, den sie nicht überqueren konnten.“
Grellan hielt kurz inne, um danach in beschwörendem Ton fortzufahren.
„Da näherte sich ihnen ein junger Mann von wunderschönem Äußeren, der sie alle namentlich begrüßte, umarmte, und dann zu ihnen sagte: ‚Dies ist das Land, das ihr gesucht habt. Nehmt euch nun von den Früchten und den kostbaren Steinen, soviel euer Boot fassen kann, und kehrt zurück, denn eure irdische Pilgerschaft nähert sich dem Ende. Erst viele Jahre später, wenn schlimme Tage für das Volk Christi angebrochen sind, wird dieses Land denen enthüllt werden, die euch nachfolgen.‘ Dann segnete der Unbekannte die Mönche, die zu ihrem Boot zurückkehrten und die gefahrvolle Heimfahrt antraten, bis sie nach sieben langen Jahren wieder in ihrer Heimat anlangten …“ Damit erlosch Grellans Stimme, dessen Geschichte beendet war. Die Novizen erhoben sich langsam, nahmen ihre beschriebenen Tafeln und brachten sie in das Skriptorium.
Am selben Abend, als die Mönche im Refektorium ihre Suppe löffelten, kam ein Laienbruder hereingestürzt und meldete, dass Gott Bruder Grellan zu sich gerufen habe. Während die Totenglocke ihr schepperndes Geläute begann, sah Kilian auf und starrte Padraich ins Gesicht. Dem schien es, als sähe er Angst in den Augen seines Freundes, und tief bestürzt fühlte er die alte Schuld in sich aufwallen. Gemeinsam mit allen Mitbrüdern durchwachte er die Nacht und betete inbrünstig für die Seele des alten Mannes … und die seine.
***
Die nächsten Wochen vergingen im ewig gleichförmigen Rhythmus des Klosterlebens, doch mit Kilian war eine Veränderung vor sich gegangen. Er wirkte oft geistesabwesend, schrak auf, wenn ihn Padraich ansprach und schien erst wieder aus einer fernen Welt zurückkehren zu müssen. Mit dem Buch, das allmählich aus Bruder Grellans Bericht entstand, hatten die beiden zu ihrem geheimen Kummer nichts mehr zu tun. Stattdessen wurden sie zusammen mit Memilian, einem schweigsamen fränkischen Novizen, dazu eingeteilt, in der Landwirtschaft zu helfen und Meeralgen für die Düngung der neuen, von Mäuerchen eingefassten Felder heranzuschaffen, die andere Mönche bereits angelegt hatten. So schoben sie jeden Morgen ihren kleinen, zweirädrigen Karren aus dem Klostertor hinaus und ließen ihn den Weg zum Meer hinunterrumpeln. Das Aufsammeln der grünen Algenstränge war eine langwierige Arbeit, bei der die Jungen oft stundenlang über den Strand laufen mussten, bis der Karren voll beladen war. Hatten sie ihn schließlich den steilen, von Frühjahrsregenfällen ausgewaschenen Weg wieder hinaufgestemmt, waren ihre Hände zerschrammt. Dann langten sie bei den Feldern an, auf deren sandigen Böden sie noch die grüne Last verteilen mussten, bevor sie endlich in das Kloster zurückkehren durften. Nach einigen Jahren, wenn die Algen verfault waren, würde sich ein fruchtbarer Boden bilden, auf dem Korn gesät oder Gemüse gepflanzt werden konnte.
Eines Tages waren sie weiter den Strand entlanggelaufen als je zuvor. Die Sonne brannte herab, und das seit Tagen ruhige Meer hatte kaum Algen angeschwemmt. Ihre Hände schmerzten vom Schieben des Karrens, denn heute waren sie nur zu zweit, da Memilian im Klostergarten aushelfen musste. Dennoch durften sie nicht aufgeben, durften nicht umkehren, bevor sie nicht einen grünbraunen Berg auf die Ladefläche gehäuft hatten. Kilian wischte sich den Schweiß von der Stirne. Sein Umhang wölbte sich im Wind, der vom Land hinaus aufs Meer wehte. Über dem Wasser segelten weiße Basstölpel, die blitzschnell im Sturzflug hinabtauchten, um sich gleich darauf mit einem zappelnden Fisch im Schnabel in die Lüfte zu schwingen.
„Lass uns einen Augenblick rasten“, sagte er zu Padraich, der stumm nickte. Sie ließen sich auf den mit Muscheln vermischten Sand fallen. Kilian nahm ein Stück Treibholz, drehte es verdrossen zwischen den Fingern und ließ seine Augen übers Meer schweifen. Plötzlich merkte er auf und zeigte auf eine von grünen Algen überzogene Felsenklippe, die in der Mitte der Bucht aus dem Wasser ragte.
„Dahin müssten wir kommen, da ist alles voller Tang.“
Padraich nickte. „Dort hätten wir in einer Stunde mehr gesammelt als hier mit einem Tag Schinderei.“
Kilian holte aus und schleuderte das Holz ins Meer. „Wenn Gott uns ein Boot geben würde …“
„… dann könnten wir nicht damit umgehen, also lass das Träumen.“
„Ich kann das! Ich liebe Boote! Bevor ich ins Kloster kam, bin ich oft mit meinem großen Bruder gesegelt“, entgegnete Kilian selbstbewusst.
Padraich schwieg eine Weile, dann sah er seinem Freund in die Augen. „Wolltest du ins Kloster?“, fragte er unvermittelt.
„Natürlich, und das will ich immer noch. Obwohl mir manchmal etwas weniger Arbeit auch reichen würde. Wolltest du etwa nicht?“
„Ursprünglich nein, wenn ich ehrlich bin. Aber wir waren sehr arm, und nach dem Tod meines Vaters beschloss meine Mutter, dass ich ins Kloster gehen sollte.“
„Wieso gerade du, ihr wart doch mehrere Geschwister?“
„Ja, aber ich war es, der …“ Padraich verstummte.
„Der was?“, bohrte Kilian.
„Ach, nichts, ich möchte nicht darüber sprechen“, entgegnete Padraich abweisend und erhob sich rasch. „Lass uns weitergehen, vielleicht finden wir mehr jenseits der Landzunge dort.“
Als sie eine Viertelstunde später die mit Gebüsch bedeckte Anhöhe erklommen hatten und die nächste Bucht vor ihnen lag, packte Kilian aufgeregt den Arm seines Freundes.
„Da vorne, siehst du?“
Padraich rieb sich gerade das linke Auge, in das eine Mücke geflogen war, und versuchte vergeblich, durch die Tränen etwas zu erkennen. „Was ist da?“
„Ein Boot! Gott hat uns erhört, da liegt ein Boot!“
Die Jungen rannten durch die Büsche hinab, die Hände vor den Augen, um sie gegen die peitschenden Zweige zu schützen. Einige Hundert Schritte vor ihnen lag ein Curragh am Strand, leicht zur Seite geneigt, so dass der Mast schräg in den Himmel ragte. Ein Stück landeinwärts war das Strohdach einer niedrigen Fischerkate zu erkennen, über der vom Wind zerzauster grauer Rauch in den Himmel stieg. Als sie das Curragh erreichten, sahen sie, dass es alt und oftmals geflickt, aber in brauchbarem Zustand war. Es schien in letzter Zeit nicht benutzt worden zu sein, denn der Wind hatte Sand hineingeweht, und Möwen hatten ihre weißen Kotspuren an den Bordwänden hinterlassen. Kilian kniete sich auf den Strand und betastete das Boot, als könne er es nicht fassen, strich über die lederne Außenhaut, nahm andächtig ein Paddel in die Hand und zeigte dann zum Meer hinaus.
„Wir haben noch fast zwei Stunden, bevor die Flut voll einsetzt. Wenn wir zu der Felsenklippe hinausfahren, finden wir dort im Handumdrehen mehr Tang, als hier am ganzen Tag. Was meinst du?“
Padraich sah das Glänzen in den Augen seines Freundes und nickte zögernd. „Aber das Curragh gehört jemandem, wir können es nicht einfach nehmen.“
„Dann werden wir bei der Hütte fragen“, lachte der andere. „Wer zuerst dort ist, hat gewonnen!“
Sie liefen, dass ihre grauen Umhänge flatterten, und gelangten gleichzeitig atemlos bei der Fischerkate an. Netze hingen an der Wand, etwa zehn Schritte entfernt standen auf einem grob gezimmerten Holztisch drei Bienenstöcke, um die herum es eifrig summte. Kilian klopfte höflich an.
Nach einer Weile waren leichte Schritte zu hören. Die Türe ging auf und die jungen Mönche erstarrten. Vor ihnen stand eine hochgewachsene, fast hagere Frau, die mit der Linken ihr offensichtlich flüchtig übergestreiftes Gewand zusammengerafft hielt. Ihr langes, verstrubbeltes Haar war tropfnass und glänzte wie poliertes Kupfer in der Sonne. Sie mochte etwa Mitte Dreißig sein und schien jemand anderen erwartet zu haben.
„Wer seid ihr? Kommt ihr vom Kloster?“ Bei diesen Worten musterte sie Padraich, der stumm nickte.
„Ja, wir müssen Tang für die Felder sammeln“, antwortete Kilian und lächelte gewinnend. „Da es am Ufer kaum etwas gibt, wollten wir fragen, ob wir das Boot leihen dürfen. Nur für zwei Stunden …“
Er wandte sich unwillig zu Padraich um, der seine Schulter gepackt hatte, als ob er ihn wegziehen wollte, und ihm ins Ohr flüsterte: „Denk daran, was Johannes Cassianus gesagt hat: Der Mönch muss den Bischof und die Frau fliehen!“
„Und du selbst hast gesagt, dass wir fragen müssen!“, gab Kilian leise zurück und blickte wieder der Frau ins Gesicht. Diese musterte die beiden unter hochgezogenen Brauen und lächelte dann: „Kommt rein, ich will mich nicht erkälten. Oder meint ihr, in Brigids Hütte lauerten Gefahren für euer Seelenheil?“
Kilian schüttelte den Kopf, und die Jungen bückten sich, um durch die niedrige Türe zu treten. Innen hing ein großer, bronzener Wasserkessel über einem kleinen Feuer, daneben lagen eine Bürste, ein Kamm und ein Stück Seife auf einem Brett.
„Wir wollten nicht stören“, begann Padraich entschuldigend, „wenn wir gewusst hätten, dass …“
„Ihr stört keineswegs“, entgegnete die Frau und strich sich gedankenverloren eine Haarsträhne aus der Stirne. „Und was meinen Mann betrifft, nach dem ihr sicher gerade fragen wolltet …“, die Jungen nickten unwillkürlich, „der treibt sich schon seit einer Woche in irgendwelchen, einige Tagesreisen entfernten Schänken herum. Erst hoffte ich, er sei es endlich, aber wenn ich es genau bedenke …“, bei diesen Worten lockerte sich der Griff, der ihren Umhang zusammenhielt, und Padraich konnte einen Blick auf zwei helle Wölbungen erhaschen. Brigid bemerkte es und lächelte, dass sich die Fältchen um ihre grünen Augen kräuselten. „Wenn ich es genau bedenke, ist mir die Gesellschaft von zwei so stattlichen jungen Männern sogar lieber. Wollt ihr etwas Met?“
Sie wies auf einen Krug auf dem Tisch, doch sie lehnten dankend ab. Daraufhin holte sie ein Handtuch und begann, sich die Haare trocken zu reiben, ohne auf ihre verwirrten Gäste zu achten, die mit gesenkten Blicken im Raum standen. Anschließend kämmte sie mit langen, fließenden Bewegungen ihre bis auf die Schulter fallenden Strähnen glatt, bevor sie die Besucher wieder anblickte. Ihr Gesicht war kantig, sonnengebräunt und von einer Narbe auf der Stirne gezeichnet, so dass man es nicht als schön bezeichnen konnte. Doch die jungen Mönche hatten seit Jahren keine Frau gesehen, wenn man von einigen alten Weibern absah, die gelegentlich Kräuter oder Pilze brachten. So spähten sie verstohlen nach oben, nur um die Augen sofort wieder niederzuschlagen.
„Wie heißt ihr?“, wollte Brigid wissen. Als sie ihre Namen genannt hatten, legte sie ihre Hand auf Padraichs Schulter. „Könntest du mir einen Gefallen tun, Padraich?“, fragte sie, „ich bräuchte einen starken Mann.“ Bei diesen Worten wanderte ihr Blick zu seiner Hand, deren Ring- und Mittelfinger gleich lang waren.
„Ich würde gerne helfen“, stotterte der junge Mönch, „aber …“ Er zitterte am ganzen Leibe, denn die Berührung der Frau rief in ihm die gleiche lustvolle Verwirrung hervor, die er manchmal in den Träumen spürte, derer er sich beim Erwachen schämte.
„Er will sagen, dass wir heute in Eile sind“, kam ihm Kilian zu Hilfe. „Wir haben noch kaum Tang gesammelt, und die Flut kommt bald. Wir würden lieber so schnell wie möglich hinausfahren. Morgen könnten wir früher da sein, dann hätten wir mehr Zeit!“
Die Frau lachte. Es war ein wissendes, helles Lachen, das klang, als ob eine der kleinen Glocken geläutet würde, die im Kloster auf dem Altar standen. „Nun denn, lauft nur, erfüllt eure Pflicht. Und was morgen ist, das weiß Gott.“
Die beiden dankten hastig und rannten zum Strand zurück, um das Boot zu Wasser zu lassen. Es war gut dreimal so lang wie ein Mann, doch überraschend leicht und wippte beim Tragen. Sie paddelten ein Stück hinaus, dann hisste Kilian das Segel, das zusammengerollt im Boot lag. Der Wind fuhr in die stockfleckige Leinwand, die erst knatterte und sich schließlich wölbte, während das Boot über die Dünung glitt, sanft und geschmeidig wie ein lebendiges Wesen. Padraich, der an der höher aus dem Wasser ragenden rechten Bordkante lehnte, schnupperte die frische Meeresluft, sah die Küste mit der Fischerkate kleiner werden und spürte etwas, das er in seinem ganzen bisherigen Leben noch nie gekannt hatte: das Gefühl der Freiheit.
Im Stillen bewunderte er Kilian, der mit geübten Griffen das Curragh um die Landzunge lenkte, bis sie die flache Insel erreichten, in deren Mitte ein hüfthoher Felsen aufragte. Anschließend zogen sie zusammen das Boot hoch und begannen, mit ihren Händen Algenbüschel abzureißen und in das Innere des Curraghs zu werfen. Obwohl sie immer Gefahr liefen, auf dem glitschigem Boden auszurutschen, brauchten sie kaum eine halbe Stunde, um genügend beisammenzuhaben. Dann wurde es Zeit zur Rückkehr, denn die steigende Flut schäumte schon um die sichtbar kleiner gewordene Insel. Diesmal mussten beide zu den Paddeln greifen, doch bald waren sie am Ufer an der Stelle angelangt, wo ihr Karren stand. Nachdem sie den Tang entladen und das Boot um die Landzunge zurückgerudert hatten, schlugen sie sich lachend auf die Schultern, warfen mit Treibholzstücken nach den kreischenden Möwen und tanzten den Strand entlang, bis sie erschöpft den Karren erreichten.
„So wie die Sonne steht“, keuchte Padraich, „haben wir noch etwas Zeit, bevor wir zurück müssen.“
„Wir könnten ja Brigid besuchen und ihren Met probieren“, schlug Kilian augenzwinkernd vor, „und ihr bei dem helfen, wofür sie einen starken Mann braucht – oder zwei!“ Er lachte, als er Padraichs verlegenes Gesicht sah, und fuhr fort: „Du hast Recht, besser morgen. Wenn wir nicht bis zur Vesper zurück sind und Molua es merkt, verpasst er uns wieder hundert von diesen lästigen Psalterrezitationen!“
Jeder im Kloster kannte Molua, der zu den ranghöchsten Mönchen, den Seniores, gehörte und für die Bestrafungen zuständig war. Bei Gründung des Klosters hatte man die Bußregel des heiligen Columbanus übernommen, die für jede Verfehlung genau festgelegte Strafen vorsah: Fasten, Schweigegebote, Psalmenrezitationen im Stehen oder bis zu 25 Schläge mit der Lederpeitsche auf die Handflächen. Allerdings stand es im Ermessen des jeweiligen Seniors, aus dem Katalog der gleichwertigen Bußen die richtige auszuwählen. Molua war dafür berüchtigt, dass die Mönche von ihm glaubten, dass er ihnen hinterherschnüffele, Freude am Bestrafen habe und jeweils die von dem Betroffenen am meisten gefürchtetste Wahl träfe. Nur bei Kilian, dem Neffen des Abtes, schien er sich etwas zurückzuhalten.
Padraich steckte einen vom Meer blank gescheuerten Ast in den Sand. „Wenn der Schatten bis hierher gekommen ist“, sagte er und zeigte auf eine Muschel, „dann sollten wir gehen. Aber was machen wir, wenn morgen Memilian wieder mitkommt?“
„Ach Memilian“, lachte Kilian, „dem sollten wir wohl besser nichts von Brigid erzählen. Der fängt so zu zittern an, dass er alles verrät. Dann ist es mit dem Boot vorbei, und wir können uns wieder am Strand abschinden.“
Memilian war ein kleiner, schüchterner Novize mit abstehenden Ohren. Vor einigen Jahren war er aus dem Frankenreich in die Klosterschule gekommen und teilte seit drei Monaten die Nachbarzelle mit einem sächsischen Mönch aus Britannien. Noch immer sprach er Latein besser als Irisch und sah oft traurig aus, als fühle er sich einsam. Auch Padraich war es lange nicht gelungen, seine Verschlossenheit zu durchdringen. Erst in den letzten Wochen hatte sich die Mauer des Schweigens einen Spaltbreit geöffnet und der blonde Junge begonnen, von seiner fernen Heimat zu erzählen.
Während Kilian fortfuhr, von dem Boot zu schwärmen, schweiften Padraichs Blicke über die Küste, die grünen Hügel und die dunklen Mäuerchen, die sie zerteilten. Er spürte, wie sehr er dieses Land liebte und wie schwer es ihm fallen würde, es jemals zu verlassen, um den weiten Weg zu den Heiden anzutreten. Aber wenigstens würde er gemeinsam mit seinem Freund Kilian aufbrechen, was immer der alte Grellan auch gesagt haben mochte.
***
Diese Nacht schlief er unruhig und hatte einen seltsamen Traum, in dem er zu der schäbigen Fischerhütte ging. Brigid lehnte in der schwarzen Türöffnung und musterte ihn – herausfordernd, fast spöttisch, aber zugleich auch verlockend. Irgendwo in der Nähe war auch Kilian. Doch es war der kräftige, rotblonde Padraich, den die Frau mit leicht schräg gehaltenem Kopf anlächelte. Er ging auf sie zu, und sie strich ihm zart mit der Linken über das sommersprossige Gesicht, während sie mit der Rechten ihr hochgestecktes Haar öffnete, bis rote Strähnen wie Wellen über ihre Schulter flossen. Sie nahm seine Hand, sah schmunzelnd auf die zwei gleich langen Finger und zog ihn in die Dunkelheit des Raumes. Ein letztes Mal wandte er sich noch um. Betroffen gewahrte er Kilian, der zwischen den Bienenstöcken hervorspähte, dann fiel die Türe zu. Die Frau umschlang ihn, presste ihren Körper an den seinen, und er spürte, wie ihn die Begierde überwältigte. Ohne Gegenwehr sank er mit ihr auf das Strohlager in der Ecke, um sich der Lust hinzugeben.
Am nächsten Morgen, als die Glocke zum Frühgebet läutete, schreckte er verstört aus seinem Traum und beschloss schuldbewusst, heute fünfzig Psalter extra zu beten und besonders hart zu arbeiten.
Als er kurze Zeit später gemeinsam mit Kilian und Memilian, der sie heute wieder begleiten sollte, den Karren über den Strand schob, war der blaue Himmel nicht mehr so klar wie gestern, sondern von zerfetzten Wolkenstreifen überzogen.
Memilian starrte das Boot an, sagte aber nichts, als Kilian ihm bedeutete, beim Tragen zu helfen. Die Ebbe hatte vor einigen Stunden eingesetzt und der Sog des abfließenden Wassers trug sie aus der Bucht, doch sobald sie um die Landzunge bogen, wurden die Wellen stärker, so dass die Weidenspanten des alten Bootes knarzten, als beklage es sich über eine lange nicht mehr gewohnte Plackerei. Während die anderen paddelten, kauerte Memilian am Bootsrand und stützte sich auf dem kalten Leder ab, das sich unter seinen gespreizten Fingern bewegte, als wände sich darunter ein lebendiges Wesen. Mit einem Male hob er die Hand, rief aufgebracht: „Aqua! Aqua!“ und wies auf die Bordwand. Kilian drehte den Kopf, kniff die Lippen zusammen und musterte die Stelle, an der ein dünner Strahl aus einer Naht quoll. Zum Glück hatten sie den tangbedeckten Felsen schon fast erreicht, der jetzt fast doppelt so groß wie am Vortag aus dem Wasser ragte. Sie zogen das Boot ans Ufer, Kilian untersuchte die undichte Stelle und meinte kopfschüttelnd: „Das muss genäht und neu eingefettet werden, sonst reißt es weiter auf und wir saufen auf der Rückfahrt voll beladen ab.“
„Wie können wir das hier tun?“, fragte Padraich besorgt, der sich auf dem etwa dreißig Schritt langen Eiland umsah.
„Hier geht das nicht“, stimmte Kilian ihm zu, „aber der Wind steht günstig. Ich bin schnell an Land, gehe zur Hütte und frage ...“, bei diesen Worten zögerte er kurz, um energisch fortzufahren, „na ja, hole, was ich brauche und bin vor der Flut wieder zurück. Ihr könnt derweil so viel Tang sammeln, dass wir für zwei Tage genug haben. Einverstanden?“
Die beiden anderen nickten und sahen zu, wie Kilian in das Boot stieg, das Segel hisste und bald hinter der Landzunge verschwunden war. Dann machten sie sich beherzt daran, die grünen Büschel abzureißen. Nach einiger Zeit hatten sie einen mächtigen Haufen beisammen, und Padraich begann sich langsam zu fragen, wo Kilian blieb. Der Gedanke, dass sein Freund vielleicht gerade jetzt alleine mit Brigid sein könnte, versetzte ihm einen Stich. Doch sogleich schämte er sich seiner misstrauischen Eifersucht und wandte sich an den schweigsamen Memilian.
„Ich glaube, das genügt. Ich habe eine Flasche Wasser mitgenommen, etwas Brot und ein Messer. Wir könnten Seeigel sammeln; wenn man sie vorsichtig öffnet, kann man sie essen.“
Memilian sah ihn ungläubig an, machte sich jedoch eifrig mit auf die Suche. Auf einmal trug der Wind ein heiseres Bellen zu ihnen herüber, und als sie aufblickten, sahen sie auf einem einige Dutzend Schritte entfernten flachen Felsen eine Seehundherde. Ein großer Bulle reckte seinen mächtigen, glatten Körper empor, die langen Schnurrbarthaare zitterten im Wind, um ihn herum lagerten einige Weibchen.
Memilian starrte die Tiere an und plötzlich brach es aus ihm heraus: „Wenn wir eine Waffe hätten, könnten wir sie jagen! Übermorgen ist Sonntag, statt der ewigen Gänseeier …“
„Nein“, Padraichs Stimme war schrill. „Man darf keine Seehunde töten! Mein Vater hat mir erzählt, es könnten verhexte Menschen sein. Oder die Seelen Ertrunkener.“
Memilian sah ihn entsetzt an, nickte betreten und begann erneut, schweigend in den Felsspalten nach Seeigeln zu suchen.
Nachdem eine Stunde vergangen war, hatten sie einige Dutzend Stachelkugeln aufgeschnitten und das schlabbrige Fleisch mit Brotstücken ausgewischt. Sie wuschen ihre Hände am Ufer und Padraich fragte: „Lebt dein Vater noch?“ Der Novize nickte. „Ja, er ist Diakon in Colonia. Das ist eine Stadt an einem breiten Fluss namens Rhein. Und deiner?“
Padraich musterte den Jungen nachdenklich, der ihn offen ansah, doch dann sagte er bloß: „Mein Vater ist tot. Aber ich möchte lieber nicht darüber sprechen.“ Er lächelte traurig und blickte sich um. „Wo nur Kilian bleibt?“
„Meinst du, ihm ist etwa zugestoßen?“, fragte Memilian erschrocken.
„Nein, nein, er wird schon kommen“, wiegelte Padraich ab. „Achtung!“ Er sprang auf, als eine besonders große Welle an den Felsen spritzte und die Jungen sich ein Stück höher setzten mussten.
„Wie ist Colonia?“, fragte er den Jüngeren, um seine aufkeimende Unruhe nicht erkennen zu lassen.
„Gewaltig, voller Paläste und prächtiger Kirchen, umgeben von einer hohen Mauer mit vielen Türmen“, antwortete Memilian stolz.
„Um die ganze Stadt, so wie um das Kloster?“, fragte Padraich verwundert. „Und das habt ihr Franken erbaut?“
„Nein, das waren die Römer. Aber wir Franken haben vor zwei Jahrhunderten die Stadt erobert. Jetzt leben nur noch wenige Römer dort, selbst die meisten Priester sind Franken.“
„Und warum bist du hier in Irland?“
„Weil es bei uns kaum gute Klosterschulen gibt. Immer weniger Menschen können Latein oder überhaupt nur lesen, sagt mein Vater.“
Padraich schwieg dazu. Er begann zu frieren und sah sich um. Der Himmel hatte sich mit grauen Wolken bezogen und der Wind aufgefrischt. Die Flut stieg, ihre Insel war schon deutlich geschrumpft und der Seehundfelsen gänzlich verschwunden. Immer öfter trafen Gischtspritzer die jungen Männer.
„Komm, lass uns etwas höher rutschen“, sagte Padraich, noch immer um Ruhe bemüht, um Memilian nicht zu ängstigen, der sich auf ihn zu verlassen schien.
Sie setzten sich auf den Tanghaufen, und Padraich starrte in Richtung der Landzunge, um die Kilian mit dem Curragh biegen musste. Doch so sehr er sich anstrengte – kein Boot war zu sehen. Um Memilian auf andere Gedanken zu bringen, fragte er ihn nach seiner Familie, nach dem Leben in Colonia und den Verhältnissen im Frankenreich.
„Wir haben viele Könige“, antwortete der Novize. „Ständig kämpfen sie untereinander, überfallen sich gegenseitig oder töten sich sogar.“
„Sind sie denn keine Christen?“, verwunderte sich Padraich.
„Getauft sind sie vielleicht“, entgegnete der andere. „Aber aufführen tun sie sich wie die schlimmsten Heiden.“
Er sprach weiter, doch Padraich hörte kaum zu, als der Novize von dem jahrelangen Kampf der Königinnen Fredegunde und Brunichilde erzählte, wobei die letztere zum Schluss von den Verwandten, die ihren Mordanschlägen entrinnen konnten, gefangen genommen worden war. Drei Tage lang hatte man die Greisin gefoltert, bevor sie mit ihrem Haupthaar und einem Bein an ein Pferd gebunden wurde, das sie unter dem Gejohle des Volkes zu Tode schleifte.
Padraichs Blicke wanderten indes immer unruhiger über das aufgewühlte Meer, über die Umrisse der Insel, von der allenfalls noch ein Drittel aus den Fluten ragte.
Jetzt ließ sich auch Memilian nicht länger ablenken. „Wo bleibt denn Kilian?“ Er packte den Älteren am Ärmel. „Er wird uns doch nicht vergessen haben?“
„Nein, nein, sicher hat das Ausbessern nur länger gedauert“, antwortete Padraich beschwichtigend. Aber in seinem Innersten nagte ein anderer Gedanke, fraß die Eifersucht und keimte Angst auf. In diesem Augenblick traf eine Gischtflocke sein Gesicht, so dass er sich das Salzwasser aus den brennenden Augen wischen musste.
„Vorsicht!“, rief Memilian kurz darauf. Eine große Welle brandete über den Felsen, durchnässte die Sandalen der Jungen, schoss in den Tanghaufen und schwemmte einige Handvoll weg. Die Jungen erhoben sich hastig, knieten sich auf den Haufen und bemühten sich verzweifelt, den Tang mit beiden Händen festzustopfen. Schließlich stand Padraich auf, stützte sich auf den erhöhten Mittelfelsen und spähte über die graue Wasserfläche.
„Da kommt er!“, schrie er Memilian zu.
Ein kleines Boot bog um die Spitze der Halbinsel, darin ein junger Mann, der mit heftigen Bewegungen paddelte. Die Jungen sprangen auf, winkten und brüllten, obwohl sie wussten, dass Kilian sie auf die Entfernung kaum hören konnte. Unaufhaltsam stieg das Wasser, immer häufiger brandeten Wogen an den Tanghaufen und rissen Teile davon mit sich.
„Wenn er nicht bald da ist“, japste Memilian, „war unsere Arbeit umsonst. Wir kommen mit leeren Händen heim und müssen zu Molua.“
Padraich nickte, doch als er sah, wie langsam sich das Boot an die schrumpfende Insel herankämpfte, begann er, sich vor ganz anderen Dingen als den Strafen des Seniors zu fürchten.
„Heiliger Christophoros“, wimmerte Memilian, während eine Welle nach der anderen über den Tanghaufen schwappte und die Jungen durchnässte. „Hilf uns aus den Fluten!“
„Auf den Felsen“, befahl Padraich, „er schafft es nicht rechtzeitig, um unsere Ernte zu retten.“
Sie kletterten auf den erhöhten Mittelteil, der etwa drei Fuß über den Rest der Insel ragte, die schon fast zur Gänze von den schäumenden Fluten überspült wurde. Das Curragh war näher gekommen, Kilian schien wie von Sinnen zu paddeln, aber Padraich ahnte, dass es noch eine Stunde dauern konnte, bevor er sie erreichen würde. Und in dieser Stunde würde das Meer den Felsen verschlungen haben …
„Kannst du schwimmen?“, fragte er Memilian, der stumm, mit weit aufgerissenen Augen, den Kopf schüttelte. „Ich auch nicht. Lass uns beten.“
Halblaut murmelten sie ihre Gebete, flehten sämtliche Heilige an, die sie kannten und gelobten, in Zukunft täglich 100 statt der vorgeschriebenen 64 Psalmen zu sprechen – vergeblich. Immer höher stieg das Wasser, schäumte bald zwischen ihren Füßen hindurch, so dass sie Mühe hatten, nicht auf dem glitschigen Felsen auszurutschen. Das Curragh war jetzt vielleicht noch hundert Schritte entfernt, aber Kilian schien kraftlos und seine Bewegungen schwächer.
„Schneller, beim heiligen Brendan, streng dich an!“, schrie Padraich durch den Wind. Er und Memilian standen nun eng umklammert auf dem Felsen, den das Wasser bereits kniehoch bedeckte. Einzelne Wellen durchnässten sie bis über die Hüften, und die gurgelnden Fluten schienen mit den zwei zitternden Menschen zu spielen, ja, sich einen grausamen Spaß daraus zu machen, immer stärker an ihnen zu zerren, um sie irgendwann von ihrem unsicheren Halt herabzureißen.
„Darf ich dich um etwas bitten?“ Memilians Stimme klang schwach gegen das Tosen. Padraich blickte zu dem kleinen Novizen herab, dessen Kinn an seine Brust gepresst war, und das Herz wurde ihm schwer. „Ja, was denn?“
„Wenn Gott mich das hier nicht überleben lässt“, die Stimme stockte, „könntest du dann dafür sorgen, dass meine Eltern Nachricht bekommen?“
„Memilian, wir bestehen diese Prüfung gemeinsam!“, erwiderte Padraich, doch wider besseres Wissen, denn er hatte am Morgen den seltsamen Nebel vor dem Gesicht des Novizen wahrgenommen.
Der Junge achtete nicht auf seinen Einwand. „Mein Vater ist der Diakon Memilian, bei der Kirche „Zu den Goldenen Heiligen“. Sie ist rund und liegt nördlich der Stadtmauer von Colonia. Sag ihm und meiner Mutter, dass ich sie lieb habe, und dass wir uns im Himmel wiedersehen werden. Versprichst du mir das?“
„Ja, Memilian, aber noch ist es nicht so weit. Das Boot ist schon ganz nahe!“
Padraich sah, als Kilian nur noch etwa dreißig Schritte entfernt paddelte, dass ihm die Augen aus den Höhlen zu treten schienen. Doch da rollte eine besonders große Welle von der offenen See heran, hob die aneinandergeklammerten Mönche und trug sie fort. Padraich schlug wild mit Armen und Beinen um sich, hustete und spuckte, als ihm das Wasser in die Nase drang, doch immer wieder wurde er von dem Gewicht des Novizen herabgezogen, der sich an ihn klammerte.
„Memilian, lass los!“, brüllte er panisch, als sein Kopf endlich wieder die Wasseroberfläche durchbrach, doch der andere schien ihn nicht zu hören.
„Schwimm selbst!“, rief er in Todesangst, und als er erneut versank, packte er in seiner Verzweiflung die verkrampften Hände des Jüngeren und riss sie von seiner Kutte. Mit paddelnden Bewegungen, wie ein Hund, gelangte er nach oben, und als ihn eine Welle emporhob, erblickte er das Curragh kaum zehn Schritte entfernt.
„Kilian!“, heulte er. Der Kopf des anderen fuhr herum, und er kam auf ihn zu, legte das Paddel weg, kniete an der Bootswand und half ihm ins Boot.
„Memilian“, keuchte Padraich mit letzter Kraft, „er ist noch da draußen!“ Kilian nickte stumm, gemeinsam ergriffen sie die Paddel und begannen zu suchen. Vergeblich. Kein blonder Schopf war auf der düsteren Wasserfläche zu erkennen, nur das wiegende Weiß der Schaumkronen. Nach einer halben Stunde gaben sie den Kampf gegen Wind und Wellen entkräftet auf. Kilian setzte das Segel und steuerte das Boot zum Ufer zurück. Mit letzter Kraft zogen sie es auf den Strand und ließen sich auf den Boden fallen.
Nachdem er sich ein wenig erholt hatte, richtete sich Padraich auf. „Warum hast du so lange gebraucht?“, fuhr er den anderen an.
Kilian wich seinem Blick aus. „Ich kann nichts dafür“, murmelte er. „Erst war die Hütte verschlossen, und dann, als Brigid kam, nun ja, dann dauerte es doch länger, als ich gedacht hatte.“ „Was dauerte länger?“, zischte Padraich gefährlich.
„Es ist nicht wie du denkst! Ich sollte ihr helfen, dafür wollte sie mit mir zusammen den Riss vernähen.“
„Bei was“, fragte Padraich lauernd, „bei was hast du diesem Weib geholfen?“
„Beruhige dich“, entgegnete Kilian und stand auf. „Sie bat mich, einen Pfosten abzusägen und damit das Dach zu stützen, das einzusinken drohte.“
„Einen Pfosten absägen? Für eine Pfosten musste Memilian sterben?“
„Nein, das dauerte gar nicht so lange. Aber danach stellte es sich heraus, dass der Riss im Curragh größer war. Wir mussten die Naht öffnen …“
„Du lügst!!“ Padraich war zornig aufgesprungen. „Du hast mit dieser Schlampe gehurt!“
„Schweig! Du beleidigst meine Ehre“, erwiderte Kilian scharf, „und die ihre. Nimm das sofort zurück!“
„Warum? Willst du etwa leugnen, dass du mit deiner Hurerei Memilian auf dem Gewissen hast?“
Keiner von ihnen konnte später sagen, wer zuerst die Faust gegen den anderen erhoben hatte. Einen Herzschlag später wälzten sie sich auf dem Sand, prügelten aufeinander ein und beschimpften sich, bis sie mit zerschlagenen Gesichtern erschöpft von einander ablassen mussten.
Eine Weile verging, ohne dass sie noch ein Wort miteinander wechselten. Dann machten sie sich auf den Rückweg zum Kloster. Beiden graute vor der öffentlichen Beichte, die schlimmer sein würde als jede mögliche Strafe.