Читать книгу Revolution und Heimarbeit - Philipp Felsch, Frank Witzel - Страница 5
Оглавление⇓
Und natürlich hätte ein anderer aus dem dürftigen Material irgendetwas zusammengeschustert und damit der ganzen jetzt im nachhinein fast unnötig und beinahe peinlich wirkenden Aktion eine Art von Sinn abgerungen. Einen intellektuellen, sinnlichen, unter Umständen sogar sittlichen Mehrwert, den dieser andere mit entsprechender Verve über einen der Sender gejagt hätte, bei denen er als fester Freier oder freier Fester oder was auch immer in Lohn und Brot stünde, falls man im Medienbereich überhaupt von Lohn sprechen könne, denn was sei dort schon wirklich lohnend und verpuffe nicht umgehend, kaum daß es zwischen zwei und drei oder fünf und sechs, entsprechende Wiederholungen im Nachtprogramm nicht miteingerechnet, eingequetscht im ewigen und nicht auszurottenden Singsang des Immergleichen über den Äther taumele.
Ein anderer hätte dieses zusammengeschusterte Zeug mit Sicherheit irgendwo untergebracht, denn schlecht sei dieses Zeug im Prinzip nicht, eben nur unzusammenhängend und ohne roten Faden, was ihm übrigens auch schon zum Zeitpunkt der Aufnahmen aufgefallen sei. Gleich von Anfang an sei ihm das Unzusammenhängende aufgefallen und unangenehm ins Auge gestochen, aber, so habe er sich gesagt, das Leben sei nun einmal von seiner Anlage her unzusammenhängend, das Denken, das dieses Leben überhaupt erst konstruiere, bestenfalls sprunghaft, und außerdem wisse man schließlich nie, wohin sich ein Gespräch entwickele, weshalb er mit einer gewissen Sturheit in dem Flachdachbungalow in Arlington ausgeharrt habe.
Es sei ihm trotz ständiger Bemühungen nicht gelungen, mit Hilfe der winzigen Kopfhörer, eines dieser den Markt und die Gesellschaft und die Hirne beständig weiter infantilisierenden Produkte, das man ihm beim Kauf des Recorders mitgegeben habe, die Tonqualität der Aufnahme entsprechend einzustellen, was ihn zugegebenermaßen immer wieder vom Inhalt des Gesagten abgelenkt habe, so daß ihm möglicherweise an manchen Stellen das Unzusammenhängende einer Aussage entgangen sei und er dort, wo er vielleicht hätte nachfassen sollen, um das Unzusammenhängende wenigstens als unzusammenhängend deutlich zu machen, nicht nachgefaßt habe. Immer wieder seien ihm die kleinen Stecker aus den Ohrmuscheln herausgefallen, so daß ihm seine Ohrmuscheln mit einem Mal überdimensioniert erschienen seien und er seine Ohrmuscheln selbst dann habe befühlen müssen, wenn sich die Ohrstöpsel nicht in ihnen befunden hätten. Er habe gegen ein beständig anwachsendes Gefühl der Unsicherheit in Bezug auf seine Physiognomie ankämpfen müssen und sich immer wieder dabei ertappt, wie er im Glas eines Bilderrahmens oder dem Lack des Wohnzimmerschranks nach seinem Spiegelbild gesucht habe, um an Hand dieser unscharfen Silhouette die Ausmaße seiner Ohrmuscheln zu überprüfen. Auch habe er sein Gegenüber verdächtigt, heimlich die Größe seiner Ohrmuscheln abzuschätzen, entsprechend abgelenkt zu sein und nur deshalb Unzusammenhängendes hervorzubringen.
An diesem Beispiel lasse sich übrigens recht plastisch erkennen, wie das, was man gemeinhin als Modeerscheinungen abtue, tatsächlich den Körper in eine immer größere Knechtschaft zwinge. Industrie und Wissenschaft hätten ihren Ehrgeiz daran gesetzt, alles immer noch kleiner zu machen, ohne daß es für diesen beständigen Schrumpfungsprozeß einen anderen Grund gebe, als den Menschen durch eine Art Gehirnwäsche den Bezug zur eigenen Physiognomie zu rauben. Jede Knechtschaft und Unterdrückung fange mit dem Herausstreichen äußerlicher Merkmale an: Farbe der Haut, Form der Nase, Schnitt der Augen, Beschaffenheit der Haare und so weiter. Erst streiche man diese Unterschiede heraus und dann baue man Gaskammern.
Der Nachteil dieses Systems liege natürlich auf der Hand und habe sich rund um den Globus in sämtlichen Spielarten von Faschismus und Gewaltherrschaft zur Genüge bewiesen. Kapriziere man sich nämlich lediglich auf physiognomische Unterschiede, so gerate man schnell an die Grenzen des Abschlachtens. Die üblicherweise angeführten Gründe, wer doch und weshalb kein Arier sei, obwohl er die entsprechende Physiognomie aufweise, stünden auf wackligen Füßen und könnten eine Diktatur auf Dauer in ziemliche Verlegenheit bringen.
Deshalb habe mittlerweile die Industrie das Ganze in die Hand genommen und kümmere sich hervorragend um das sogenannte Finetuning der faschistischen Grundidee. Die Industrie habe schon immer ein gesteigertes Interesse am Faschismus gehabt und den Faschismus auch mit ganzem Krafteinsatz unterstützt. Aber selbst die Industrie habe den Faschismus nicht vor seinem Ende bewahren können, da der Faschismus letztlich an seinem schwachen ideologischen Gerüst gescheitert sei. Deshalb habe die Industrie sich als erstes von jeglicher anschaulichen Ideologie gelöst. Mit Gaskammern komme man heute nicht weiter. Das sei ein totes Gleis. Eine Sackgasse. Auch mit den genetischen Anlagen sei das so eine Sache. Jetzt, wo das menschliche Genom entschlüsselt sei, könne man natürlich mir nichts, dir nichts neue Unterschiede konstruieren, die sich eben nur wissenschaftlich und dann auch nur an irgendeiner zehntausender Stelle hinter dem Komma nachweisen ließen. Aber lasse sich allein auf so etwas eine Herrschaft aufbauen? Es sei selbstverständlich unerläßlich, so etwas in der Hinterhand zu haben, aber allein mit irgendeiner zehntausender Stelle hinter dem Komma lasse sich kein universelles Arbeitslager konstruieren. Die Menschen müßten selbst Ja schreien und dieses Arbeitslager aus ganzem Herzen wollen. Und genau daran arbeite die Industrie. Denn wenn die Menschen etwas aus ganzem Herzen wollten, dann seien das die Produkte der Industrie. Und genau hier setze man an.
Anfänglich habe die technologisch allgemein übliche Praxis, die Dinge immer kleiner zu machen, durchaus noch einen Sinn gehabt. Kleiner sei damals noch synonym mit praktischer gewesen, denn mit einer schwer geschulterten Videokamera habe sich weder der Kindergeburtstag noch der Sturz eines Menschen aus einem Hochhausfenster adäquat einfangen lassen. Mittlerweile jedoch säßen die Menschen da und würden an den Ausmaßen ihrer Fingerkuppen verzweifeln, weil sie die Miniaturdisplays ihrer vielen Aufzeichnungs- und Kommunikationsgeräte nicht mehr bedienen könnten. Die Industrie verteile inzwischen dünne Stäbchen, die den Proportionen der Tastatur zwar besser entsprächen, aber gleichzeitig zu einer Herabsetzung der eigenen Mobilität führten, da man nun nicht mehr fünf, geschweige denn zehn Finger besitze, sondern nur noch ein Stäbchen, das man mit seinen Wurstfingern mühsam umklammert halte. Wolle man mit diesem Stäbchen etwas auf dem glatten Miniaturdisplay notieren, so rutsche dieses Stäbchen beständig ab und mache einen kurzerhand zum Analphabeten, der das eigene Gekrakel nicht mehr entziffern könne. Beständig werde man so auf die Grenzen der eigenen Physiognomie gestoßen, und genau darin bestehe das Prinzip der körperlichen Entfremdung, an dem die Industrie arbeite.
Wenn man auf der anderen Seite Halbwüchsige in Hosen sehe, die fünf Nummern zu groß seien, so handele es sich dabei nicht um einen Gegenentwurf, sondern um die Verstärkung eben dieser Grundidee durch die Modeindustrie, denn es gehe allein darum, dem Körper die Welt unpassend erscheinen zu lassen, gleichgültig ob er nun zu groß oder zu klein für diese Welt sei. Habe sich das Körpergefühl des Nichtpassens erst einmal allgemein verbreitet und dadurch normativen Charakter erlangt, da man täglich viele hunderte Male mit der eigenen Physiognomie an den Produkten der Industrie scheitere, so stehe der absoluten Knechtschaft nichts mehr im Wege.
In Arlington habe er natürlich noch nicht so weit gedacht. Überhaupt dieses Arlington. Schon das sei so eine Geschichte. Wenn er wenigstens die vierzehn Tage in New York verbracht hätte oder in Los Angeles oder in einer der anderen großen Städte, von denen man irgendeine prägnante Erinnerung mit heim hätte bringen können, obwohl diese Erinnerungen ohnehin nur mit dem verglichen würden, was man zuvor als Bilder von einer solchen Stadt gesehen habe, weshalb es überhaupt ein Wahnsinn sei, immer wieder Reporter und Korrespondenten in die Welt zu schicken, wo sie nichts anderes zu tun hätten, als immer wieder möglichst genau die Bilder einzufangen, die jeder ohnehin schon kenne, aber allem Anschein nach immer wieder sehen wolle.
Es sei alles nur noch zu einem Abgleichen von Bildern verkommen, weshalb er eigentlich froh hätte sein können, in eine Stadt zu geraten, deren Namen er selbst bis wenige Tage vor Antritt seiner Reise noch nicht gehört habe. Gerade weil er noch nie drüben gewesen sei, hätte er die Gelegenheit ergreifen können, einmal dem ewigen Abgleichen der Bilder auszuweichen und selbst und auf eigene Faust etwas zu erleben. Stattdessen habe er sich dem allgemeinen Druck, in den einen das Reisen zwinge, nicht entziehen können. Er habe im Flugzeug gesessen, den Kopf voller Erwartungen und Bilder, und habe so von dem Flug selbst kaum etwas mitbekommen. Auch sein erster Eindruck von Arlington sei mehr als verschwommen gewesen, was natürlich nicht an Arlington selbst gelegen habe, sondern vielmehr an der Tatsache, daß er die Reise nach Arlington, genauer den Flug nach Washington, von seinem letzten Geld bezahlt und folglich keine andere Möglichkeit gehabt habe, als die vollen vierzehn Tage in Arlington und zudem bei einem ihm völlig Fremden, einem flüchtigen Bekannten seines Schwagers, abzusitzen, einem durchaus netten Zeitgenossen und jungen Kerl, Mitte zwanzig maximal, der schon zehn Jahre drüben lebe und damit quasi assimiliert sei.
Im Grunde sei nichts gegen den Jungen einzuwenden gewesen, und wenn er diesen Jungen irgendwo hier in der Gegend getroffen hätte, auf einem Fest etwa oder bei einer anderen Gelegenheit, dann hätte er sich bestimmt sehr angeregt mit diesem Jungen unterhalten, zweifellos, und vielleicht sei das die wirkliche Bedeutung von Entfernung, daß sie dazu zwinge, überwunden zu werden, und daß sich allein in der Konfrontation mit diesem Zwang, nämlich im Überwinden der Entfernung, wenn auch nicht alles, so zumindest einiges verändere.
Wenn man sich extra wegen eines Gesprächs, wegen mehrerer Gespräche, einer ganzen Serie von Gesprächen, eigentlich einer sogenannten Exklusivstory, acht Stunden ins Flugzeug setze und sein letztes Geld für einen Recorder und das Flugticket ausgebe, dann könne das im Grunde nur in einem Desaster enden. Alles, was man mit Hoffnungen belege und mit Wünschen überfrachte, müsse zwangsläufig in einem Desaster enden. Alle Beteiligten seien von solchen Aktionen überfordert. Und gerade wenn alle Beteiligten von solchen Aktionen überfordert seien, endeten solche Aktionen zwangsläufig in einem Desaster. Da alle Beteiligten merkten, daß sie nicht an die Vernunft der anderen Beteiligten appellieren könnten, da sie merkten, daß sie noch nicht einmal mit dem Verständnis der anderen Beteiligten rechnen könnten, die gleichermaßen wie sie selbst überfordert seien mit der Situation, entstehe aus dieser Verzweiflung die Tendenz, sich dem Erstbesten hilfesuchend zuzuwenden. Der Erstbeste sei aber in der Regel derjenige, der mit der ganzen Angelegenheit nicht das Geringste zu tun habe, weshalb der Erstbeste auch gern Ratschläge erteile, überhaupt gern das ganze Geschehen an sich reiße und verkünde, wie es nun weitergehe. Dessenungeachtet seien alle Beteiligten dennoch froh über ein klares Wort, so wie man sich über das klare Wort eines Arztes freue, wenn der Arzt endlich einmal das Wort an einen richte und behaupte, daß man sich ganz auf ihn verlassen könne und er den in diesem Fall nötigen Routineeingriff praktisch im Schlaf auszuführen in der Lage sei. Manchmal seien die Leute so erleichtert über ein klares Wort, daß sich hinter diesem klaren Wort alles mögliche verbergen könne, Aufgabe der freien Meinungsfindung zum Beispiel, Opferung des passiven Wahlrechts, Hergabe einer funktionstüchtigen Niere, obwohl es meistens nur um das hastig an der Wohnungstür ausgefüllte Bestellformular einer Fernsehzeitung gehe.
Hauptsache endlich ein klares Wort, dächten alle Beteiligten und würden ihre Koffer packen und sich zu dem im klaren Wort genannten Termin an einer Sammelstelle einfinden, mit dem befreienden Gefühl, endlich der Zeit der Ungewißheit entkommen zu sein.
Der Erstbeste müsse dabei nicht unbedingt ein Adolf sein. Es müsse niemand sein, der sozusagen in betrügerischer Absicht herumlaufe und Situationen aufsuche, bei denen alle Beteiligten gleichermaßen überfordert seien. Es sei vielmehr jemand, der sich durch eine extreme Wurschtigkeit auszeichne. Es sei jemand, der einfach seiner Wege gehe und dabei an nichts anderes und niemanden anderen denke als an sich. Selbst wenn ihm jemand anderer begegne, denke er immer nur weiter an sich, weshalb er sich in keine Situationen hineinziehen lasse und deshalb auch nicht abwägen und verschiedene Seiten anhören müsse. Ziemlich flott fälle er ein ziemlich beliebiges Urteil, über das alle Beteiligten erst einmal dankbar und froh seien, während sich später herausstelle, daß sie für dieses Urteil, das sie scheinbar aus einer unlösbaren Situation befreie, entsprechend bezahlen müssen, nämlich mit Arbeitslager und Lohnraub und Beschneidung der persönlichen Freiheit, sowie Reisebeschränkung, Einbuße der freien Meinungsfindung und was man sich sonst noch so vorstellen könne. Das nenne man dann schnell Diktatur oder Faschismus, aber in Wirklichkeit resultiere dies alles allein aus der Situation, in der alle Beteiligten überfordert gewesen seien, und solche Situationen entstünden nun einmal aus Hoffnungen und Wünschen, weshalb er sich im allgemeinen nichts wünsche und auf nichts hoffe. Denn wenn man sich etwas wünsche und auf etwas hoffe, so könne dies nur in einem Desaster enden, wofür ihm diese Aktion, diese Reise, dieser Versuch, dem eigenen Schicksal eine Wendung zu geben, wieder einmal als Bestätigung diene.
In diesem einen schwachen Moment allerdings, als sein Schwager ihm von dem jungen Kerl in Arlington erzählt habe, diesem Snake, sei wohl dennoch und ganz gegen seine sonstige Gewohnheit eine Art Hoffnung in ihm aufgekeimt. Ganz im Verborgenen, so daß er es selbst erst gar nicht bemerkt habe. Und genau diese Hoffnung, dieses Aufkeimen der Hoffnung mache er sich jetzt zum Vorwurf, weil ihn diese Hoffnung dazu gebracht habe, sein letztes Geld dafür zu verwenden, sich einen Recorder zu kaufen und einen Flug nach Washington zu buchen. Dabei hätte er von vornherein wissen müssen, daß man nicht über den Atlantik zu einem wildfremden Menschen fliegen könne, einem Menschen gerade einmal halb so alt wie man selbst, um dann quasi zu diesem Menschen zu sagen: Los, rette mein Leben. Das klinge jetzt natürlich pathetisch, rette mein Leben, und so habe er es auch bestimmt nicht gedacht und schon gar nicht gesagt, aber im Endeffekt sei es doch darauf hinausgelaufen. Schließlich sei das sein letzter Versuch gewesen, zumindest habe er es damals für seinen letzten Versuch gehalten, aber die Tatsache, daß er jetzt schon wieder sechs Wochen zu Hause sei und immer noch dasselbe mache wie vor seiner Reise, spreche für sich und zeige nur allzu deutlich, daß man sich das mit dem letzten Versuch, der letzten Chance, der letzten großen Anstrengung ein für alle Mal abschminken solle und müsse, genauso wie man sich das ewige Wünschen und Hoffen abschminken solle, auch wenn es noch so schwerfalle. Mit Wünschen und Hoffnungen beweise man lediglich, daß man immer noch an die Veränderbarkeit der eigenen Persönlichkeit glaube, wobei zu fragen sei, ob diese Veränderbarkeit der eigenen Persönlichkeit in Wirklichkeit nicht ebenfalls nur ein Abgleichen von Bildern sei. Ein Abgleichen von Vorstellungen.
So wie jeder irgendein Bild von New York habe oder Los Angeles, so habe eben jeder auch ein Bild von sich selbst, und die Qual des Lebens bestehe eben darin, diesem Bild nicht zu entsprechen. Für manche bestehe die Qual des Lebens noch zusätzlich darin, die Bilder fremder Städte niemals mit dem Original abgleichen zu können. Obwohl es diese Qual tatsächlich kaum noch für jemanden gebe. Dafür sei die Entfernung, gleichermaßen wie das Reisen, zur Bedeutungslosigkeit verkommen. Ebenso verhalte es sich übrigens generell im gesellschaftlichen Umfeld, denn entweder sei etwas Qual oder bedeutungslos. Wobei es verwunderlich sei, daß man allerorts und wie besessen Zustände anstrebe, wo Zustände doch immer nur Lähmung und Gipsbett seien, während Bewegung sich allein im Verlassen von Zuständen finde, in der Bewegung weg von der Qual hin zur Bedeutungslosigkeit und dann wieder umgekehrt, obwohl das natürlich auch nicht ewig so weitergehe, denn dann wäre diese Bewegung wieder ein Zustand und damit entweder Qual oder bedeutungslos.
Um diesen sich gegenseitig ablösenden Zuständen der Lähmung zu entkommen, habe der Mensch die Bilder erfunden, und mit dem Abgleichen dieser Bilder halte er sich auf Trab. Dabei übersehe er, daß das Denken in Dichotomien immer weitere Dichotomien erzeuge. Wenn man der Entfernung etwa als tieferen Sinn und Zweck eine Aufwertung zuschreibe, so erfahre sie damit gleichzeitig auch eine Abwertung, denn während er den jungen Mann, hier in der Nähe zufällig bei einer Feier getroffen, durchaus zu schätzen gewußt hätte, so erscheine ihm dieser selbe junge Mann im weitentfernten Arlington überbewertet.
Befinde sich etwas in Griffnähe, sei es schon durch die Tatsache seiner Verfügbarkeit banalisiert. Der Griffnähe folge die Reichweite, und dieser wiederum schließe sich die Blickdistanz an. Der Alltag bestehe nun darin, diese drei Entfernungen in Bezug zu setzen. Der Mensch bastele sich etwa aus einem Stock in Griffnähe ein Werkzeug, um sich etwas zu angeln, das in Reichweite liege, oder um nach etwas zu werfen, das in Blickdistanz vorbeilaufe. Auf diese Art könne man ewig vor sich hinvegetieren, ohne daß eine großartige Kultur dabei entstehe, denn Werkzeuge seien noch kein Kennzeichen von Kultur, auch wenn dies immer wieder behauptet werde. Kultur entstehe vielmehr erst durch die Entdeckung des Horizonts. Der Horizont sei dabei nicht nur ein banaler Strich, mit dem sich Perspektive konstruieren lasse, sondern Demarkationslinie des metaphysischen Bewußtseins. Der Horizont erst mache ein Bewußtsein über Tod und Vergänglichkeit möglich, so daß sich Religion, Sehnsucht und Begierde alle gleichermaßen dem Horizont verdankten. Der Horizont schiebe sich durch das Gesichtsfeld und trenne in Ich und Du, denn erst durch ihn begreife man, daß Dinge an ihm auftauchten und gleichermaßen wieder hinter ihm verschwänden, ohne daß man sie fassen oder ihr Auftauchen und Verschwinden beeinflussen könne. Mit dieser Erkenntnis entwickele sich eine Art transhorizontales Wertesystem, das die ruhigen Tage der schönen Wilden ein für alle Mal beende. Von da an gehe es nur noch um Wertsteigerung und Monopolbildung. Um der Idee des Horizonts jedoch die für jede Idee nötige Selbsterhöhung und Transzendenz zu verleihen, werde der Horizont als erstes mit Verwaltungsgebäuden zugebaut und verborgen. Müsse man sich zum Beispiel erst in ein Flugzeug setzen, um den eigenen Horizont zu überwinden, so steige durch diese Überwindung der Wert des Angestrebten mit jeder Flugminute, obgleich sich dieser Wert aus der Überwindung der Bodenhaftung und nicht aus der Besonderheit des Entfernten herleite.
Deshalb könne er nur empfehlen, sich von allen Hoffnungen, Wünschen und Illusionen freizumachen, gleichzeitig den Wert einer Sache, einer Information oder eines Menschen nicht nach der Entfernung dieser Sache, dieser Information oder dieses Menschen von sich selbst zu bewerten. Dies alles seien Fallgruben und nichts weiter. Habe man nämlich erst einmal eine Entfernung überwunden, müsse man sich fragen, woraus der durch das Überwinden der Entfernung erzielte Mehrwert denn tatsächlich bestehe, und ob es nicht nur ein illusorischer Mehrwert sei, der quasi allein in der Welt der Gedanken existiere und von dort aus die Welt der Realität künstlich und emotional auflade. Stelle man sich diese Frage einmal wirklich, besonders nach der vollzogenen Überwindung einer Entfernung, dann erfasse einen notgedrungen ein Gefühl der Resignation, ein Gefühl der Sinnlosigkeit, das einen ehrlicherweise dazu treiben müsse, dem erreichten Ort den Rücken zu kehren und sich wieder von ihm zu entfernen, wie man sich auch von Menschen immer wieder entfernen müsse, wenn man bemerke, daß die Beziehung zu diesen Menschen allein durch die zwischen einem selbst und diesen Menschen bestehende Entfernung emotional aufgeladen werde.
Nur, wer schaffe es schon, kaum von Bord einer Maschine gestiegen, sich seinen Irrtum einzugestehen und noch im Flughafengebäude wieder umzukehren? Wem gelinge es, Paßkontrolle und allen Firlefanz zu verweigern, da dieser Firlefanz ohnehin nur existiere, um der Entfernung eine Wirklichkeit zu verleihen, die sie tatsächlich nicht besitze? Wer wage es, noch im Niemandsland des Flughafens einen Rückflug zu buchen und sich, quasi ohne das fremde Land mit einem Schritt betreten zu haben, auf den Heimweg zu machen? Er könne an dieser Stelle bequem auf seinen bereits gebuchten Rückflug verweisen und seine knappen Finanzen, die ihm eine solche Entscheidung einfach unmöglich gemacht hätten, aber er sei ehrlich genug zuzugeben, daß auch er nicht in der Lage gewesen sei, nach den acht Stunden Flug einfach wieder umzukehren, obwohl es im nachhinein betrachtet das Beste gewesen wäre und er lediglich mit dem Gleichen, in das er sich seit ungefähr sechs Wochen wieder eingefügt habe, eben zwei Wochen früher begonnen hätte, was wiederum nichts anderes bedeutet hätte, als daß er zwei Wochen früher allem überdrüssig geworden wäre, denn daß man allem überdrüssig werde, das stehe für ihn unumstößlich fest.
Dem Überdruß sei glücklicherweise nirgendwo zu entkommen. Überdruß mache sich von Geburt an im Menschen breit, werde aber nur von den wenigsten als Geschenk des Himmels anerkannt und angenommen. Allgemein wehre man sich gegen jegliche Form des Überdrusses und lasse bei ersten Anzeichen von Überdruß umgehend die eigene Triebstruktur durchleuchten und sich mit entsprechender Medikation zu weiteren Höchstleistungen hochpeitschen. Anschließend wundere man sich über unvermittelt auftretende Krankheiten. Krebs zum Beispiel entstehe nur aus mangelndem Überdruß. Menschen, die einfach nicht überdrüssig werden wollten, bekämen Krebs, damit sie auf diese, zugegebenermaßen nicht gerade sanfte Art und Weise die hohe Kunst des Überdrusses erlernten. Wer sich jedoch selbst und aus freien Stücken dem Überdruß ausliefere, der habe das Leben durchschaut und erkannt und aus dieser Erkenntnis die nötige Konsequenz gezogen. Wer aber versuche, sich mit allen möglichen Tricks dem Überdruß zu entziehen, der züchte damit entsprechende Krankheiten und werde solange von Krankenhausbesuchen und Operationen gebeutelt, bis auch er endlich des Lebens überdrüssig sei.
Daß man dies auch viel einfacher hätte haben können, begriffen allerdings die wenigsten. Krankheiten, die durch die Verleugnung des Überdrusses erst erzeugt würden, betrachte man als Betriebsunfall und Schicksalsschlag. Man spreche vom Kampf gegen die Krankheit, den jemand verloren habe und vom Wettlauf gegen die Zeit. Als Trost werde den Hinterbliebenen mitgeteilt, daß der Lebenswille des Betreffenden zu schwach gewesen sei, wo der Tod doch ein einwandfreier Beweis für die Stärke und das Funktionieren des Lebenswillens sei. Der Lebenswille treibe den Menschen doch nur deshalb an, alles in sich hineinzustopfen und keine Minute ruhig auf seinem Hintern sitzenzubleiben, weil er die Aufgabe habe, den Menschen so schnell wie möglich seinem Ende zuzutreiben. Denn der Mensch sei nicht auf der Erde, um Platz wegzunehmen, sondern um Platz zu machen. Verbohrt wie jedoch manche Menschen seien, weigerten sie sich, die Lehren des Lebenswillens anzunehmen. Solange sich noch ein weißer Fleck auf ihrer Weltkarte befinde, werde die nächste Reise gebucht. Solange noch irgendein gleich- oder gegengeschlechtliches Wesen herumhumple, mit dem man noch nicht ins Bett gestiegen sei, gehe der Wahnsinn weiter. Was diesen Menschen fehle, sei das Abstraktionsvermögen, und vor mangelndem Abstraktionsvermögen müsse jeder noch so starke Lebenswille kapitulieren. Wer Feinheiten zwischen Klimazonen und Unterschiede in Hautstrukturen herausarbeiten wolle, dem sei eben nicht zu helfen. Da gebe der Lebenswille die Stafette weiter an die Krankheit, damit die den Betreffenden glattbügle. Dabei solle man sich nicht von der gesellschaftlich allgemein üblichen Fehlinterpretation des Lebenswillens verwirren lassen, die das Besteigen eines Achttausenders mit künstlicher Hüfte und tragbarem Dialysegerät beklatsche, denn auch hier gehe es nicht um Lebenssinn, Selbstverwirklichung oder am Ende sogar Lebensfreude, sondern allein darum, daß es auch diesen Unbelehrbaren endlich zum Hals herauskomme.
Das Verhalten des Menschen sei nun einmal reflexhaft und könne nichts ertragen, was sich außerhalb dieser vom Lebenswillen konditionierten Reflexe befinde. Zu diesen Reflexen gehöre unter anderem auch das beständige Abgleichen von Bildern. Ohne Bilder, das wäre im übrigen durchaus eine Untersuchung wert, ohne Bilder könne man aber überhaupt erst zum Denken kommen. Aber gerade das wolle man nicht, weil das Denken dann noch mehr Unannehmlichkeiten mit sich bringe als Annehmlichkeiten.
Ursprünglich habe sich das Denken aus der Angst entwickelt, den Hals nicht voll genug zu kriegen, weshalb sich das Gehirn auch sinnvollerweise gleich in der Nähe der Kauwerkzeuge als eine Art Geschwulst aufgepfropft habe. Dann jedoch sei der Kopf immer schwerer geworden und habe durch eine Verfeinerung der Sinne genau das verhindert, was er ursprünglich habe befördern wollen. Nicht länger habe er alles wahllos in sich hineinstopfen können, sondern habe das Hineinzustopfende zuvor begutachtet und analysiert, berochen und belutscht. Der Mensch habe nicht länger über den Darm entschieden, ob etwas genießbar sei oder nicht, sondern habe diese Entscheidung immer mehr an den Kopf abgetreten, der von dieser Entscheidung schlicht und einfach überfordert gewesen sei, denn während für den Darm alles gleich aussehe, sehe für den Kopf alles anders aus, und da der Kopf nicht genügend abstrahieren könne, werde er durch die scheinbaren Unterschiede verwirrt und entwickle das Gefühl des Ekels und im Schlepptau des Ekels eine Art Gesundheitslehre.
Wenn man sich jedoch beständig fragen müsse, und darin bestehe nun einmal das Denken, sich beständig fragen zu müssen, warum man dies oder jenes tue, oder dies oder jenes unterlasse, dann werde man seines Lebens nicht mehr froh. Man könne dann nicht einfach einen Flug buchen und nach New York oder Los Angeles oder zu den Pyramiden fahren, weil man sich gleichzeitig fragen würde, warum man überhaupt auf den Gedanken gekommen sei, nach New York oder Los Angeles oder zu den Pyramiden zu fahren. Wenn man dann innehalte, etwa auf dem Weg zum Reisebüro innehalte und einen kleinen Umweg gehe durch einige Straßen, um die Idee einer Reise und die Ziele dieser Reise noch einmal grundsätzlich zu überdenken, dann komme man schon bald darauf, daß es sich um ein Abgleichen von Bildern handele, daß man ein Opfer der Bilder geworden sei, die einem andere präsentierten und daß man es einfach nicht mehr aushalte, sich nur innerhalb von Bildern zu bewegen, weshalb man wenigstens einen Teil dieser Bilder abgleichen und damit ad acta legen wolle, um sich dem wirklichen Leben zuzuwenden, denn darin bestehe die Hoffnung des Abgleichens von Bildern, daß man sich nach diesem Abgleichen dem richtigen Leben zuwenden könne, was natürlich ein grundlegender Irrtum sei.
Deshalb stecke, wenn man einmal den ganzen kulturellen und historischen Ballast mit seinen fürchterlichen Ergebnissen und seiner Unterdrückung und Ausbeutung der Menschen für einen Moment beiseite lasse, eine grundlegende und überhaupt nicht zu überschätzende Wahrheit in dem christlichen Gebot, sich kein Bildnis zu machen, das nicht umsonst gleich hinter der Konstatierung von Existenz und Einzigartigkeit Gottes komme und damit allein die Daßheit als Kategorie belasse und die Washeit verwerfe. Denn erst, wenn man sich wirklich kein Bildnis mache, könne man anfangen zu denken. Denn wenn man sich ein Bildnis mache, dann sei das Denken immer nur ein Abgleichen mit diesem Bildnis. Man laufe durch die Welt wie ein Zombie und gleiche Bilder ab. Ideologien seien zum Beispiel solche Bilder. Überhaupt seien sämtliche Vorstellungen solche Bilder. Hoffnungen und Wünsche: allesamt Bilder. Und wie selbstverständlich solche Bilder seien, sehe man schon daran, daß jeder jederzeit nach seinen Bildern befragt werde. Jeder werde jederzeit danach gefragt, wie er sich denn die Zukunft oder sein Leben vorstelle. Schon als Kind werde man gefragt, was man einmal werden wolle, und damit fange der ganze Schwindel an, genau mit dieser Frage. Man frage ein unwissendes Kind, was es einmal werden wolle, und dann sage dieses unwissende Kind etwas und werde sich nun sein gesamtes Leben an dem messen lassen müssen, was es als unwissendes Kind dahergesagt habe, obwohl man doch genau wisse, zumindest genau wissen müsse, daß das Kind einfach nur das nachplappere, was ihm Erwachsene einmal vorgeplappert hätten, weil Erwachsene natürlich schon längst bis zur Halskrause mit Bildern angefüllt seien und nichts besseres zu tun hätten, als diese Bilder an Kinder weiterzugeben.
So sei das Abspulen von Vorstellungen und Bildern, überhaupt das Abspulen von Meinungen und Wünschen, nichts weiter als ein Dressurakt. Und je besser einer dressiert sei, desto genauere Vorstellungen habe er von der Welt und seinem Leben und der Liebe, bis hin zur Haarfarbe des Liebespartners. Und gerade an diesem Beispiel, daß er so naiv nur von Haarfarbe spreche, könne man sehen, welcher Generation er angehöre, denn heute könne man von allem sprechen, vom Brustumfang, von der Konsistenz der Haut, der Fülle der Lippen, der Länge der Oberschenkel, von allem könne man sprechen, da alles veränderbar und mit den Bildern abgleichbar sei.
Chirurgen und Ärzte seien immer mehr dazu da, Bilder abzugleichen. Damit aber verleihe man diesen Bildern eine unvorstellbare Macht. Man könne sich gar nicht mehr vorstellen, welche Macht die Bilder bekämen, gerade weil der Mensch immer mehr Möglichkeiten entwickele, sich diesen Bildern anzupassen, weil er nicht mehr allein darauf beschränkt bleibe, die Bilder in seinem Kopf abzugleichen, sondern weil er mittlerweile die Möglichkeiten besitze, selbst Hand anzulegen oder Hand anlegen und einen körperlichen Abgleich vornehmen zu lassen.
Habe man vor einigen Jahren noch sagen können, diese Bilder seien nur Phantasien oder Wahngebilde, so könne man das heute leider nicht mehr sagen, weil diese Phantasien und Wahngebilde tagtäglich umgesetzt würden. Und wenn einmal eine Phantasie und Wahnvorstellung umgesetzt werde, dann zementiere diese Umsetzung natürlich die vorhandenen Bilder. Wie solle man in der Welt der umgesetzten Bilder noch der Vorstellung entkommen, es handele sich gar nicht mehr um Bilder, sondern um Realität? Wie könne man den einmal in Gang gesetzten Kreislauf von Bild und Umsetzung des Bildes und dadurch Zementierung des Bildes durchschauen oder gar durchbrechen?
Es sei doch wohl nicht übertrieben, die medizinischen Experimente der Nazis mit dem zu vergleichen, was heute auf den Operationstischen der Schönheitschirurgen stattfinde. Und wenn die Naziärzte noch herausfinden wollten, wieviel Kalk man in eine offene Wunde schmieren könne, bis der Patient draufgehe, so versuchten die Schönheitschirurgen heute eben herauszufinden, wieviel Kochsalzpolster in eine Brust hineinpaßten, bevor die Haut brüchig werde und reiße. Der Unterschied aber liege allein darin, daß diese Eingriffe und Menschenexperimente, daß dieses Arbeitslager nicht mehr von außen aufgezwungen werde, sondern von innen gewollt sei, und dies habe seinen Grund in den Bildern, vielmehr in dem Kreislauf zwischen dem Bild und dessen Abgleichung, weshalb man das Bilderverbot gar nicht überbewerten könne. Wenn man den ganzen christlichen Ballast einmal beiseite lasse, liege in diesem Bilderverbot durchaus eine Chance, wobei er diese Chance nicht wirklich sehe, wenn man sich einmal anschaue, wie man gerade in den Religionen an Bildern klebe und immer wieder Bilder verwirklicht sehen wolle.
Der Papst werde gerade deshalb so gefeiert, weil er immer mehr zu dem Bild werde, das man von einem Heiligen, am Ende von Gott selbst habe. Der Papst sei nichts anderes als ein fleischgewordenes Heiligenbildchen. Der Papst halte in seiner Person einen Moment fest, und das müsse einem erst einmal gelingen, denn was sei schwieriger, als die Zeit selbst zu verkörpern und nicht die Zeit sich verkörpern zu lassen in einer geistigen Sturheit, die einen dazu bringe, wie ein Zombie durch die Welt zu laufen und Bilder abzugleichen. Die Kindheit sei nur deshalb dieser einfältige Hort des Glücks, weil das Kind keine Bilder besitze. Die Dummheit des Kindes, seine Unerfahrenheit, sei in Wirklichkeit ein nicht zu überschätzender Vorteil, da allein das Kind keine Bilder besitze, weshalb man es für dumm halte und unerfahren. Erfahrung aber bedeute nichts anderes als eine möglichst große Fülle von Bildern abgeglichen zu haben, weshalb es für ihn furchtbar mitanzusehen sei, wie Kinder älter würden, überhaupt wie Kinder erzogen würden. Dieser Dressurakt, wie man ihnen erst Bilder einbleue, um sie anschließend dazu zu bringen, diese Bilder abzugleichen, das mache ihn wütend und hilflos. Dieses System der Belohnung, das dem Kind für jedes reproduzierte Bild ein Lob zuspreche, lasse ihn immer wieder an dem System einer Kultur zweifeln. Nicht umsonst brauche das Kind Jahre, um eine Bildergalerie eingetrichtert zu bekommen. Tausende von Wochen seien nötig, das Kind soweit zu bringen, daß es nicht mehr bilderlos denken könne und eine Bildergalerie herangebildet habe, die es dann selbst als Ich bezeichne. Erschreckend sei der Moment, in dem ein Kind zum ersten Mal auf sich deute und Ich sage, und wenn Eltern diesen Moment auch beklatschten, so komme es ihm so vor, als zeige das Kind, indem es Ich sage und auf sich deute, in Wirklichkeit zum ersten Mal auf etwas anderes. Das Kind deute auf etwas Fremdes. Nach Jahren und Tausenden von Wochen sei es sich endlich fremd geworden und könne dieses Fremde mit dem allgemein verbreiteten Begriff für das Fremde, nämlich Ich, bezeichnen, was die Eltern entsprechend belohnten. Nun sei das Kind endlich Teil der entfremdeten Kultur des Bildabgleichens. Jetzt sei es endlich soweit, mit einem Fähnchen in der Hand dem Papst zuzujubeln, denn der Papst sei der Prototyp eines Menschen, der schon zu Lebzeiten zum Bild geworden sei und seit Jahrzehnten den Moment verkörpere, in welchem der Heilige und Märtyrer von den Löwen zerrissen werde. Der Papst sei ein gefrorener Augenblick. Dieser Papst sei ein wandelnder Leichnam, schon seit Jahrzehnten. Er werde herumgefahren wie eine Reliquie, er hänge auf seinem Stuhl wie eine Marionette, der die Fäden abgeschnitten worden seien, und wenn man auch von außen über diese Marionette den Kopf schütteln könne, so verkörpere diese Marionette für viele ein derart mächtiges Bild, daß sie an diesem Bild ihre gesamte Existenz ausrichteten.
Der Papst gleiche das Bild einer ganzen Ideologie ab, das Bild des Sterbens in Christi. Der Papst zeige, daß man jahrzehntelang sterben könne und doch nicht tot sei. Deshalb gebe der Papst all den unterentwickelten Völkern Hoffnung. Er habe diesen Begriff absichtlich gewählt, unterentwickelt, denn schon dieser Begriff deute wieder auf das Bild hin. Dieser Begriff sage aus, daß wir uns ein Bild von den Völkern machten, und daß dieses Bild unterentwickelt sei, also unterbelichtet und unscharf, und daß wir in einer Umkehrung nun dächten, daß diese Völker unterentwickelt seien. Dieses Bild sei eine Wahnvorstellung, da wir eine Potenz in der Existenz dieser Völker vermuteten, die diese Völker zu dem machen könne, was wir selbst seien. Dies aber sei der wirkliche Wahn, in anderen Dingen, Menschen und Völkern eine Potenz zu vermuten, die diese Dinge, Menschen und Völker in genau das verwandele, was wir uns unter diesen Dingen, Menschen und Völkern vorstellten. Wenn das kein Wahn sei, dann wisse er auch nicht, was Wahn sei.
Das Prinzip des Bildes, und dies solle man sich ruhig einmal auf der Zunge zergehen lassen, sei es, immer das andere zu verkörpern. Lege man folglich Bilder als Maßstab an sich an, so mache man sich damit zum anderen. Die Dichotomie von Geist und Körper, mit der die Philosophie sich immer noch abquäle, gebe es längst nicht mehr und sei von der Realität seit geraumer Zeit ad acta gelegt. Spätestens mit Einführung von Arbeitslagern und Fabriken, und die gebe es in der ein oder anderen Form schon seit Menschheitsgedenken. Die Philosophie aber denke mit ihrer künstlich errichteten Dichotomie von Körper und Geist nur gegen ein Prinzip an, das sich in der Realität nicht nachweisen lasse, da in der Realität gänzlich andere Dichotomien vorherrschten.
Tatsächlich werde der eigene Körper, indem man sich ein Bild von ihm mache, zum anderen, während man sich umgekehrt den fremden Körper mit Hilfe von Bildern aneigne. Mit dem Hilfsmittel der Bilder bewerkstellige man also nichts geringeres als eine komplette Entfremdung, in der das Eigene zum Fremden gemacht werde und das Fremde zum Eigenen.
Und gerade weil er dies alles wisse und auch zu durchschauen glaube, finde er es im nachhinein geradezu erniedrigend, dennoch auf diese Kollektivneurose eingestiegen zu sein und genau das zu bedienen versucht zu haben, was er als absurd ablehne und verurteile, nämlich den Menschen in einer sogenannten Reportage etwas bildhaft nah zu bringen, mit dem Effekt, daß sich nicht allein das angeblich Nahgebrachte entfremde, sondern sich auch derjenige entfremde, dem es nahgebracht werde, von dem, der es nahbringe, einmal ganz zu schweigen.
Anstatt beständig etwas anzuschleppen oder etwas Angeschlepptes zu betrachten, solle man besser einfach innehalten und sich einmal gegen alles entscheiden, was man bislang getan oder gedacht habe. Dies sei eine wirkliche Entscheidung. Alles andere seien Augenwischereien aber keine Entscheidungen. Gerade weil die Welt ohne Entscheidungen auskomme, seien die Menschen immer bemüht, Scheidewege anzulegen und Alternativen zu entwerfen, so daß man keinen Schritt gehen könne, ohne über eine Entscheidung zu stolpern. Gerade weil die Menschen über die entscheidenden Dinge ihres Lebens keine Entscheidungsgewalt hätten, forcierten sie beständig Entscheidungen. Sie verbänden Entscheidungen mit Macht. Jemand anderen zu einer Entscheidung zu zwingen, das bedeute Macht. Nichts anderes. Die Nazis hätten das verstanden. Darum sei es im wesentlichen an der Rampe in Auschwitz gegangen. Du ja, du nein. Entscheidungen. Forcierte Entscheidungen. Konstruierte Entscheidungen. Erfundene Entscheidungen. Das Geld, die dritte Ware, sei dementsprechend auch nichts weiter als materialisierte Entscheidung, die Entscheidung in Papier und Metall eingefroren. Mit Geld werde einem immer auch eine Entscheidung aufgezwungen, von der man sich erst durch Weggabe des Geldes wieder lösen könne. Da man jedoch, kaum daß man das Geld weggebe, etwas anderes für dieses Geld erhalte, verwandele die eingefrorene Entscheidung nur immer ihre Form. Selbst wenn man das Geld buchstäblich zum Fenster hinauswerfe und meine, der Rocksaum der freien Entscheidung habe einen gestreift, sei man der gesellschaftlichen Mühle des Tausches nicht für eine Sekunde entkommen. Im Kapitalismus könne man sich niemals und mit nichts freikaufen, da man immer einen Gegenwert erhalte.
Darum stelle das Werfen einer Münze, um eine Entscheidung herbeizuführen, keine Zweckentfremdung der Münze dar, sondern im Gegenteil eine, wie nenne man nur das Gegenteil der Zweckentfremdung, vielleicht Zweckzuführung, wobei es interessant sei, daß der Begriff der Zweckentfremdung keine Umkehrung besitze, denn gerade das bestätige seine Theorie, daß es in der Natur, der Welt, dem Leben, so man sich alle drei ohne Betrachter und ohne Mensch überhaupt vorstellen könne, keine Sinngebung gebe, man nur den natürlichen Zweck entfremden, nicht aber umgekehrt dem Entfremdeten wieder einen natürlichen Zweck zuführen könne.
Das Perfide, das Gemeine, das Hinterrückse an diesen von den Menschen künstlich geschaffenen Entscheidungen sei nun aber einmal die Tatsache, und daran werde letztlich alles scheitern, daß man sich der Entscheidung nicht mehr entziehen könne, daß die Entscheidung so etwas wie eine Urschuld sei, die, einmal in die Welt gesetzt, nicht mehr aus ihr herauszukriegen sei, denn schon sich gegen die Entscheidung zu entscheiden bedürfe der Entscheidung, und spätestens da werde es einfach nur noch absurd und peinlich. Weshalb auch alle Gedanken überflüssig seien, die er sich gemacht habe, vor der Reise, während der Reise, und die er sich noch immer mache, obwohl die Reise nun schon über sechs Wochen zurückliege, denn er könne sich gar nicht gegen etwas entscheiden, ohne es damit dennoch weiter am Leben zu erhalten.
Wenn man einmal den Gedanken der Erlösung, den christlichen Gedanken der Erlösung nicht von sich weise, und jetzt, während er dabei sei, sein Projekt zu erläutern, leuchte ihm überhaupt mit einem Mal der Sinn einer Erlösung ein, wenn man also einmal den christlichen Gedanken der Erlösung nicht einfach von sich weise, sondern in Bezug auf die Theorie betrachte, daß der christliche Mensch von der Entscheidung erlöst werden solle, daß es tatsächlich darum gehe und um nichts anderes und daß dieser christliche Singsang, dieses Friedliebende in Wirklichkeit überhaupt nichts Friedliebendes gewesen sei, daß das Beispiel mit der linken Backe, oder der rechten Backe, eben der anderen Backe, die man hinhalten solle, nichts anderes bedeute, als sich tatsächlich aller Entscheidungen zu enthalten, selbst wenn es einen Mühe koste, weil man durch eine Entscheidung logischerweise nur die Welt der Macht bestärke, da die Macht auf dem Zwang zur Entscheidung aufbaue, und die Macht nur deshalb so unbezwingbar sei, weil man sich immer innerhalb von ihr bewege, sobald man sich entscheide, gleichgültig in welche Richtung, weshalb eine Erlösung nur durch eine Nicht-Entscheidung geschehen könne. Ein Zustand, den man allein entscheidungslos erreichen könne.
Damit aber nun endgültig zurück zu dem, was er in Arlington aufgezeichnet habe und was ihm dort von Snake mitgeteilt worden sei. Snake, dieser deutschstämmige, mittlerweile in den USA naturalisierte junge Mann, der seit einigen Jahren arbeitslos sei und mit einer kambodschanischen Schauspielerin in einem Bungalow am Stadtrand von Arlington lebe. Dieser flüchtige Bekannte seines Schwagers, den dieser während einer seiner regelmäßigen Geschäftsaufenthalte in den Staaten kennengelernt habe, aus welchen Gründen auch immer, obwohl er sich ruhig einmal nach den Gründen hätte erkundigen können, weil ihm dann unter Umständen die ganze Reise erspart geblieben wäre. Doch statt seinem Schwager eine konkrete Frage zu stellen, habe er sich allein der Tatsache geschämt, selbst noch nie drüben gewesen zu sein, und habe aus dieser Tatsache heraus dem Ort Arlington nicht genügend Beachtung geschenkt, weil er gedacht habe, was wisse er denn schon von amerikanischen Städten, obwohl er von vornherein hätte wissen müssen, daß das mit Arlington nichts werden könne. Er habe einfach an der falschen Stelle nicht nachgefragt. Es sei wie mit dem Recorder. Er habe gedacht, wenn bei dem Recorder Kopfhörer dabei seien, brauche er sich nicht auch noch um Kopfhörer zu kümmern. Aber hätte er sich nur um Kopfhörer gekümmert, denn dann sei er in Arlington gesessen, angewiesen auf diese Dinger, die ihn bei jeder Benutzung daran erinnerten, daß irgendetwas aus den Proportionen geraten sei, entweder seine zu großen Ohren oder eben diese zu kleinen Stöpsel, die ihm immer wieder herausgerutscht seien, so daß er nochmal und nochmal die Aufnahme habe unterbrechen müssen, um alles neu zu justieren, wobei einem, wenn man nicht von einem Ziel oder einem Wahn oder einer Verpflichtung, was alles auf dasselbe herauslaufe im Endeffekt, abgelenkt sei, allein ein solch unbedeutendes Detail schon zu denken geben sollte.
Normalerweise achte man nicht auf unbedeutende Details, weil man einer großen Idee nachlaufe, aber auch eine große Idee setze sich nur aus unbedeutenden Details zusammen, und wenn man auf diese Details nicht achte, dann habe man sich über kurz oder lang verfahren und komme weder vor noch zurück. Wenn man immer nur mit großen Ideen herumlaufe, oder sich wahlweise von Leuten einspannen lasse, die mit großen Ideen herumliefen, dann ende alles früher oder später in einem Desaster. Es liefen nämlich nicht allein wurschtige Leute herum, die als Erstbeste anderen in ihren Verhältnissen verketteten Menschen Ratschläge geben, sondern es liefen auch genügend Leute mit einer großen Idee herum, die auf nichts anderes aus seien, als andere Menschen für ihre Idee einzuspannen. Eine Idee habe ja das Gute und fast Unüberwindbare, daß man sich nach Belieben hinter dieser Idee verstecken könne, und daß man dabei immer so tun könne, als ginge es allein um die Idee. Und weil man sich so gut hinter Ideen verstecken könne, hätten diese Ideen auch bald entsprechende Bürokomplexe und Aufsichtsräte, hinter denen ein Verstecken dann noch bequemer sei. Je mehr etwas aufgeblasen werde, desto besser könne man sich dahinter verstecken. Natürlich genüge umgekehrt immer weniger, dieses bis zum Zerreißen Aufgespannte zum Platzen zu bringen.
Dieses Zerplatzen habe seine Ursache in dem von ihm schon zuvor benannten transhorizontalen Wertesystem, welches das Metaphysische, und damit die Idee und das Verstecken hinter dieser Idee, erst ermögliche. Denn wenn es auf der einen Seite darum gehe, den Horizont mit aufgeblasenen Bürokomplexen zuzubauen, so gehe es auf der anderen Seite darum, gerade diesen metaphysischen Horizont, den man sich mitsamt den auf ihm befindlichen Bürokomplexen selbst errichtet habe, zu überwinden. Wenn bei einer solchen Überwindung jedoch eine Idee und die aus dieser Idee entstandenen Bürokomplexe zerplatzten, so sei dies lediglich ein Zeichen der Selbstregulierung des Marktes und nicht weiter tragisch. Der Horizont verlagere sich quasi ein Stück nach hinten, und die dort errichteten Bürokomplexe seien noch prächtiger und spiegelten sich mit ihren Glaskuppeln zauberhaft in der untergehenden Sonne.
Man könne natürlich versuchen, auf Kleinigkeiten zu achten und sich vor Ideen zu hüten und Leuten, die mit Ideen hausieren gingen, genauso wie vor wurschtigen Leuten, doch oft seien die mit den Ideen und die Wurschtigen nicht zu unterscheiden, weshalb man sich am besten überhaupt in acht nehmen solle, wenn jemand das Wort an einen richte, denn wenn jemand das Wort an einen richte, dann habe er garantiert etwas vor, und ehe man sich versehe, überweise man Unsummen auf Konten, nur um an einer Idee und dem Versteckspiel um diese Idee Anteil zu haben. Und dies alles habe seinen Ursprung allein in der Angst, daß einem ein anderer zuvorkommen könne. Schon kaufe man sich einen Recorder und ein Rückflugticket und betreibe damit eine Art Vorfinanzierung, obwohl er sich schon vor Jahren geschworen habe, keine Art von Vorfinanzierung mehr zu betreiben. Da mache man sich immer über die Leute lustig, die auf irgendwelche suspekten Konten Unsummen Geld überwiesen, um dann eine Heimarbeit vermittelt zu bekommen, dabei mache man es selbst nicht viel anders. Was um alles in der Welt aber solle heute noch Heimarbeit sein? Wer brauche denn noch jemanden, der etwas für ihn in Heimarbeit erledige? Was könne das sein? Adressen schreiben? Karteikarten sortieren? Das seien Märchen, die sich aus den fünfziger Jahren gehalten hätten und weiter nichts. Begriffe hielten sich nun einmal im allgemeinen länger als das, was hinter den Begriffen stehe.
Zum Beispiel der Begriff Revolution, dieser Begriff hielte sich auch, obwohl es das, was hinter diesem Begriff stehe, schon längst nicht mehr gebe. Unter dem Begriff Revolution verberge sich heute entweder Wurschtigkeit, Ausbeutung oder Heimarbeit. Gleichzeitig habe man entsprechende Bilder aus dem bolivianischen Dschungel im Kopf. Und mit diesen Bildern im Kopf betreibe man dann seine Wurschtigkeit, Ausbeutung oder Heimarbeit. Es sei bestimmt lohnend, einmal zu untersuchen, ob mit dem Auftauchen des Begriffs Revolution nicht das Ende der Revolution eingeläutet worden sei und Wurschtigkeit, Ausbeutung und Heimarbeit ihren Anfang genommen hätten. Es würde ihn wundern, wenn es anders sei. Aber wenn man über Revolution spreche, tauchten Wurschtigkeit, Ausbeutung und Heimarbeit niemals auf. Manchmal tauche der Begriff der Ausbeutung auf, dann etwa, wenn eine Revolution fehlgeschlagen sei, aber auch dieser Begriff komme aus dem abgefingerten Fundus der Diskussionsrunden und habe keinen anderen Sinn und Zweck als den Mantel des Vergessens über Wurschtigkeit und Heimarbeit zu legen. Mit Diskussionsrunden und Arbeitskreisen zum Thema Wurschtigkeit und Heimarbeit komme man unter Umständen, wenn man sich nicht verzettele und die eigene Nase immer wieder auf diese beiden Begriffe stoße, auf einen neuen Begriff der Revolution und vielleicht sogar darauf, was tatsächlich zu revolutionieren sei. Dann könne man seine Bilder vom bolivianischen Dschungel ad acta legen, denn solange das Bild der Revolution immer ein Bild der Entfernung sei, solange erhalte die Revolution ihren Wert allein durch das Zurücklegen dieser Entfernung. Dann reise man mit einem Mal mit einem Bus durch Bolivien und betrachte sich die Orte der Revolution. Oder man fahre in andere Länder Süd- oder Mittelamerikas, was einem völligen Eingeständnis des Scheiterns jeglicher Revolution gleichkomme. Weil die Bilder der Revolution vom bolivianischen Dschungel langsam und zu recht ihre Kraft einbüßten, da sich hinter diesen Bildern nur noch Wurschtigkeit, Ausbeutung und Heimarbeit versteckten, fahre man dorthin, um die Bilder vor Ort abzugleichen und zu meinen, jetzt wisse man endlich wieder, was Revolution sei und worum es bei einer Revolution gehe, obwohl man mit einer solchen Reise nichts anderes mache, als das Scheitern der Revolution zu zementieren, denn eine Revolution, die sich außerhalb befinde, eine Revolution, zu der man erst hinreisen müsse, das sei keine Revolution, sondern schlicht und einfach Imperialismus. Revolutionsimperialismus. Zu Hause versteckten sich Wurschtigkeit, Ausbeutung und Heimarbeit hinter der Revolution, und weil man genau das nicht ertrage, reise man zu den Stätten der Revolution, die man mit derselben Ehrfurcht betrachte wie früher die alten Säulen auf der Via Appia. Dies aber heiße nichts anderes, als die Revolution zur touristischen Kategorie zu entbeinen, die in den azurblauen Bänden der Reisebüros neben dem Frühstücksbuffet und der Treckingtour firmiere. Da fräßen die Kinder die Revolution dann gleich zum Frühstück. Zu Hause gebärde man sich wie wild, schreibe über seine Erlebnisse im bolivianischen Dschungel und jage das Geschriebene mit Verve über einen der Sender, die einem die Reise zu den schönsten Stätten der Weltrevolution mitfinanziert hätten.
Man könne überhaupt machen, was man wolle, sich auf den Kopf stellen und zuhause nur CDs laufen lassen, auf denen bolivianische Revolutionäre bolivianische Revolutionslieder sängen, es helfe nichts, es sei nichts weiter als der Kolonialismus der Väter, den man sich daheim aus den Poren schwitze. Und so wie sich der Kolonialismus der Väter mit der Industrialisierung verbunden habe, so habe sich die Revolution mit der Heimarbeit verbunden. Die Heimarbeit nämlich sei ein Märchen, das sich aus derselben Zeit gehalten habe wie die Revolution. Es sei ein Märchen, das sich gehalten habe, um Leute auszunehmen. Alles, was man nicht mehr gebrauchen könne, alles, was schon seit Jahrzehnten überholt sei, das könne man noch einmal unter dem Begriff Heimarbeit verkaufen, und so sei es eben mit der Revolution.
Er wolle an einem letzten Beispiel, bevor er sein erstes Dokument präsentiere, noch einmal den Begriff der Heimarbeit, und damit gleichzeitig den Begriff der Revolution verdeutlichen. Vor dreißig Jahren habe es etwas gegeben, das Prägemaschine geheißen habe. Diese Maschine sei etwa handtellergroß gewesen und keineswegs billig. Wenn er es sich recht überlege, habe diese Prägemaschine wie ein Revolver ausgesehen, zumindest so ähnlich wie ein Revolver. Dort, wo man bei einem Revolver die Munition hineintue, habe man bei der Prägemaschine einen zusammengerollten Plastikstreifen hineingeschoben. Dort, wo beim Revolver also die Trommel gewesen sei, habe sich bei der Prägemaschine der zusammengerollte Plastikstreifen befunden, und über diesem Plastikstreifen sei ein Rad gewesen mit den Buchstaben des Alphabets. Dieses Rad sei beweglich gewesen, so daß man mit diesem Rad immer einen Buchstaben nach oben habe drehen können. Wenn man auf den Abzug der Prägemaschine gedrückt habe, dann sei der obenstehende Buchstabe in den Plastikstreifen geprägt worden. So habe man ganze Wörter und Sätze prägen können. Auf den Straßen hätten Hausierer gestanden und ihre Dienste mit einer solchen Prägemaschine angeboten und wer es sich hätte leisten können, habe sich eine solche Prägemaschine zugelegt. Türschilder habe man sich mit einer solchen Prägemaschine prägen können und immer, wenn etwas ordentlich zu beschriften gewesen sei, habe diese Prägemaschine wertvolle Dienste geleistet. Dennoch sei die Prägemaschine in seinen Augen ein Symbol der verendenden Revolution gewesen. Der Revolver habe sich quasi zähmen und zu einer Prägemaschine umfunktionieren lassen. Statt der Kugeln seien nur noch Worte aus dieser Maschine gekommen. Und der einzige Sinn dieser Worte sei es gewesen, daß sie ordentlich ausgesehen hätten und überall aufzukleben gewesen seien. Man habe also zwei überflüssige Dinge zusammengeführt, nämlich das ordentliche Aussehen und die Haftbarkeit, und habe daraus etwas Neues kreiert. Da es nichts Neues mehr gebe, da es auch nichts mehr gebe, was Leute herstellen könnten, und da die Schlüsselindustrien und überhaupt alles besetzt sei, könne man nur noch Geld verdienen, indem man zwei überflüssige Sachen miteinander verbinde. Und genau das müsse man sich einfach eingestehen. Wenn man morgens aufstehe, müsse man sich das als allererstes eingestehen. Und bevor man abends ins Bett gehe, müsse man sich das als allerletztes ein weiteres Mal eingestehen, und dies jeden Tag aufs neue. Auf diese Art erliege man nicht länger den Illusionen über den Sinn des Lebens und die Entwicklung des Menschen und die Notwendigkeit der Revolution. Dies alles sei insgesamt Unsinn und werde nur noch von einfältigen Geistern hervorgebracht, die sich an ihre Illusionen und Notwendigkeiten klammerten, gleichzeitig genauso wie alle anderen unter dem Joch der Ausbeutung gebückt gingen, ob nun in der Fabrik oder in Heimarbeit, und den Feierabend und die Reise in die Ferien herbeisehnten, um Bilder abzugleichen und sich damit am Leben zu erhalten. Das, was man in der Wissenschaft nämlich unter Regenerationsfähigkeit des menschlichen Körpers verstehe, sei in Wirklichkeit nichts anderes als ein erneutes Abgleichen von Bildern. Die Regenerationsfähigkeit des menschlichen Körpers bestehe darin, sich nach überstandener Arbeitszeit unter dem Joch der Ausbeutung zurückzuziehen und mühsam und oft nur mit Hilfe eines halben Kasten Bieres wieder ein Bild abzugleichen, nämlich das Bild, das der Mensch sich von seinem Leben gemacht habe, und das ihm irgendwie abhanden gekommen sei und das er deshalb wieder herstelle nach Feierabend und im Urlaub. Dann sage er sich, daß es eigentlich ein anderer sei, der da tagsüber unter dem Joch der Ausbeutung einhergehe und daß er sich eines Tages von dem Joch befreien werde oder wenn nicht er, dann eben seine Kinder, oder wenn er keine Kinder habe, dann eben alle, die nach ihm kämen, aber solange es eben noch nicht so sei, pelle er die Wurst wie alle anderen, schlage mit dem Feuerzeug den Kronkorken vom Bier und rede nicht von Revolution und Ausbeutung und Heimarbeit, sondern von Dingen, da das Reden von Dingen umgehend Vertrauen erwecke, denn wenn ein Mensch immer nur Dinge herstelle und sich durch Dinge bestimme, dann könne er auch nach Feierabend nur noch über Dinge reden, und selbst wenn er nicht über Dinge rede, sondern über Ausbeutung oder Revolution, so spreche er davon, als handele es sich dabei um Dinge. Deshalb scheitere auch alles, weil man über alles nur wie über Dinge rede. Veränderungen gebe es deshalb schon lange nicht mehr, denn die Veränderungen seien zu Dingen verkommen, sie seien zu Eingaben und Präambeln verkommen und diejenigen, die diese Eingaben und Präambeln einreichten, meinten tatsächlich, sie bewegten sich, aber dies seien alles Scheinbewegungen. So wie ein Sarg in ein Grab gesenkt werde, das sei schließlich auch eine Bewegung, so sei das mit den Eingaben und mit den Präambeln.