Читать книгу Revolution und Heimarbeit - Philipp Felsch, Frank Witzel - Страница 6

Оглавление

Viele Leute meinen, daß man erstickt, wenn man von einer Würgeschlange angefallen wird, aber das ist kompletter Schwachsinn. Würgeschlangen töten ihre Opfer, indem sie ihnen die Blutgefäße zerquetschen. Manchmal drücken sie ihnen selbst das Herz aus dem Leib. Ich hatte blöderweise nicht den blassesten Schimmer, daß die wirklich großen Schlangen alle Weibchen sind. Anaconda hätte ich mich ohnehin nie genannt, aber Python, warum nicht? Der Name klingt doch nach was. Eine Mischung aus abgefeimtem Messerstecher und uraltem Bluesgitarrist, der noch kurz vor seinem Tod irgendwo im Süden von Ry Cooder entdeckt und ganz groß rausgebracht wird. Titeltrack: Venom of Love. Aber nichts zu machen, auch bei der Python genau dasselbe, es sind immer nur die Weibchen, die so richtig fett werden.

Also blieb es einfach bei Snake. Hört sich vielleicht einfallslos an, aber das ist mir egal. Jeder braucht irgendein Markenzeichen, und außerdem haben sie mich schon immer so genannt. Schon in der Schule. Wahrscheinlich muß man einfach das nehmen, was man ohnehin schon hat. Und die Tätowierung, die hab ich nun mal seit ich fünfzehn bin.

Wenn die Anacondas sich paaren, dann hängen da gut ein Dutzend Männchen am Hinterteil eines Weibchens. Winzige Kerlchen, die sich winden und schlängeln und wahnsinnig abmühen. Kommt mir bekannt vor. Sehr bekannt sogar. 50.000 Dollar bekommst du, wenn du dem Zoo in der Bronx eine lebende Schlange liefern kannst, die mindestens 9 Meter lang ist. Der Rekord liegt bei 7 Meter 60 bisher. Das ist eine Python, die schon zum Frühstück 40-Pfund-Ferkel verdrückt.

Fast sieben Monate ging es uns blendend. Wirklich. Wir wußten nicht wohin mit dem Geld. Dann fing dieser komische Prediger an, über Tanny herzuziehen. Ich dachte, ich hör nicht recht, vielmehr ich traue meinen Augen nicht, denn es kam natürlich im Fernsehen. Selbst haben diese Gesellen allen möglichen Dreck am Stecken, verführen die Frauen und Töchter ihrer beschränkten Anhänger, kassieren das Geld für die vorgeschobenen wohltätigen Zwecke selbst ein, um ihren Crack-Konsum zu finanzieren und sich die Glitzer-Liberace-Anzüge gleich dutzendweise in den Schrank zu hängen, aber anstatt sich dann wenigstens schön ruhig und brav zu verhalten und einen frommen Bibelvers über den Äther zu schicken, sind diese Heinis einfach nicht glücklich, wenn sie sich nicht irgendeinen Unschuldigen rausgreifen und öffentlich anprangern können. Das ist wie in der Schule. Einer wird rausgegriffen und muß nach vorn. Die anderen tauchen hinter ihren Büchern weg.

Mit dem Fernsehen ist es sogar noch bequemer, weil da immer noch die Trennscheibe dazwischen ist. Du brauchst dir noch nicht mal die Chipstüte vors Gesicht zu halten, sondern kannst ganz ungeniert hinstarren. Mal sehen, wer heute wieder der Verdammnis geweiht und den reinigenden Flammen übergeben wird. Natürlich alles bildlich. Rauch und Schwefel werden im Schneideraum dazugemixt. Trotzdem, ich denke mir, daß die ganz schön am Ende sein müssen, wenn sie sich jetzt schon an Tang-Li ranmachen. Gibt es denn nicht wirkliche Teufel da draußen? Irgendwelche durchgeknallten Massenmörder? Aber mit Massenmördern kannst du niemand mehr hinterm Ofen hervorlocken. Das Böse muß in den eigenen Reihen sitzen, im eigenen Wohnzimmer, zwischen dir und deinem Schwager, der jetzt schon seit über drei Jahren keine Arbeit hat, zusammen mit dir vor der Glotze. Das macht was her. Ein Verrückter, der ist zu weit weg, der ist zu fremd, der bringt dich nicht dazu, den Herrn anzuflehen und einen gehörigen Betrag von deinem Konto abbuchen zu lassen.

Tang-Li ist Schauspielerin und kommt aus Kompong Chhang. Kompong Chhang, falls das jemand nicht wissen sollte, ich wußte es, ehrlich gesagt, bis vor einigen Monaten auch nicht, liegt in Kambodscha, ungefähr hundert Kilometer entfernt von Phnom Penh. Ihr Name klingt chinesisch, und er ist auch chinesisch. Das kommt daher, weil ihr Vater Chinese ist. Ein Ingenieur, der Ende der Siebziger nach Kompong Chhang kam, um den roten Khmer bei dem Bau ihres riesigen Flughafens zu helfen, diesem gigantischen Ding, von dem aus sie die Welt erobern wollten. Kann ich verstehen. Wer möchte nicht mal die Welt erobern? Nur, was hast du davon, wenn du’s nicht allein fertig kriegst, sondern irgendein idiotisches Volk hinter dir herschleppen mußt? Ein gigantisches Unternehmen, wenn das alles so stimmt, was Tanny mir erzählt hat.

Die Chinesen haben mitgemacht, weil sie von dort aus den Vietnamesen eins überziehen wollten. Und das ganze war nicht einfach ein Flugplatz, so wie Kennedy-Airport, nur eben ein bißchen popeliger und mit den komischen Zeichen an den Läden, aber eben sonst mit allem, was so ein Flugplatz braucht: Aussichtsplattform, große Hallen, Förderbänder und so weiter, nein, das war etwas völlig anderes. Aus der Luft sah man nur einen riesigen Platz, den sie in den Dschungel reinplaniert und zubetoniert hatten. Alles andere befand sich unter der Erde. Ein richtiges Labyrinth, verzweigte Tunnels, hunderte von Metern lang, die zu den verschiedensten Räumen und Kammern führten. Man kann sich kaum vorstellen, wie sie das alles geschafft haben, so praktisch aus dem Nichts, aber sie haben es geschafft.

Während Tannys Vater einen auf Herr Ingenieur machte, mit weißem Kragen und Wohnung mit Aircondition, obwohl er in China selbst kein großes Licht war, mußte Tannys Mutter unten mitgraben. Ihr Vater, also Tannys Großvater, war wegen irgendeiner Kleinigkeit verhaftet worden. Keine Ahnung, was das war. Vielleicht hatte er einen schlechten Witz erzählt oder irgendwas gemacht, was den roten Khmer nicht gefallen hat, ohne Erlaubnis Gurken angebaut oder keine Baugenehmigung für seinen Hühnerstall eingeholt, was weiß ich. Wenn solche Regierungen erst einmal schlecht drauf sind, dann kannst du machen, was du willst. Das ist dann wie beim Militär, wenn sie dich da erst einmal auf dem Kieker haben, da bleibt dir am Ende nichts anderes mehr übrig als dir selbst den Kopf wegzupusten. Oder eben einem anderen den Kopf wegzupusten. Dann erst lassen sie dich in Ruhe. Sie stecken dich in eine Einzelzelle und schauen alle halbe Stunde durch ein Guckloch zu dir rein, um zu sehen, ob du schon am Fensterkreuz hängst oder ein paar Gabeln verschluckt hast, um hops zu gehen. Aber wozu noch hopsgehen, wenn du endlich deine Ruhe hast? Ich würde es ohnehin ganz anders anstellen. An Waffen kommt man dort doch mit Leichtigkeit, und wenn ich mich erstmal in einer Baracke verschanzt hätte, da könnten die da draußen lange warten.

Tannys Opa hatte allem Anschein nach keinen blassen Schimmer über das, was in seinem Land und da draußen im Dschungel vor sich ging. Dabei war der noch nicht mal besonders alt. Opas sind nur in Filmen alt. Im wirklichen Leben sind sie gerade mal fünfzig und kümmern sich einen Dreck um dich. Was kommst du immer zu mir? Beschwer dich bei deiner Mutter, wenn du nicht genug Taschengeld bekommst. Meinst du, ich hab einen Dukatenscheißer bei mir in der Garage stehen? Und jetzt raus, ich hab zu tun. Danke, Opa. Dabei wären ihm die paar Kröten wesentlich billiger gekommen als zwei zerkratzte Seitentüren an seiner liebevoll aufpolierten Nuckelpinne. Aber egal. Tannys Opa war also auch nicht alt, konnte sich aber nicht richtig wehren. Anstatt sich in seinem Hühnerstall zu verbarrikadieren, marschierte er einfach ins Gefängnis. Wahrscheinlich hoffte er, daß sie ihn laufen lassen, wenn er keine Schwierigkeiten macht. Das ist ein Fehlschluß, den viele draufhaben. Ich bin ganz ruhig, dann tut man mir nichts. Weißt du, wann sie dir wirklich nichts tun? Dann, wenn du ständig deine Klappe aufreißt und überall gleich herumschreist. Da sind sie nämlich froh, wenn sie dich in Ruhe lassen dürfen, das kannst du mir glauben. Das ist vielleicht nicht ganz die feine und angenehme Art, wie man Freunde gewinnt und Menschen beeinflußt, aber es wirkt.

Tannys Opa saß nicht mal zwei Wochen ab. Dann war er nämlich tot. Sie konnten ihn noch nicht mal mehr raus nach Kompong Chhang schicken. Und das wurmte die irgendwie. Diese ganzen Militärdiktaturen, die haben schließlich auch was vor mit den Leuten. So krank deren Hirne auch sein mögen, irgendetwas planen die immer. Und wenn dann einfach einer zu früh abtritt, ich meine bevor er seinen Zweck erfüllt hat, das sehen die gar nicht gern. Also gingen sie zur Familie von Tannys Mutter oder zu dem, was noch von der Familie übrig war. Wenn die erst einmal eine Adresse haben, dann kommen die jede Woche vorbei. Egal, was du machst oder nicht machst. Sie haben die Adresse, also schaun sie mal nach. Und dann mußte Tannys Mutter ran, weil sie die einzige war, der man zutraute, überhaupt noch eine Schaufel halten zu können. Ihre Geschwister waren noch zu klein. Was nicht heißt, daß da keine Kinder mitgemacht hätten. Aber nicht ganz kleine Kinder, die gleich umfallen oder den anderen zwischen den Beinen herumlaufen und schreien. Achtzehn Stunden am Tag mußten die unter Tage schaufeln. Zweimal am Tag gab es eine Schale Reiswasser.

Was um alles in der Welt ist Reiswasser? habe ich Tanny ganz naiv gefragt.

Wie Reiswasser? Das Wasser, in dem Reis gekocht wird.

Das, was man normalerweise wegschüttet?

Ja, aber man muß es nicht wegschütten. Man kann auch eine Suppe daraus machen. Reiswasser ist nahrhaft.

Nahrhaft? Ich fragte mich, ob sie etwa ernsthaft diese durchgeknallten Kungfuheinis verteidigen wollte, und wurde beinahe sauer. Aber es war ein Mißverständnis. Tanny wollte, glaube ich, nur ihre Kultur verteidigen. Das wäre in etwa so, wie wenn mir jemand erzählen würde, daß amerikanische Soldaten in irgendeinem Land, in dem sie stationiert sind, Milky Ways oder Snickers oder Three Musketeers oder Forever Yours oder was weiß ich auf verminte Felder geworfen hätten, um die Kinder anzulocken, die dann auf ihre ganz persönliche Art die Bomben entschärfen, na ja, und ich würde nur sagen, aber Milky Way schmeckt doch wirklich nicht schlecht und Three Musketeers auch nicht. So war das mit der Bemerkung über das Reiswasser von Tanny, denke ich. Ansonsten kann sie da doch nicht wirklich irgendwas dran finden, bei aller Heimatliebe oder was das sein mag.

Ich hatte vorher überhaupt keine Ahnung, was sich da abgespielt hat. Wer abzuhauen versuchte, der wurde totgeprügelt. Wenn du vor Erschöpfung eingeschlafen bist: totgeprügelt. Wenn du krank wurdest und nicht mehr weiterarbeiten konntest: totgeprügelt. Selbst wenn du nur ein Wort zu jemandem gesagt hast: totgeprügelt. Wirklich nicht sehr einfallsreich. Eher hirnlos. Aber daß dieser Garry Jesus Glitter mal darüber ein Wort im Fernsehen verliert, das kannst du vergessen. Daß überhaupt mal jemand ein Wort darüber verliert. Na ja, was rege ich mich auf.

Es ist natürlich Quatsch, da von Liebe zu reden. Ich meine jetzt Tannys Mutter und den Chinesen. Obwohl mir das schon manchmal zu schaffen macht. Meistens dann, wenn ich ohnehin ziemlich fertig bin und durchhänge. Wenn wir nichts Richtiges im Haus haben oder ich den ganzen Tag allein rumhängen muß, weil Tanny von irgendeiner Probe nicht heimkommt. Da fällt mir das schon ein. Natürlich ist mir Tannys Mutter egal, um die geht es nicht. Aber ich denke dann, wenn man das so mitkriegt vielleicht, wenn man sogar aus so einem Verhältnis entstanden ist, wer weiß, kann doch sein, daß das abfärbt. Die Liebe einfach so einzusetzen. Obwohl es ja nicht Liebe war. Darum ging es auch gar nicht. Es ging darum, das nackte Leben zu retten und um nichts anderes. Und was weiß ich denn, was sich meine Alten gedacht haben, ich meine, warum die zusammengekommen sind und mich, ihren einzigen Sohn, gezeugt haben. Und bei mir und Tanny liegt der Fall sowieso vollkommen anders.

Besonders in den letzten Monaten lag der Fall vollkommen anders. Da brachte sie nämlich das Geld heim. Da hätte man eher mir so was unterstellen können, ich meine, berechnend zu sein oder eben wegen Geld bei ihr zu wohnen. Das sind nur so Ideen, die dir dann doch manchmal kommen, wenn es gerade nichts zu tun gibt und du nur Zuhause rumhängst und dir dann noch diesen Müll anschauen mußt. Obwohl ich es genauso gemacht hätte an ihrer Stelle, ich meine jetzt Tannys Mutter. Deinen Vater haben sie um die Ecke gebracht, deine kleinen Geschwister können nur drauf warten, daß sie auch ran müssen, und dann läufst du völlig kaputt am Abend zu irgendeiner Baracke, wenn’s sowas dort überhaupt gab, wahrscheinlich eher nicht, aber du läufst irgendwohin, um dich hinzulegen, und da stehen dann die feinen Pinkel mit den weißen Kragen. Wenn du da merkst, daß da einer ein Auge auf dich geworfen hat: besser gleich zugreifen und was draus machen.

Kurz vor Weihnachten ’78 hat Tannys Mutter dort angefangen zu arbeiten. Da gab es von den 50.000 Arbeitern, die da vor zwei Jahren begonnen hatten, noch knapp 3000. Das darf man sich also nicht zu einfach vorstellen. Für so etwas brauchst du Mut. Du mußt alles auf eine Karte setzen. Wenn sie dich totprügeln, weil du nur irgendein Wort gesagt hast, was passiert dann erst, wenn du dich an einen Weißkragen ranmachst? Außerdem weißt du nicht, an wen du da gerätst. Der nimmt dich mal kurz ran und dann verpfeift er dich, weil ihm das am wenigsten Arbeit macht.

Aber Tannys Mutter war geschickt. Sie hatte ein gutes Auge, und vor allem, glaube ich zumindest, hatte sie die richtige Mischung drauf. Du kannst nicht die Initiative ergreifen, nicht als absoluter Underdog, der sich da übermüdet und stinkend aus der Grube schleppt, aber du kannst ihm umgekehrt auch nicht ganz allein die Initiative überlassen, sonst überwiegen da am Ende doch nur die Bedenken. Aber ein Blick. Ein Blinzeln. Manchmal entscheidet ein Blinzeln über Leben und Tod, das kennt man doch schon aus dem Verkehrsfunk.

Dann kam Neujahr und der Ingenieur nahm sie mit sich in sein Appartement oder seine Baracke, und sie schliefen miteinander und zeugten wahrscheinlich gleich dort beim ersten Mal Tanny. Dann, am 4. Januar, und da hatte Tannys Mutter wahrscheinlich wirklich Schwein, kam das Ende. Man hatte Wind davon bekommen, daß die Vietnamesen einen Angriff auf den Flughafen planten. Weil, die sind auch nicht blöd. Die sitzen doch nicht da und warten seelenruhig ab, bis die anderen ihr gigantisches Rollfeld fertig haben, auf dem sie dann in ihre Kampfbomber steigen, um alles abzuknallen, was ihnen vor die Flinte kommt. Bevor die Vietnamesen auch nur einen Finger rühren konnten, wurden die Funktionäre der Roten Khmer nach Thailand ausgeflogen. Im Schlepptau die chinesischen Ingenieure. Aus irgendeinem Grund, vielleicht weil sie sich irgendwas für den Flug oder die Zeit danach ausrechneten, konnten auch ein paar Frauen mit, darunter Tannys Mutter. Während die Bosse abzwitscherten, setzten die Militärs die Tunnelanlage unter Wasser. Dabei gingen schon mal eine ganze Menge der Arbeiter drauf, die da unten noch rummachten und es nicht rechtzeitig schafften, durch eins der Löcher nach oben zu kriechen. Obwohl es da oben auch nicht besser aussah. Oben wurden die restlichen Arbeiter nämlich wie Vieh zusammengetrieben und an Bambusstöcke gebunden. Wenn du so einen Bambusstock auf dem Rücken zwischen dir und einem Dutzend anderer Gestalten hast, weißt du bald nicht mehr, wo vorn und wo hinten ist. Vor allem kannst du dich nicht richtig bewegen. In Hundertergruppen ging es dann kilometerweit vom Rollfeld zu einer Bahnstrecke, wo schon eine abgetakelte Lok und ein Viehwaggon auf die Militärs warteten. Doch die hatten vorher noch was zu erledigen. Natürlich hatten sich schon auf dem Weg viele die Knochen gebrochen. Wer nicht mehr weiter konnte, den schleppten die anderen, die mit ihm an den Bambus gekettet waren, noch ein Stück mit. Wenn es aber zwei oder drei wurden, die zusammenbrachen, dann schafften das die andern nicht mehr. Sie fielen auf die Straße und wurden abgeknallt.

Wer bis zu den Gleisen kam, mußte sich an den Rand einer Grube stellen, die man in der Zwischenzeit mit ein paar Baggern ausgehoben hatte. Auf der anderen Seite postierten sich die Wachmänner mit ihren Knarren. Dann kamen die Bulldozer und trieben die Arbeiter in die Gruben. Zu hunderten stürzten sie nach unten und stapelten sich in dem riesigen Loch. Schließlich wälzten sich die Bulldozer über die ohnehin schon halbtoten Leiber. Man hatte wenig Zeit und wollte auf Nummer sicher gehen. Der Zug wartete. Zuschütten war unnötig, obwohl immer noch Schreie aus der Grube kamen. Die Schreie hielten auch noch eine Weile an. Nicht nur während der Viehwaggon mit den Militärs am Horizont verschwand, sondern auch noch die ganze Nacht und den nächsten Vormittag. Dann war es ruhig. Alle waren verreckt. Fast alle. Man glaubt es nicht, aber zwölf haben es tatsächlich geschafft. Die lagen wahrscheinlich irgendwo günstig in einer Lücke unter einem Haufen anderer. Zwölf Männer. Zwölf von 3000. Mit letzter Kraft wühlten die sich zwischen den Leichen heraus und taumelten in Richtung ihrer zerstörten Dörfer.

Das alles hat Tannys Mutter erst später erfahren. Das war zu der Zeit, als sie auch die Nachricht bekam, daß ihre kleine Schwester mit einer dieser niedlichen roten Bomben, die unsere Jungens abgeworfen haben und die wie Gummibälle aussehen, in die Luft geflogen ist. Willkommen in Amerika. Denn dort war Tannys Mutter mit ihrem kleinen Baby inzwischen angelangt. Der chinesische Ingenieur war nämlich in der Heimat verheiratet. Natürlich glücklich verheiratet. Mit einem kleinen Sohn. Damals fingen die in China gerade an, alle möglichen idiotischen Verordnungen zu erlassen, um den Leuten das Leben auch privat möglichst schwer zu machen. Spät heiraten und höchstens ein Kind, sonst bekommt der ganze Ort den Geldhahn zugedreht. Kein Wunder, daß schon bald die Dorftümpel voll mit Kinderleichen lagen. Viele Familien legten das Neugeborene einfach in eine dunkle Abstellkammer und sahen nur einmal morgens nach, ob es schon verreckt war. Außerdem war Tanny ein Mädchen. Reismaden nennt man die Mädchen in China. Und wehe dem Neugeborenen fehlt der Zipfel, dann wird die Geburt schnell zur Trauerfeier. Bei einem Jungen tanzen sie rum und jagen Böller in die Luft.

Tanny sagt manchmal: Eine zweite Frau, das wäre vielleicht gegangen, aber kein zweites Kind. Sie ist einfach sauer auf ihren Vater. Was ich verstehen kann. Immerhin war er wenigstens noch so fair, seine Beziehungen spielen zu lassen, sonst säße Tanny mit ihrer Mutter jetzt in Thailand. Und da kann man sich an zehn Fingern abzählen, welchem Job Tanny dort nachgehen würde.

Stattdessen steckt sie seit sieben Monaten in einem roten Flanellkostüm und macht in einer bescheuerten Fernsehsendung für Kleinstkinder mit. Auch nicht gerade das Gelbe, aber um einiges besser, als sich in Unterwäsche vor fetten Touristen an einem Laternenpfahl zu reiben. Aber wie es eben immer so geht, kaum läuft es mal etwas ruhiger, schon taucht dieser scheinheilige Wichser auf, greift sie aus der Menge raus und stellt sie nach guter alter amerikanischer Tradition an den Pranger. Wenn man sich das vorstellt: die reine Willkür. Einfach mal jemanden kurz den Löwen zum Fraß vorwerfen. Dieser Typ, der hätte sich damals pudelwohl gefühlt in Kambodscha. Nach Lust und Laune Leute über die Klinge springen lassen, während man sich noch nicht mal die Finger dabei schmutzig macht. Wirklich gelungen. Am Abend steckt er sich dann eine Havanna ins Gesicht und freut sich darüber, wieder mal ein paar Existenzen vernichtet zu haben. Und mit was für einer schwachsinnigen Argumentation. Das muß man sich mal vorstellen. Da behauptet er doch tatsächlich, Tanny würde in ihrem roten Kostümchen und unter der Maske mit den abstehenden Ohren und den Glubschaugen fluchen und die Unschuldigsten der Unschuldigen und Kleinsten der Kleinen verderben. Von seinem eigenen Gefluche und Gespucke kriegt dieser aufgeblasene Apostel wohl nichts mit. Aber das ist noch nicht mal das Schlimmste. Das ist doch immer so. Selbst das größte Schwein sein, aber sich bei anderen wegen jedem Dreck aufregen. Nur, warum fragt er, verdammt noch mal, nicht nach, bevor er irgendwelche Behauptungen in die Welt setzt? Warum nimmt er nicht sein verdammtes Goldtelefon und ruft auf seiner Superdirektleitung einen der Fernsehbosse an, um zu erfahren, ob ihm da nicht vielleicht gerade irgendeine Kleinigkeit entgeht?

Da sitzen garantiert genug Hampelmänner rum, die regelmäßig ein paar Dollar für seine Kirche abdrücken und sich dafür ne üppige Spendenquittung ausstellen lassen. Alles überhaupt kein Problem für unseren Gardinenprediger. Ein Dutzend Sekretärinnen wartet nur drauf, irgend so einen bescheuerten Anruf für ihn zu erledigen. Da lecken sie sich ihre lackierten Finger nach. Schon allein, um ihren Muttis zu erklären, was sie so den ganzen Tag machen, außer das Eingemachte in durchsichtigen Hemdchen rumzuschwenken. Wie gesagt, alles kein Problem. Nicht wie unsereiner, der nie zu irgendwem durchkommt. Weder mit der Antwort auf eine Hundert-Dollar-Frage, noch mit der Meinung zu der letzten Autobahnschießerei, geschweige denn mit einer Anregung zum Programm. Kritik kennen die ohnehin nicht. Für die ist alles Anregung.

Ich finde das absoluten Bockmist, was ihr da verzapft!

Danke für die Anregung.

So wird das gehandhabt. Da sitzen Leute, die werden in wochenlangen Seminaren nur auf so etwas geeicht. Nicht ausrasten, immer freundlich bleiben. Egal was für ein Hirnamputierter gerade am anderen Ende der Leitung ist. Immer dran denken, daß eine Diskussion zu nichts führt. Der Anrufer ist der König. Wenn man ihm dumm kommt oder gar widerspricht, steht er am Ende noch mit einer Keule in der Hand auf dem Parkplatz vor dem Sender. Also ruhig durchatmen und noch nicht mal einen ironischen Unterton in der Stimme mitschwingen lassen.

Nichts für mich. Ich habe das nicht mal drei Tage ausgehalten. Und dabei war das alles nur Spiel. Training. Trockenübung. Da hing einer von uns an der anderen Leitung. Nein, Spaß hat mir das nur gemacht, wenn ich an die Reihe kam, um den zornigen Anrufer zu spielen. Aber auch dann nicht so richtig. Denn die anderen blieben ruhig, während ich mehr und mehr ausrastete. Am liebsten wäre ich um den Bretterverschlag außen rum und hätte ihnen eine mitten in die Fresse plaziert. Ich mag es einfach nicht, wenn sich Leute verstellen. Und wann hat man schon mal die Gelegenheit, das auch direkt zu zeigen?

Unser geistlicher Vater, der Tanny in die Pfanne hauen will, besteht nur aus Verstellung. Der ist so in seinem Lügengeflecht eingesponnen, daß er sich garantiert selbst nicht mehr darin zurechtfindet. Und weil es ihm längst über den Kopf gewachsen ist, stellt er sich hin, schreit Zeter und Mordio und beschwört das jüngste Gericht herauf. Das soll uns dann von ihm und seinen dreckigen Lügen befreien. Natürlich findet das alles erst in der fernen Zukunft statt, wenn er endlich genug Geld zusammen hat, um sich in einem atombombensicheren Bunker zu verschanzen, damit ihm die Idioten, denen er das Gesparte aus den Rippen geleiert hat, nicht auf den Pelz rücken können, wenn sie endlich dahinter kommen, auf was für eine Type sie reingefallen sind.

Bis dahin muß er seine Kröten zusammenhalten und kann noch nicht einmal ein paar lumpige Cent für einen gottverdammten Anruf investieren. Dabei hätte sogar die Fernsehstation die Kosten übernommen. Keine Frage. Schließlich ist Gott höchstpersönlich am Apparat.

Oh Gott! Oh Gott! Warten Sie noch einen winzigen Augenblick, bevor wir Sie durchstellen, ich muß mich erst hinknien. Und schon hätte er erfahren, daß Tanny in ihrem roten Kostümchen nicht flucht, wie er behauptet, sondern einfach nur ab und zu ein paar Worte auf Khmer sagt, das ist alles.

Außerdem war diese Idee noch nicht einmal auf ihrem eigenen Mist gewachsen, wie man sich bei so einer Sendung ja wohl vorstellen kann. Da kannst du überhaupt nichts selbst bestimmen. Keine einzige Bewegung. Kein Wort. Noch nicht mal dein Deo darfst du selbst auswählen. Da fragt man sich, warum sie es überhaupt mit Menschen in Kostümen machen und nicht gleich mit Puppen. Wahrscheinlich weil Menschen am Ende doch noch ein Stück billiger kommen. Da brauchst du die ganzen komplizierten elektronischen Apparate nicht, die den Kopf zum Wackeln bringen. Obwohl das Gehalt schon in Ordnung war. Wir fingen an, uns ein paar Sachen außer der Reihe zu leisten, und Tanny holte ihre Mutter aus dem Drecksloch und kaufte ihr einen automatisch verstellbaren Fernsehsessel.

Man hätte nur ein Wort zu Tanny sagen müssen, sofort hätte sie aufgehört, irgendwas auf Khmer zu sagen. Sie hätte sich irgendeine Phantasiesprache ausgedacht oder den Text gesprochen, den man ihr gegeben hätte. Aber nein. Keiner fragt nach. Unser Ogottogott mit seinem Rüschenhemd nicht, und die in der geschlossenen Anstalt auch nicht. Gehört bestimmt zur Firmenpolitik. Wie heißt es so schön: Don’t ask – don’t tell. Oder es steckt was ganz anderes dahinter. So ein Prediger, der ist auch nicht auf den Kopf gefallen. Auch wenn er jeden Abend so tut. Der geht mit seinen Schweißfingern einfach eine Liste der Firmen, Fernsehanstalten oder berühmten Köpfe durch, die zur Zeit gerade mal ein bißchen Erfolg haben und eine Menge Kohle machen. Dann pickt er sich einen heraus und behauptet irgendwas. Es ist immer am besten, erst einmal irgendwas zu behaupten. Wenn man was behauptet, entsteht sofort Unruhe, und wenn Unruhe entsteht, dann kann man leichter abkassieren. Man trifft sich in der Chefetage oder nach Feierabend in einem Luxusschuppen und geht das ganze noch einmal durch, von Mann zu Mann. Okay, heißt es dann, ihr feuert die Schauspielerin, und ich krieg noch mal fünfzigtausend auf die Hand. Dann kommt keine Silbe mehr über meine Lippen. Mein Mund bleibt versiegelt bis zum jüngsten Tag. Amen.

So läuft das ungefähr. Und da sie dem Kirchenheini mit einer Riesensumme das Maul stopfen mußten, haben sie sich bei Tanny natürlich um eine Abfindung herumgedrückt. Nicht mal viertausend hat sie bekommen. Bei den Kosten für die Wohnung ihrer Mutter ist das weg wie nichts. Und wie sollst du dich irgendwo vorstellen, um einen neuen Job zu finden, wenn noch nicht mal dein Name im Abspann genannt wird? Ich bin die Darstellerin von Klinky Minky, die mit dem roten Fell, die immer so geflucht hat, obwohl das noch nicht mal Flüche waren, sondern nur Kochrezepte auf Khmer. Da winkt doch jeder ab.

Jetzt hat sie ihre Setkarten wieder zu den Agenturen gebracht. Und vielleicht kommt demnächst mal wieder was rein. Aber bis dahin kann ich nicht einfach untätig zusehen. Jetzt muß eben ich die Sache in die Hand nehmen.

Nicht daß ich direkt was dagegen habe, mit einer Ingram M 10 im Rucksack herumzulaufen. Das Ding heißt nicht umsonst spray and pray gun. Ein Submaschinengewehr, um genau zu sein. Wirklich ein wunderbares Ding. Klein und handlich. Und vor allen Dingen leistungsstark. Zwölfhundert Schuß die Minute. Also fast doppelt soviel wie eine Uzi. Ich packe das Ding in den Rucksack und stelle mich an den verabredeten Punkt am Old Dominion Drive in McLean. McLean liegt ein Stück nordwestlich von Washington, gleich am Anfang der Bundesstraße sieben. Nein, keine Angst, ich bin noch nicht völlig durchgedreht. Auf das CIA-Gebäude dort hab ich es nicht abgesehen. Erstens wüßte ich überhaupt nicht, was ich da sollte, und zweitens wäre das wieder so eine Verzweiflungstat, mit der man es gerade mal in die Acht-Uhr-Nachrichten schafft. Natürlich nur als durchlöcherte Leiche. Und das ist mir nun wirklich zu blöd. Man muß einen Job als Job sehen. Da geht es ums Geld. Und um sonst nichts.

Tanny hängt an ihrer Mutter. Und ich hänge an Tanny. So ist das nun einmal. Snake hängt an Tanny. Ein kleines zappelndes Männchen. Natürlich nicht allein, sondern zusammen mit einem Dutzend anderer Idioten aus dem Studio und der Schauspielschule und der Kleinkunstbühne. Obwohl die natürlich keine Ahnung haben. Die haben die Namen Aricept oder Exelon bestimmt noch nie gehört. Die sehen nur, wie Tanny sich aus dem roten Flanellkostüm schält, und finden das toll. Oder vielleicht noch nicht einmal das. Vielleicht ist ihnen einfach nur langweilig. Die meisten Seitensprünge, habe ich neulich im Fernsehen gehört, finden am Arbeitsplatz statt. Zusammen in verschiedenfarbigen Flanellkostümen über eine Kunstgraswiese hüpfen und Kochrezepte auf Khmer beziehungsweise irgendwas anderes Unverständliches daherbrabbeln, wer käme da nicht auf den Gedanken, seinen hohlen Kopf an die nächstbeste Schulter oder was auch immer zu lehnen?

Jetzt ist es aber umgekehrt beileibe nicht so, daß ich völlig bescheuert bin, nur weil ich mich Snake nenne und mit einer Knarre rumlaufe. Oder nur weil ich geradeheraus sage, was ich denke und nicht lang drumherumrede oder versuche, besonders witzig und klug daherzukommen. Wahrscheinlich würde es die meisten völlig aus den Schuhen hauen und ziemlich schockieren, wenn sie wüßten, wer meine Eltern sind. Man kann sich bei einem Typ wie mir meistens gar nicht vorstellen, daß der überhaupt Eltern hat.

Ja, ich habe Eltern. Und sie sind auch nicht geschieden oder so ein Zeug. Keine zerrüttete Familie, nicht mehr Alkoholismus als woanders auch, eben das übliche, auch wenn ich nicht wie all die anderen Existenzen bis Ende dreißig gewartet habe, um von zu Hause wegzuziehen, sondern das schon mit zwanzig erledigt habe. Genau vor fünf Jahren. Bis jetzt ist auch alles einigermaßen gut über die Bühne gegangen. Wenn nicht das mit Tannys Mutter wäre.

Am Anfang war dem Arzt, der anscheinend nur die Wehwehchen aus den besseren Vierteln kennt, nichts besseres als depressive Verstimmung eingefallen. Gut, ich will hier niemanden schlecht machen, es gibt alle möglichen Krankheiten und die ganzen Gefäße und Organe, das ist schon ein harter Job. Außerdem, denn mittlerweile bin ich zum halben Fachmann auf dem Gebiet geworden, gibt es in den ersten Jahren auch keine richtigen körperlichen Anzeichen. Trotzdem, ich weiß nicht.

Aber egal. Ich stand also da am Dominion Drive und versuchte, mich auf meinen Auftrag zu konzentrieren. Es war ungefähr halb vier. Immer noch bedeckt, fast düster. Manchmal können mich solche Nachmittage richtig schwermütig machen. Dann möchte ich mich am liebsten irgendwo verkriechen. Nur wo? Bei uns zu Hause ist es zur Zeit alles andere als gemütlich. Wenn Tanny nicht gerade am Apparat hängt, um mit Agenturen und Fernsehstationen zu telefonieren, dann rennt sie in der Wohnung herum und raucht eine nach der anderen. Dabei haben wir es so knapp nun auch wieder nicht. Natürlich ist das Ende abzusehen. Aber zwei Monate kommen wir noch locker durch. Nur darf ich sowas gar nicht erwähnen. Und ich erwähne es auch nicht. Dann sind wir immer gleich bei meinem kläglichen Beitrag zum Unterhalt. Ich gebe ja zu, daß ich mich das letzte halbe Jahr etwas ausgeruht habe. Aber es lief auch alles so gut. Dreimal die Woche die Aufzeichnungen für die Sendung, den Rest hatte sie frei. Wenn sie wohin mußte, habe ich sie gefahren. Jetzt darf ich überhaupt nicht mehr an den Wagen, als ob das so eine tolle Einsparung wäre, wenn er nur vor dem Haus herumsteht und keinen Zentimeter bewegt wird.

Aber nicht nur deshalb habe ich darauf gewartet, daß Trickett mich abholt und hinfährt. Selbst wenn Tanny mir den Wagen gegeben hätte, hätte ich ihn nicht genommen. Ich bin doch nicht bescheuert und fahre mit dem eigenen Wagen zu einem Auftrag. Trickett hingegen scheint, was das angeht, ein ganz schöner Idiot zu sein. Ich frage mich, wie der in dem Geschäft überhaupt zurechtkommt. Als er mich am Abend vorher anrief und sagte, daß er mich fährt, dachte ich, er schickt jemanden vorbei, aber nein, er erschien höchstpersönlich. Und dann nicht in irgendeinem Wagen, sondern in einem Jowett Javelin. Ich kam mir gleich vor wie in einem Miss-Marple-Film, was mir, ehrlich gesagt, auch wieder etwas den Druck nahm. In den alten englischen Filmen sind die Verbrechen immer so harmlos. Wenn mein verdammtes Leben nur ein einziges Mal so harmlos wäre. Mit einer Melodie zum Mitpfeifen im Hintergrund.

Na schön, die Fahrt da raus war ganz nett. Trickett lenkte mich ab. Denn ich wußte natürlich erstmal nicht, was ein Jowett Javelin überhaupt ist.

Du sitzt gerade in einem. Fast original.

Was heißt fast?

Na, wie soll ich es sagen, die Zulieferfirmen, mit denen Jowett damals zusammengearbeitet hat, waren etwas unzuverlässig.

Ja und?

Das Design ist vollkommen erhalten, aber ich mußte es praktisch, na sagen wir mal, unterfüttern lassen. Nicht gerade wenig Arbeit bei einem stinknormalen Aluminium-Vierzylinder-Motor und einer Sechssitzer-Einheitskarosserie. Was schätzt du, von wann er ist?

Fünfziger?

1947. Jowett hat das Auto noch im Krieg konstruieren lassen. Als Nachkriegsauto. Auch Gerald Palmer natürlich.

Natürlich. Alles klar. Ich verstand kein Wort von dem, was er mir da erzählte, obwohl Ben mal irgendwas in der Art erwähnt hatte, von wegen Trickett sammle nicht bestimmte Marken, sondern Designer. Und unter den Designern schien dieser Gerald Palmer für Trickett so irgendwas wie ein Halbgott zu sein. Er verbrachte auf alle Fälle die halbe Autofahrt nach McLean damit, mich mit Details vollzustopfen. An zweiter Stelle rangierte ein gewisser William Lyons, der für Jaguar gearbeitet hatte. Mir schwirrten die Namen im Kopf herum, und ich bekam langsam so meine Zweifel, ob Trickett noch alle Tassen im Schrank hatte, oder ob er es am Ende darauf anlegte, mir den Kopf dermaßen leer zu reden, daß ich im entscheidenden Moment auf alles knallen würde, was sich in meiner Reichweite bewegt.

Ich kann mit Autos nun einmal nichts anfangen. Und mit britischen Wagen kenne ich mich schon gar nicht aus. Das Steuer auf der anderen Seite, daran erkenne ich sie. Das ist aber auch schon alles. Ben hingegen hat sich so an Trickett rangemacht. Als der ihm nämlich mit stolzgeschwellter Brust seine Sammlung von Wagen vorführte, einen Deroy aus der Zeit, als Palmer noch bei Scammell arbeitete, und dann die aus der Morris Produktion, mehrere MGs, zwei Rileys, drei Wolseleys und so weiter, da spielte Ben nicht nur den tief Beeindruckten, sondern schenkte es sich auch nicht, am Ende der Führung schnurstracks auf einen uralten Mercedes zuzugehen, stehen zu bleiben und zu sagen: Aber der kann doch unmöglich von Palmer sein.

Ich würde immer denken, daß man es mir sofort ansieht, wenn ich so einen Mist rede. Aber Trickett fiel prompt drauf rein. Er lachte und klopfte Ben generös auf die Schulter. Nein, natürlich nicht, dieser Wagen hat 1924 den Targa Florio gewonnen. Damals war Palmer gerade mal 13.

Ben verzog keine Miene und setzte noch einen drauf. Trotzdem ein sehr schönes Auto. Kunstpause. Ganz wie auf der Bühne. Und dann: Wenn es auch nicht ganz in die Sammlung paßt.

Damit hatte er Trickett am Haken. Und Trickett merkte noch nicht mal, wie sich die Spitze durch seinen vorgereckten Hals bohrte, sondern zappelte fröhlich daran herum, überglücklich, endlich jemanden gefunden zu haben, der in der Lage war, den Clou seiner Sammlung zu begreifen.

Mein lieber Ben, hob er feierlich an, du kannst schon davon ausgehen, daß bei mir alles zusammenpaßt. Den Wagen, den du da siehst, den hat Palmer nämlich höchstpersönlich restauriert.

Tusch und Applaus.

Mit sowas kann ich natürlich nicht aufwarten, obwohl mir Ben, der von seinem Erfolg richtig angespornt wurde und sich immer weiter in die Materie reingearbeitet hat, einige Tips hat zukommen lassen, die es mir vielleicht etwas einfacher machen würden. Aber das ist nicht meine Art. Ich kann nicht, so wie er, ganz nebenbei was vom Oxford Hoist oder dem Oxford Vaporizer fallen lassen, auch wenn das noch so effektvoll wäre. Irgendwie sind das zwei Sachen von diesem Palmer, die er im zweiten Weltkrieg gebaut hat. Mit dem ersten Ding kann man, glaube ich, Leute ohne Beine hochhieven und mit dem zweiten die dann gleich betäuben, falls man ihnen noch auf dem Schlachtfeld etwas rausschneiden muß. Alles durchaus interessant, aber erstens kann ich mir Namen schlecht merken und dann kommt das einfach komisch rüber bei mir. So blöd ist selbst Trickett nicht. Der würde sofort denken, daß ich ihn auf den Arm nehmen will.

Wenn ich mit ihm über Waffen reden könnte … Aber Waffen, das hab ich auch von Ben, interessieren wiederum Trickett nicht. Was ich, ehrlich gesagt, ein bißchen seltsam finde. Über meine Browning 9 mm oder den Heckler-und-Koch-Karabiner, den übrigens auch die englische Polizei benutzt, könnte ich schon einiges sagen. Und das wäre doch ein Verbindungspunkt. Schließlich soll Tricketts Alter bei denen da drüben sogar gelernt haben. Und wahrscheinlich kommt mein Karabiner sogar genau aus dieser Quelle. Aber wenn Trickett damit nichts am Hut hat, dann halte ich lieber meinen Mund, schaue nach draußen und lasse ihn reden.

Es war schon erstaunlich, wie die Leute uns nachgafften. Trickett schien sich ziemlich sicher zu sein, daß niemand ihn mit mir, und vor allem mit dem Ding, was noch anstand, in Verbindung bringen würde. Oder er hatte mehr Vertrauen in mich als ich selbst und dachte, daß ich meinen Auftrag erledigen würde, ohne auch nur eine Spur zu hinterlassen.

Gibt es Radio? fragte ich.

Trickett lächelte und drückte auf einen neben dem Handschuhfach versenkten Knopf. Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, irgendein Lied von Bowie zu hören. Das wäre zwar ein enormer Zufall, aber manchmal gibt es so Zufälle ja. Stattdessen kamen nur Nachrichten und Schnulzen. Für einen Moment sah ich das als schlechtes Zeichen an, obwohl es schon ein enormer Zufall gewesen wäre, genau in dem Moment und genau auf dem eingestellten Sender irgendwas von Bowie zu hören. Nachdem ich mir das so ausgerechnet hatte, wurde ich auch gleich wieder ruhig. Das mit dem schlechten Zeichen, mit dem Schicksal und diesem ganzen Kram, ist sowieso nicht meine Sache. Tanny steht auf so etwas. Da heißt es ständig, was das wohl bedeuten mag und jenes. Und daher hatte ich das wohl auch in diesem Moment.

Trickett trug Lederhandschuhe und eine dunkle Sonnenbrille, sonst war er eher normal gekleidet. Jackett, sogar Turnschuhe. Ben schätzt ihn auf Anfang fünfzig, aber Ben ist, was das angeht, ein richtiges Kind. Trickett war noch nicht mal vierzig, würde ich sagen. Tannys Mutter war ja noch nicht einmal fünfzig. Und doch hatte es sie schon erwischt. Und gerade weil sie eben noch vergleichsweise jung ist, kamen die Ärzte auch nicht sofort auf den Grund für ihre Beschwerden. Außerdem hat sie nicht nur Alzheimer, sondern zusätzlich noch etwas anderes, das selbst die Ärzte erst seit ein paar Jahren kennen und das Dementia irgendwas heißt. Außerdem erklär mal einem Arzt, was mit dir los ist, wenn du kaum ein Wort von seiner Sprache verstehst und er garantiert kein einziges Wort von deiner Sprache. Jetzt ist es außerdem so, daß man bei dieser irgendwas Dementia ohnehin alle möglichen Wörter vergißt. Für mich war es ganz normal, daß Tannys Mutter viele Worte nicht kannte. Nur Tanny fiel es schließlich auf, als sie sich mit ihr auf Khmer unterhielt, obwohl umgekehrt Tanny da ganz schöne Lücken hat, weshalb es auch eine Zeitlang brauchte, bis ihr dämmerte, daß da etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Also hat Tanny ihre Mutter zum Arzt geschleppt, und der hat sie gleich ins Krankenhaus geschickt, wo sie ihr das Hirn durchleuchtet haben. Bei dem Ergebnis waren dann selbst die Ärzte ziemlich überrascht und auch entsprechend konfus. Beide Krankheiten zusammen, sowas hatten sie noch nie gesehen. Und dann mit noch nicht einmal fünfzig.

Tanny hat drei Tage lang nur geheult. Sie kam einfach nicht darüber hinweg, daß ihre Mutter mit Not den Schweinen da unten entkommt, um dann hier krank zu werden. Ich wußte darauf auch nichts zu sagen. Ich fand es auch eine Sauerei und wahnsinnig ungerecht. Aber auf der anderen Seite ist eben ganz schön viel ungerecht. Zum Beispiel die Leute, zu denen ich unterwegs bin. Die haben zwei kranke Kinder. Da hilft ihnen ihr Geld auch nichts. Und die sind wirklich steinreich und so berühmt, daß jeder sie kennt, wenn ich nur den Namen sagen würde, was ich natürlich nicht mache. Obwohl, manche kämen einfach nicht drauf, selbst wenn ich den Namen verraten würde, daß die tatsächlich was mit dem Schokoriegel zu tun haben, den jeden Tag Millionen in sich hineinstopfen, weil, ich wußte auch nicht, daß die Leute genau so heißen wie das, was sie herstellen. Aber egal. Die Kinder haben eine seltsame Krankheit und das eben ist Tricketts Plan. Da gibt es kein langes Gefackel, da geht es um wenige Stunden. Da können sich die Eltern nicht großartig was überlegen. Und wenn man schnell ist und die Forderungen auch nicht überzieht, dann kann das schon klappen. Und dann kaufen wir ganze Wagenladungen mit Aricept und Exelon, und Schlaf- und Beruhigungsmittel. Aufhalten können wir das ganze ohnehin nicht mehr. Aber Tannys Mutter soll wenigstens noch ein paar schöne Jahre haben.

Ben behauptet, Trickett sei selbst noch in einem Verein gewesen, wo sie einem bei der Aufnahme ein Stück vom Finger abgeschnitten haben. Nicht weil sie damit irgendeinen Hokuspokus anstellen wollten oder glaubten, daß sie auf ewig die Macht über dich haben wie in den Horrorstreifen, sondern aus einem ganz einfachen, aber sehr praktischen Grund. Wenn du nämlich aussteigen wolltest, oder wenn du dich sonst irgendwie daneben benommen hast, dann bekamen die Bullen einfach deinen Finger zugeschickt. Die hatten dann einen astreinen Fingerabdruck und konnten dir alles mögliche anhängen. Die konnten dir sogar Sachen anhängen, mit denen du gar nichts zu tun hattest. Sie haben deinen Finger genommen, und wenn sie irgendwo nicht weiter kamen, dann haben sie mit deinem Finger einfach ein paar Abdrücke am Tatort hinterlassen. Und mittlerweile geht es ja schon lang nicht mehr nur um Fingerabdrücke. Mit der DNA, die man aus so einem Finger ziehen kann, können sie dir sämtliche ungeklärte Morde aus dem Umkreis von Washington unterschieben. Ben hat sich das auch so ähnlich vorgestellt und irgendwann mal Trickett davon erzählt. Aber der hat sich angeblich halb tot gelacht darüber.

Ein bißchen muß man sich dann doch auskennen. Diese hirnlosen Kleinkriminellen mit ihren Einmachgläsern, was die aus den Zeitungen so aufschnappen. DNA. Zufällig weiß ich haargenau, daß die ihre Finger in Formalin einmachen. Da geht die DNA sofort kaputt. Alkohol müssen sie nehmen. Aber davon haben die doch keine Ahnung. Und so sehen dann auch die Geschäfte aus, die sie betreiben.

Trickett hat sich einen eigenen Namen gemacht, indem er weitgehend aus dem Drogen- und Waffengeschäft ausgestiegen ist. Er hat sich auf speziellere Sachen verlegt. Soviel ich weiß, illegale Pferderennen, Beschaffung von Tieren, die am Aussterben sind, und sowas in der Art. Als sie vor ein paar Wochen unser Wappentier von der Liste der bedrohten Tiere genommen haben, da war das ein ganz schöner Einbruch für Trickett. Plötzlich tauchen über Nacht an allen Ecken und Enden Seeadler auf und bringen die Preise zum Purzeln. Aber Trickett hat so viel am Laufen, daß das schon nicht sein Ruin sein wird. Ansonsten muß er eben eine von seinen Karossen verkaufen. Und an mir verdient er ja auch ne Kleinigkeit. Außerdem hat er noch das, was er Ben gegenüber mal seinen Reliquien- und Devotionalienhandel genannt hat. Meistens geht es dabei um Knochen oder sogar Schädel von Toten. Amelia Earhart zum Beispiel, die in den dreißiger Jahren während ihrer Weltumrundung irgendwo im Bermudadreieck abgestürzt und verschollen ist. Für fast eine Million hat er zwölf Knochen, einen Schädel, einen Damenschuh und einen Sextanten, alles zusammen in einem Earhart-Set verkauft. Keine Ahnung, wo er den ganzen Kram aufgetrieben hat. Aber das ist seine Sache. Für sowas hat Trickett ein Händchen.

Über das Bermudadreieck habe ich übrigens neulich was im Fernsehen gesehen. Das ist eine riesige Gasblase im Meer. 125 Meter hoch. Ein Riesending, voll mit Methangas. Wenn man das anzapfen könnte, hätte man ausgesorgt. Ich frage mich, warum das nicht gehen soll. Aber wahrscheinlich braucht man da alle möglichen teuren Geräte. Und die Regierung hängt natürlich auch mit drin. Auf alle Fälle ist dieses Gas dafür verantwortlich, daß die ganzen Schiffe und Flugzeuge verschwinden. Das Meerwasser wird einfach zu dünn und kann die Schiffe nicht mehr tragen. Und die Gaswolken bringen die Flugzeuge zum Verbrennen. Wundert mich, daß von Amelia überhaupt noch was übrig geblieben ist.

Revolution und Heimarbeit

Подняться наверх