Читать книгу Kassiber aus der Gummizelle - Frank Willmann - Страница 8
Оглавление03 Stahl Brandenburg auf dem Gipfel der Verzweiflung
»Der Kollege Fleischhauer bitte schleunigst zur Schicht!«
Bis 1989 konnte man im Stadion von Stahl Brandenburg immer wieder hören, wie der Stadionsprecher säumige Mitarbeiter zur Schicht ins Stahlwerk bat. Sie hatten schlichtweg vergessen, knuffen zu gehen. Die Arbeit lief ihnen nicht weg, der Fußball schon. Der Fußballclub und das Stahlwerk waren eins. In den siebziger Jahren haben die Brandenburger noch die Feuerwehr gerufen, wenn beim Abstich im Stahlwerk der Himmel in Flammen stand. Die Menschen dachten, ihre Stadt brennt. Nach der Schicht war Fußball, vor der Schicht war Fußball. Für den Stahlkocher genauso wie für den Generaldirektor des Qualitäts- und Edelstahlkombinats Brandenburg. Der hieß von 1979 bis 1986 Hans-Joachim Lauck und war ein Fußballverrückter. Er schuf den Nährboden für den kurzen Triumph seines Vereins und hievte die BSG 1986 in den Europapokal.
»Stahl Feuer!«, lautete der Schlachtruf der Anhänger, welcher lautstark und gern im Stadion als Wechselgesang intoniert wurde. Lauck holte künftige Stahlhelden wie Zimmer, Jeske, Ringk und Janotta in die Havelstadt. Stars mit natürlichen Mängeln. Etlichen von ihnen war die Karriere in DDR-Großclubs wegen familiärer Verbindungen in den Westen verwehrt. Wer Kontakte zum Klassenfeind hatte, galt in der DDR als unsicherer Kantonist. Böse Zungen munkelten von dicken Umschlägen, die in der Kabine den Besitzer wechselten. Schwarzgeldzahlungen als offenes Geheimnis. Das rief den DFV (Fußballverband der DDR) auf den Plan, der heimliche Prämienzahlungen und Sonderaufwendungen feststellte. Ende der Achtziger verdiente mancher Stahlkicker knapp 4.000 DDR-Mark monatlich. Inklusive Spezialprämien. Ein für DDR-Verhältnisse durchaus beeindruckendes Sümmchen. Den Stahlwerkern war das egal, die waren stolz auf ihre BSG und wollten guten Fußball sehen. 1986 wurde Lauck nach Berlin weggelobt. Offiziell 18.000, inoffiziell 22.000 Stahlwerker beweinten im selben Jahr das Aus in der zweiten Runde des UEFA-Cups gegen IFK Göteborg.
»Damals gab’s in Brandenburg über hundert Arbeiterstampen«, sagte Olaf und lächelte. Billiges, helles Bier, bei zu großer Hitze wurde es schnell sauer. Olaf hat die beinharten Aufstiegskämpfe der BSG Stahl Anfang der Achtziger mitgemacht. Einmal in Berlin, Olaf war gerade vierzehn. Stahl gewann, und eine Horde junger Brandenburger stürmte freudetrunken das Sportfeld. Erboste Berliner Rentner hinterher. Einer der Widerborste bohrte voll Wut über das verlorene Spiel einem jugendlichen Stahlfan die Spitze seines Regenschirms in den Hals. Es waren ruppige Zeiten, die schwielige Arbeiterhand saß überaus locker. Das bekam Olaf bei einem Heimspiel Stahls zu spüren. Nach dem Foul eines Stahlverteidigers an einem gegnerischen Spieler klatschte er Beifall. Daraufhin drehte sich ein Stahlwerker um und feuerte ihm eine. Es folgte eine Belehrung. Bei Fouls zu applaudieren sei unsportlich und gezieme sich für ehrliche Stahlarbeiter nicht. Brandenburg war Arbeiterstadt. 100.000 Menschen lebten zumeist vom Stahlwerk oder von Zulieferbetrieben. Der Stadtrivale hieß BSG Motor Süd Brandenburg und stand im Schatten Stahls. Zu Süd gingen die ehrlichen Getriebewerker, vielleicht auch, um den ehrlichen Stahlwerkern aus dem Weg zu gehen.
Mai 2014. Brandenburger Gespensterparade. Das Stahlwerk ist Geschichte. Von Brandenburgs einhundert Arbeiterkneipen sind zehn geblieben. Mit den Kneipenwirten verließ seit 1990 ein Viertel der Einwohner die Stadt.
Dem Fußball erging es nicht besser. Stahl Brandenburg als gefallener Engel. Nach der Wende wurde schnellstmöglich ein Manager aus dem Westen verpflichtet. Stahl wollte seinen Spitzenplatz in der blühenden gesamtdeutschen Fußballlandschaft festigen. Der gute Mann verstand sein Handwerk leider nicht so ganz. Er verpflichtete erst einen Handball-, später einen Leichtathletiktrainer für Stahl. Die Jungs mussten im Training Ballett tanzen, während im Stahlwerk nach und nach die Lichter ausgingen. Im Geldverbrennen war der Mann aus dem Westen immerhin top. Die Brandenburger Fußballfunktionäre hatten bei Karl Marx nicht nachgeschaut, wie Kapitalismus funktioniert. Sie steckten die Köpfe in den Sand. Und schauten dem Manager tatenlos zu. Die Spieler wollten endlich an das gute Westgeld rankommen. Managergestalten wie Calmund winkten mit dicken Scheinen. Da wird fast jeder schwach. Bei der ersten Gelegenheit liefen sie davon. Ein Jahr zweite Liga endete mit dem Abstieg, seitdem geht’s bergab. Stahl ging wie jeder Zonenclub mindestens einmal pleite nach der Wende. Zweimal unbenannt, erst in BSV Stahl Brandenburg, 1998 nach Konkurs und Neugründung in FC Stahl Brandenburg. Im Juni 2014 wird Stahl wohl aus der Verbandsliga Brandenburg noch tiefer rutschen. Wenn nicht ein Wunder geschieht. Wie in den letzten Jahren, als Stahl gerade so dem gnadenlosen Schnitter entwischte. Wenn’s gut geht, erscheinen heutzutage einhundert Fans zu den Heimspielen. Freunde des Fußballsports, so geht das Ende. Einsam, trist, bitterbös. Ihr könnt euch schon mal vorwärmen.
Die neunziger und die nuller Jahre erlebte der Musiker Torsten Gränzer als Fan. Später engagierte er sich im Verein, schrieb die Stahlhymne.
Stahl Feuer / Ich war noch ein Junge, als das Fieber über mich kam / Nichts war mir so heilig wie die wöchentliche Pilgerfahrt / Auf gesegnetem Gebiet, wie ein Brandenburger es verdient / Waren wir uns treu, die Südkurve und der Verein /…Du warst einst der Stolz in unserer Stahlwerkerstadt /…Oh FC Stahl – du blauweißer Traum, der in mir lebt / Oh FC Stahl – du Flamme in meinem Herzen, die niemals erlischt
In den neunziger Jahren hatte Stahl massive Probleme mit gewaltbereiten, rechtslastigen Fans. Das vertrieb eine Menge loyaler Brandenburger aus dem Stadion. Und hängt dem Club heute noch wie ein alter Furz in den Kleidern. Der Stadtrivale, umbenannt in Brandenburger SC Süd 05, ist längst an Stahl vorbeigezogen.
Süßwassermatrosen ahoi! Dort, wo die Havel durchs Brandenburgische mäandert, liegt das schöne Stahl-Stadion am Quenz, einst lag direkt daneben das Stahlwerk. Es ist konservierte DDR-Sportgeschichte. Mit den alten Flutlichtmasten und dem musealen Sprecherturm. Auf eine hübsche Art marode, so janz jenseits sprießender Landschaften. 1988 wurde bei Stahl mit der Errichtung einer Flutlichtanlage begonnen, acht Jahre später wurde sie fertiggestellt. Sie kam selten in Betrieb.
Ende der Achtziger war noch Europapokal angesagt, mit dem Stahlwerk und fußballkranken Bonzen im Rücken sollte Europa aufgemischt werden. Nun ist das Stahlwerk Geschichte, Ruine, Museum – wie der Club. Gegen Germania Schöneiche kamen Anfang Mai 2013 knapp siebzig Zuschauer. Das Spiel fand auf einem Nebenplatz statt, der Hauptplatz war gesperrt. Absenkung der Tartanbahn wurde als Grund gemunkelt. Vielleicht sah der Rasen zu schön aus. Sollte nicht von buckligen Fußballerlatschen zertrampelt werden. Auf dem krüppligen Nebenplatz flatterten ein paar Fanbanner. Ecki aus Friesack grüßte die Welt. Die Gesamtsituation war traurig und tat weh. »Der einst stolze Club komplett im Arsch«, sagte Olaf und lümmelte sich melancholisch auf der gesperrten Sitzplatztribüne. Ein mausgraues Erlebnis der Marke Fußball zum Weglaufen. Wir traten von einem Bein aufs andere. Natürlich verlor Brandenburg den schlimmen Kick. Nur einmal zuckte ein Lächeln um Olafs Mundwinkel. Als Stahl kurz vor Spielende auf 2:3 verkürzte, hob aus neun Kehlen ein heiseres »Stahl Feuer! Stahl Feuer! Stahl Feuer!« an. Es peitschte die müden Kicker nicht zum Sieg. »Die Gegentore hat doch der Maulwurf reingeboxt«, sagte Olaf mit einem letzten Blick auf das rumpelige Geläuf und wischte sich die Augen. Wir standen noch ein bisschen auf einem Parkplatz mit Schlackeuntergrund herum. Schlacke aus den Siemens-Martin-Öfen des verschwundenen Stahlwerks.
Immerhin: ein Groundhopper war an diesem Tag zu Gast. Er wird wiederkommen. Das liegt aber nicht am schönen Fußball. Sondern am gesperrten Hauptplatz im Stadion am Quenz. Weil das Spiel auf den Nebenplatz verlegt wurde, hat er keinen Punkt gewonnen. Ihm fehlt noch immer der Hauptplatz in seiner Groundhopperstatistik. Ich lächelte ihm aufmunternd zu.
Die Stahlspieler bekommen ein paar hundert Euro für ihre Anwesenheit, das Stadion gehört inzwischen der Stadt. Beim Abstieg wird das Team vermutlich aufgelöst. Dann wird ein neues, noch billigeres aufgebaut. »Südschwein verrecke« trug ein alter Kämpe auf seinem Kapuzenpullover. Wenigstens die Reflexe funktionierten. Seit Jahren liefern sich Süd und Stahl einen putzigen Kleinkrieg. Spleens unter starrsinnigen Vereinsmeiern. Einer kann den anderen nicht leiden. Und umgekehrt. Beide Vereine am Boden, dennoch sträubt sich die kleine Schar der übrig Gebliebenen, einen gemeinschaftlichen »Großclub« auf die Beine zu stellen. Manchmal ist es nicht förderlich, wenn man sich zu gut kennt. »Eigentlich hat die Stadt Potential«, sagte Stahlfan Ronny. Mindestens für die Regionalliga Nordost. Ronny ist einer, der nach vorn schaut. 2007 standen die Weichen schon mal auf Vereinigung. Hoffnung keimte. Brandenburg Süd war willig. Stahl bockte. Die neue Zeit scheiterte letztlich am Votum der Stahlmitglieder. Ronny möchte noch immer aus den zwei vor sich hin dümpelnden Brandenburger Clubs einen starken Verein machen. Er liebt den Fußball. Und er liebt seine Stadt. Wenn er aus Potsdam von der Arbeit kommt und in der Ferne den Turm der Friedenswarte sichtet, geht ihm das Herz auf. Er wird weiter für seinen Traum vom Spitzenfußball in Brandenburg kämpfen.