Читать книгу Energiewende? - François Vuille - Страница 7

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Für die Schweiz bezeichnet die Energiewende den Zeitraum von 2011 bis 2035 beziehungsweise sogar bis 2050. Während dieser Zeitspanne wird unser Energiesystem infolge des Beschlusses des Bundesrats und des Parlaments zum Ausstieg aus der Kernenergie und der eingegangenen Verpflichtungen zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen grundlegende Änderungen erfahren.

Ein Energiesystem umfasst die Gesamtheit der Infrastruktur und Produktionsmittel, die Umwandlung, Verteilung, Lagerung und Nutzung der verschiedenen Energieformen sowie die Rahmenbedingungen die seine Funktionsweise regeln. Der Energiewendeprozess ist vor allem das Ergebnis politischer Entscheide und gestaltet sich deshalb in den jeweiligen Ländern unterschiedlich.

Während mehr als einem Jahrhundert war unser Energiesystem relativ einfach aufgebaut. Es umfasste eine begrenzte Anzahl an Energieträgern mit getrennten Versorgungskanälen: Wir importierten Benzin und Diesel für unsere Mobilitätsbedürfnisse, Heizöl und Erdgas für unseren Heizbedarf und produzierten unseren Strom in grossen Wasser- und Kernkraftwerken.

Heute stehen wir vor einer neuen Situation. Die Risiken der Klimaerwärmung, das Schreckgespenst der Endlichkeit fossiler Rohstoffe, der Atomunfall von Fukushima und die geopolitischen Risiken bewirken eine grundlegende Veränderung der Energielandschaft. In diesem Umfeld versucht die Schweiz, ihre Abhängigkeit von fossilen Energien zu reduzieren, und hat sich gleichzeitig dazu entschlossen, auf die Kernenergie zunehmend zu verzichten.

Gleichzeitig steigt unser Gesamtenergieverbrauch weiter an, auch wenn er sich tendenziell stabilisiert. Angesichts dieser Entwicklung sind wir mit einigen Herausforderungen konfrontiert, die wir mit unserem derzeitigen Energiesystem nicht bewältigen können – was dessen Umbau erfodert [→ F 3]. Wir müssen also in einem sehr kurzen Zeitraum (20 bis 30 Jahre) Folgendes erreichen:

 Kombination von Energiesuffizienz- und Energieeffizienzanstrengungen, das heisst Reduktion von Energieverbrauch und Verlusten, ohne Einbussen bei Komfort und Wohlstand,

 Förderung des Ausbaus neuer Energiequellen, insbesondere der Erneuerbaren,

 Neubeurteilung von deren Transport beziehungsweise Übertragung, Verteilung und Speicherung,

 Anpassung der Rahmenbedingungen des derzeitigen Energiemarktes.

Welche Strategie auch immer umgesetzt wird, um auf diese Herausforderungen zu reagieren, das daraus resultierende Energiesystem wird viel komplexer, vernetzter und vielfältiger sein als das heutige. Der Umbau unseres Energiesystems stellt also eine wesentliche Etappe für die weitere Gewährleistung der in unserer Verfassung vorgesehenen sicheren, wirtschaftlichen und umweltverträglichen Energieversorgung der Schweiz dar.

Der Beschluss zum Atomausstieg bedeutet, dass unsere Kernkraftwerke am Ende ihrer Laufzeit stillgelegt werden, ohne dass sie durch neue ersetzt werden. Daraus resultiert eine Stromunterproduktion, die wir ausgleichen müssen.

Im Mai 2011 gab der Bundesrat bekannt, dass er aus der Kernenergie aussteigen will. Wenig später wurde dieser Entscheid vom Nationalrat bestätigt und dann vom Ständerat gutgeheissen. Konkret impliziert diese historische Entscheidung des Kernenergieausstiegs, dass die fünf heute noch betriebenen Atomreaktoren definitiv am Ende ihrer Betriebsbewilligung abgeschaltet werden [→ F 16] und in der Schweiz kein neues Kernkraftwerk mehr entstehen sollte.

In der Folge fehlt ein bedeutender Anteil unserer jährlichen Stromerzeugung, nämlich 25 TWh. Das entspricht etwas mehr als einem Drittel (36 Prozent) unseres derzeitigen Stromverbrauchs. Die Schweiz importiert zwar seit etwa zehn Jahren zwischen 2 und 5 TWh jährlich [→ F 11], jedoch wäre es unrealistisch, davon auszugehen, dass wir einfach auf diese 25 TWh verzichten könnten, ohne dass sich das auf unsere Lebensqualität auswirken würde. Zumal gemäss der Prognosen unser Stromverbrauch im besten Fall stabil bleibt und im schlimmsten Fall bis zum Jahr 2050 um 50 Prozent ansteigt [→ F 87]. Das macht den Atomausstieg natürlich zu einer noch viel grösseren Herausforderung.

Wir müssen also die Lücke in der Stromversorgung mit einer der folgenden vier Optionen – oder einer Kombination dieser Optionen – schliessen:

 «Aus weniger mehr machen» – gemäss dem Prinzip der Energieeffizienz, d. h. dieselben Energiedienstleistungen mit weniger Energie (insbesondere weniger Strom) erbringen [→ F 44],

 Steigerung unserer einheimischen Stromerzeugung durch nicht-nukleare Technologien, insbesondere erneuerbare Energien,

 Verhaltensänderungen, um unseren Stromverbrauch zu stabilisieren beziehungsweise sogar zu reduzieren [→ F 91],

 Erhöhung unserer Stromimporte, falls diese Option in Zukunft noch zur Verfügung steht.

Die Herausforderungen sind vielseitig: strategisch, sozioökonomisch, ökologisch und klimaschutzrelevant. Sie sind nicht unüberwindbar, wenn wir rasch handeln.

Die Herausforderungen sollten nicht unterschätzt werden, weil die meisten unserer Stromimportverträge mit Frankreich (12 TWh/Jahr) zwischen 2018 und 2035 auslaufen. Diese Fristen fallen mit der Abschaltung der ersten Kernkraftwerke zusammen [→ F 16]. Ohne neue Versorgungsquellen geht die Schweiz somit das Risiko ein, ab 2020 einem Stromengpass ausgesetzt zu sein, falls alle unsere Kernkraftwerke nach 50 Jahren Betriebsdauer abgeschaltet werden würden. Bei einer Laufzeit von 60 Jahren könnte diese Verknappung bis ungefähr 2030 hinausgezögert werden [→ siehe nebenstehende Abb.].

Ausserdem hat sich die Schweiz zur Reduzierung ihrer Treibhausgasemissionen verpflichtet. Da die Kernkraftwerke direkt kein CO2 ausstossen [→ F 17], müssen wir unseren Atomstrom so ersetzen, dass wir unsere Anstrengungen zur Reduktion der CO2-Emissionen nicht gefährden.

Die Schweiz möchte auch ihre Energieunabhängigkeit verbessern und ihre Versorgungssicherheit auf einem hohen Niveau halten [→ F 20 und 23]. Daher ist es natürlich nicht wünschenswert, unsere Auslandsabhängigkeit zu erhöhen, indem wir einheimischen Atomstrom durch Importstrom ersetzen [→ F 88].

Ausserdem möchte die Bevölkerung – wie die Debatte um Windkraftanlagen zeigt –, dass die Alternativen zu unseren Kernkraftwerken keine erheblichen Auswirkungen auf unsere Umwelt und Landschaft haben [→ F 48].

Obwohl technische Lösungen für den Kernenergieausstieg vorhanden sind, wird es sehr kompliziert werden, alle – zum Teil widersprüchlichen – Ansprüche zu erfüllen. Die verschiedenen Interessengruppen und politischen Parteien müssen trotz ihrer unterschiedlichen Meinungen Kompromisse finden und Prioritäten vereinbaren.

Die Schweiz muss sich rasch auf eine Energiestrategie einigen. Der Ersatz der Produktion der fünf Atomreaktoren bei gleichzeitiger Reduzierung unserer Abhängigkeit von fossilen Energieträgern kann nicht von heute auf morgen erfolgen. Je länger wir warten, uns für einen Weg zu entscheiden, desto weniger Optionen stehen uns zur Verfügung [→ F 99].

Die grosse Mehrheit der wissenschaftlichen Gemeinschaft schätzt, dass die vom Menschen verursachten Emissionen von CO2 und anderen Treibhausgasen eine bedeutende Rolle in der Klimaerwärmung und der Versauerung der Meere spielen. Wenn sich dieser Trend fortsetzt, wird dies dramatische wirtschaftliche und ökologische Auswirkungen haben. Die Schweiz muss sich an den globalen Anstrengungen gegen die Klimaerwärmung beteiligen, indem sie die Emissionen – von denen 80 Prozent aus dem Energiesektor stammen – senkt.

Die Schweiz hat im Jahr 2003 das Kyoto-Protokoll ratifiziert. Dieser Vertrag, der im Jahr 1997 im Rahmen des Abkommens der Vereinten Nationen über den Klimawandel abgeschlossen wurde, enthält Ziele für die Reduzierung der Treibhausgase in mehreren Industrieländern. Die Schweiz hat sich verpflichtet, ihre CO2-Emissionen im Zeitraum zwischen 2008 und 2012 gegenüber den im Jahr 1990 ausgestossenen Emissionen um 8 Prozent zu verringern. Es ist allerdings nicht gelungen, die Emissionen im Inland im vorgesehenen Ausmass zu senken. Die Schweiz hat aber dank des Kaufs von CO2-Zertifikaten im Ausland ihre Verpflichtungen formal eingehalten [→ F 83].

Bis zum Abschluss eines neuen Abkommens (Nachfolgevertrag des Kyoto-Protokolls) hat sich die Schweiz verpflichtet, ihre Reduktionsanstrengungen auf freiwilliger Basis fortzusetzen. Es ist unerlässlich, dass die reichen Länder – die die Hauptverantwortung für die bis dato ausgestossenen CO2-Emissionen tragen – den Weg aufzeigen, weil es ansonsten schwierig wird, andere Länder davon zu überzeugen, selbst Verpflichtungen einzugehen.

Es wird erwartet, dass die globale Erwärmung zu tiefgreifenden Klima- und Umweltstörungen führen wird. Die Schweiz ist bereits mit einem immer rascheren Rückgang der Gletscher konfrontiert, die bis 2100 grossteils verschwunden sein werden. Das allmähliche Auftauen der ganzjährig gefrorenen Böden in hohen Lagen zieht zudem ein erhöhtes Risiko von Erdrutschen nach sich, welche bewohnte Gebiete bedrohen können.

Gemäss dem UN-Klimabeirat (IPCC) belaufen sich die Gesamtkosten der Auswirkungen der Klimaerwärmung bei einem Temperaturanstieg von 2,5 °C bis im Jahr 2100 auf 1450 Milliarden Dollar. Für die EU beziffert die Europäische Kommission die Zahl für denselben Zeitraum auf 250 bis 320 Milliarden Euro, was einen Nettorückgang ihres BIPs um bis zu 2 Prozent darstellt. Nicht zu handeln könnte also um einiges teurer kommen, als Massnahmen zu ergreifen [→ F 99].

Die sozioökonomischen Auswirkungen auf die Schweiz wurden bis dato nicht evaluiert, wären aber unbestritten sehr hoch. So könnte insbesondere das Abschmelzen der Gletscher langfristig bedeutende Auswirkungen auf unser Energiesystem haben [→ F 14].

Nein, die Schweiz ist keine Ausnahme. Angesichts des globalen Charakters der Energieprobleme sind alle Länder mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich für eine Energiewende einzusetzen.

Seit mehr als zwei Jahrhunderten werden die fossilen Brennstoffe (Erdöl, Kohle, Erdgas) in einem sich beschleunigenden Ausmass genutzt und die (leicht zugänglichen) fossilen Rohstoffe gehen nach und nach zur Neige.

Die sogenannten unkonventionellen Rohstoffe (Erdölbohrlöcher in Tief- oder polaren Gewässern, Schiefergas, Ölsand usw.) – mit deren Abbau man begonnen hat – sind teurer und weisen ein hohes Risiko von Umweltbelastungen auf. Sie ermöglichen es, die Frist der unvermeidlichen Erschöpfung der fossilen Rohstoffe um einige Jahrzehnte hinauszuschieben, werden aber die Lage nicht wesentlich ändern. Zahlreiche Länder möchten daher ihre Abhängigkeit von den fossilen Produkten verringern, um ihre Versorgungssicherheit zu erhöhen und gleichzeitig ihre Treibhausgasemissionen zu reduzieren. Die zwei Ziele sind also eng miteinander verbunden: Wenn man zugunsten eines der zwei Ziele handelt, unterstützt man auch das andere.

Auch Deutschland und Belgien haben sich zu einem Atomausstieg entschlossen. Spanien hat ihn ins Auge gefasst. Italien und Schweden haben sich ebenfalls für einen Ausstieg entschieden, auch wenn diese Frage weiterhin diskutiert wird. Die gegenwärtige französische Regierung strebt an, ihren Atomstromanteil von 75 auf 50 Prozent zu reduzieren.

Die derzeitige Energiewende ist weder die erste noch die letzte der Geschichte. Nach der Beherrschung des Feuers vor circa 400 000 Jahren sind die Menschen zu den traditionellen erneuerbaren Energien (Wind- und Wassermühlen), später zu Erdöl und Kohle und dann in den 1960er-Jahren zur Kernenergie übergegangen. Heute scheint das derzeitige Energiesystem seine Grenzen erreicht zu haben.

Energiewende?

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