Читать книгу Ein Pfeil ist nur frei, wenn er fliegt - Frans Diether - Страница 3

2. Kapitel

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Ruhig lag die Lichtung im Schein der aufgehenden Sonne. Ein Rehbock hob seinen Kopf aus dem Nebel und spitze die Ohren. Plötzlich war es vorbei mit der Ruhe, auf einen Schlag vorbei. Das Tier drehte sich auf der Stelle und raste zwischen den schützenden Bäumen davon. Dies rettete sein Leben. Nicht die Unvorsicht des Schützen, Pferdehufe, die hart auf den Boden schlugen, gaben der Beute das Signal zur Flucht. Verärgert ließ Frysunth den Bogen sinken, entspannte die Sehne, verfluchte die misslungene Jagd, und lauschte in Richtung des Hufschlags. Ein Pferd im Galopp, es würde unweigerlich auf das Dorf treffen. Frysunths geschärfte Sinne täuschten sich niemals. Und sie sendeten ein Signal an sein Hirn. Es hieß Gefahr. Vergessen war der Rehbock, dessen Fell noch eben im ersten Sonnenstrahl des Tages rotbraun zu leuchten begann, dessen anmutige Gestalt sich aus den über der Lichtung wabernden Nebelschwaden erhob, dessen Gespür, so fein es auch war, den Jäger nie hätte erfassen können. Frysunth war ein guter Jäger, sein Pfeil schon fast auf dem Flug. Es kam anders. Ein Fremder störte die Idylle. Es musste ein Fremder sein. Wer sonst sollte um diese frühe Stunde zum Dorf reiten. Frysunth hätte es gewusst, er war der Vorsteher von allen. Denn obwohl sie als freie Bauern lebten, übertrugen sie doch einem die Führerschaft. Frysunth nahm die Beine in die Hand. Er kannte den kürzesten Weg, konnte vor dem Reiter im Dorf sein, die anderen warnen, mögliche Gefahr bannen.

Keuchend erreichte Frysunth die erste Hütte, genau in dem Moment, in dem der Reiter angeflogen kam. Er stellte keine Gefahr dar, bemerkte Frysunth, als er die edle schwarze Stute und den weder vom Anzug noch von der Haltung dazu passenden Jungen auf ihrem Rücken sehen konnte. Der Pfeil durfte im Köcher bleiben. Dennoch war die Situation alles andere als beruhigend.

"Woher …", Frysunth konnte seine Frage nicht aussprechen, denn der Reiter hielt direkt auf ihn zu.

Mit erhobenen Armen gelang es dem Vorsteher, dass verängstigte Tier zu stoppen. In diesem Moment kamen ein gutes Dutzend Bauern angerannt, allen voran Odas, der Besitzer des größten Hofes, Frysunths Bruder und ewiger Widersacher, der sich aufgrund seiner Erstgeburt als legitimer Führer der Ansiedlung sah und noch immer anzweifelte, dass Frysunths Wahl durch die stimmberechtigten freien Männer mit rechten Dingen zuging.

"Holt den Jungen von dem Pferd. Hat auf solch edlem Tier nichts verloren", rief Odas lachend. Und wirklich, auf der Stute saß kein furchteinflößender Streiter, dort saß ein Kind, das sicher noch vor der Pueritia stand, welche die Friesen auf das vierzehnte Lebensjahr datierten, dessen bloße Füße Halt am Leib des Tieres suchten, dessen Hände auf den Rücken gebunden waren. Es war wohl selbst Opfer. Die Gefahr käme vermutlich noch, dachte Frysunth. Mitleid erfasste ihn, ließ ihn das Messer aus der Scheide ziehen, um die Fessel des Kleinen zu durchtrennen.

"Lass das", sagte Odas scharf, während er der Stute eine Schlinge um den Hals legte, da er sie als sein rechtmäßiges Eigentum betrachtete. Schließlich stand sie auf seinem Grund.

"Lass seine Hände verschnürt und jage ihn davon. Sollen seine Verfolger mit ihm tun, was sie wollen. Wir brauchen hier keinen Streit." Odas meinte es ernst. Die Körperbemalung des nur mit einem Schurz bekleideten Jungen und das Amulett auf seiner Brust zeigten es deutlich, er war Sachse, einer vom Volk derer, die die Friesen über lange Zeit bekriegten. Bestimmt legte sich seine Familie mit den fränkischen Herren an. Die heidnischen Motive auf seiner Haut waren beredtes Zeichen dafür, dachte Odas. Das war Teufelswerk, gefährlich für die neu gewonnenen Jünger des Herrn Jesus. Damit sollten sie hier im Dorf nichts zu tun bekommen. Mit kräftigem Griff zog er den Eindringling vom Pferd. Der Junge fiel vor Frysunths Füße, schien benommen, das aber nur für kurze Zeit. Mit einem Sprung stand er wenig später auf den Beinen, drehte Frysunth, in dem er offenbar einen Verbündeten vermutete, den Rücken zu und streckte ihm die Hände entgegen. Er irrte sich nicht. Scharf schnitt die Klinge des Vorstehers durch den rauen Strick, gerade noch rechtzeitig, bevor der Verfolger eintraf. Schnaufend und prustend, er musste wohl eine längere Strecke laufend zurückgelegt haben, stellte er sich in kaum hundert Fuß Entfernung auf, spannte seinen Bogen und zielte in Odas Richtung. Dieser erkannte den Grund sofort und ließ die Stute los.

"Wir wollen nicht, was euch gehört, edler Herr", rief er. Der Fremde zielte nun auf den Jungen.

"Komm her, bevor ich dein verräterisches Herz durchbohre", sagte er mit tiefer, fast wohlklingender, durch ihren scharfen Ton allerdings in der Aussage absolut ernst zu nehmender Stimme. Der Junge zögerte, blickte flehend zu Frysunth. Doch Odas ergriff wiederum die Initiative, hob den mit der Rechten fest umklammerten Speer und forderte den Jungen nachdrücklich auf, dem Befehl seines Verfolgers zu gehorchen, wolle er nicht sowohl von vorn, als auch von hinten durchlöchert werden. In diesem Moment stürmte Agur, Frysunths einziger Sohn und Erbe, aus der Mitte der wartenden Bauern hervor, auch er mit Pfeil und Bogen bewaffnet. Er stellte sich zwischen seinen Vater und den Franken.

"Nein", schrie Frysunth. Was dann geschah, dauerte nur Sekunden und ließ dem entsetzten Vorsteher keine Chance zum Eingreifen.

"Er ist doch ein Kind", rief Agur und geriet sogleich ins Visier des Fremden. Odas hätte diesen vom Schuss abhalten können, hielt er doch den Speer bereit für seinen tödlichen Flug. Odas Gedanken kombinierten blitzschnell. Wenn Agur stirbt, hat Frysunth keinen männlichen Nachkommen, fällt sein Besitz an mich oder die meinen. Odas ließ den Speer enteilen, verfehlte das Ziel aber bewusst. Im selben Augenblick sank Agur röchelnd zu Boden. Während sein Vater wie gelähmt vor Schreck auf die fürchterliche Szenerie starrte, griff der fremde Junge Agurs Waffe. Tief in ihm schrie es, du sollst nicht töten. Er fing an zu zittern, doch der Pfeil schnellte los. Und bevor sein Verfolger das nächste Geschoss aus dem Köcher ziehen konnte, durchschlug eine scharfe Spitze seine Kehle, warf ihn die Wucht des Schusses auf den Rücken, hauchte er ohne ein weiteres Wort den letzten Atem aus. Ein rotgefiederter Pfeil steckte in seinem Hals, Agurs Pfeil. Nur langsam kam Gis zu sich. Er hatte es getan, hatte einen Menschen getötet. Die Stimme in seinem Inneren wiederholte immer wieder, du sollst nicht töten.

"Duckte sich weg", stammelte Odas. Ein Kind hatte ihn bloßgestellt, einen der besten Speerwerfer des Dorfs lächerlich gemacht.

"Schuld ist der.“ Er zeigte auf Gis.

„Bringt uns nur Unglück. Müssen ihn wegschaffen." Odas fuchtelte wie wild. Nichts hätte passieren müssen. Warum löste Frysunth die Bande des Jungen? Warum mischte sich Agur ein? Zeigte das nicht alles, dass die Vorsteherschaft in falschen Händen lag? Er sollte den Augenblick nutzen, die Machtfrage jetzt entscheiden.

"Du hast deinen Sohn auf dem Gewissen", griff er Frysunth an. "Bring den Sachsenjungen zu seinen Häschern, bevor wir alle sterben."

Frysunth hatte sich noch immer nicht gefangen. Sprachlos starrte er auf seinen am Boden liegenden Sohn. Er schläft nur, rief seine Seele. Gleich steht er wieder auf und springt über die saftigen Wiesen, die frisch bestellten Felder.

"Bist du zu Fels erstarrt", schrie Odas, griff erneut die Zügel der wie gelähmt wartenden Stute und machte einen Schritt in Richtung Frysunth, ihn zu rütteln, ihn aufzuwecken, ihn mit dem Jungen zu den fremden Herren zu schicken und in dieser Zeit selbst die Macht zu ergreifen. Er tat einen Schritt. Weiter kam er nicht. Die Bauern umringten ihn.

"Lass uns das in Ruhe besprechen. Wir sind freie Männer, keiner fremden Herrschaft untertan", sagte einer von ihnen. Odas blieb allein, gestand sich das Scheitern seiner Bemühungen ein, für den Augenblick jedenfalls. Es schien besser, sich zurückzuziehen, für den Augenblick jedenfalls. Eines jedoch wollte er sich sichern, das stolze schwarze Pferd. Von den Anderen ungestört, sie öffneten lautlos den Ring, führte er es zu seinem Hof.

Frysunth verharrte noch immer am Ort des schrecklichen Geschehens. Vor ihm lag sein toter Sohn, seine ermordete Zukunft. Er würde kein weiteres Kind zeugen. Das hatte ihm nicht nur die alte Heilerin gesagt, das spürte er selbst am besten. Seit er vor drei Jahren vom Pferd stürzte, kam sein Saft nur noch spärlich und wie Wasser, blieb der Schoß seiner Frau, der sich zuvor jedes zweite Jahr mit neuem Leben füllte, von jeder Leibesfrucht verlassen. Und obwohl er es nie aussprach, es lag an ihm, schaffte er es doch auch mit dreien der Mägde nicht, ein weiteres Kind zu zeugen. Bis dahin schenkten ihm die Götter sieben Töchter aber nur einen Sohn. Doch während die Mädchen kränklich blieben, nur zwei von Ihnen das fünfte Jahr überlebten, gedieh Agur prächtig, wurde der Junge kräftig von Wuchs und rasch in der Auffassung. Es schien, als vereinigten sich all die guten Eigenschaften der vielen Söhne, die Frysunth sich so innig wünschte, in dem Einem. Und da seine Geburt in das Jahr fiel, in dem Frysunth den neuen Glauben annahm, sich taufen ließ und den Göttern seiner Vorfahren abschwor, dankte er nicht nur dem Christengott im täglichen Gebet für die große Gnade, sondern fühlte er sich durchaus bestärkt in der Richtigkeit seiner Entscheidung, zweifelte er nicht an den Worten des ehrwürdigen Bonifatius, mit denen dieser ihm und dem ganzen Dorf den einzigen und wahren Gott ins Herz pflanzte. Für viele war der Fall der Lebensesche, die der Priester so einfach umschlagen konnte, ohne dass Wöda oder Frigga, nicht einmal Fosite sich erhoben, das machtvolle Zeichen. Doch Frysunth erfuhr die Gnade des neuen Gottes und seines Heilands Jesus durch die lang ersehnte Geburt des ersten Sohnes. Dieser Sohn starb nun durch die Hand eines Christen. Frysunth zitterte am ganzen Leibe. Alles stürzte zusammen, sein Lebensplan, sein Glaube, seine Achtung vor den neuen Herren. Denn dass ein Franke seinen Sohn erschoss, daran zweifelte der Großbauer keinen Moment, dass der neue Gott nicht ein Liebender, sondern ein Grausamer war, dass stand für Frysunth plötzlich fest und umso fester, je länger er auf Agurs reglosen Körper starrte.

"Wöda", brüllte der Dorfvorsteher und die umherstehenden Bauern erschraken bis ins Mark. Allein den Namen auszusprechen, konnte den Kopf kosten. Frysunth scherte sich nicht um ihr ängstliches Gemurmel. Blutrot vor Zorn waren seine Augen unterlaufen. Blutrot leuchtete sein Kopf. Die Adern traten hervor und jeder nahm an, dass der Anführer im gleichen Augenblicke vom Schlag getroffen, für seine Gotteslästerung bestraft würde. Doch nichts geschah. Stattdessen trat Altje, Frysunths Frau, hinter ihren Ehemann, umschlang ihn mit beiden Armen und drückte ihre prallen Brüste gegen seinen breiten Rücken, während ihre Tränen in sein grobes Gewand sickerten.

"Komm her", befahl Frysunth, noch immer rot glühend, dem halbnackten Sachsenjungen, der weiterhin Agurs Bogen umklammernd, trotzig auf das Geschehen starrte, hin und her gerissen zwischen Stolz und Bestürzung. Er hatte getötet, seinem eigenen Grundsatz widersprochen. Sicher, er brachte seinen Peiniger zur Strecke. Doch er hatte getötet. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Zu schwer drückte die zerrissene Seele. Zu schwer drückten der Verlust des Bekannten und das Gefühl von Einsamkeit und Fremde. Zu groß war die Furcht vor dem Kommenden, vor dem unbekannten Stamm, zu dem er sich flüchtete, vor den fränkischen Kriegern, welche ihn auch hier aufspüren, neues Leid bringen würden, Leid, an dem er schuld war.

"Wie heißt du?", fragte Frysunth schon deutlich ruhiger, während man ihm ansah, dass es hinter seiner Stirn fieberhaft arbeitete, ein Entschluss in ihm zu reifen schien, ein Teil des großen Leids am Schwinden war.

"Gis", antwortete der Junge leise. Er wusste nicht, ob man die Bedeutung dieses Teils seines Namens erkannte. Er wollte es auch nicht wissen. Er wollte nur nichts mit diesem Bert zu tun haben, mit dem Teil seines Namens, welcher ihn an die Mörder seiner Familie erinnerte. Er hieß Gis. Gisbert starb am Ufer der Eems.

"Komm her zu mir Gis. Gib mir deine Hand. Und gib dieser Frau die andere Hand."

Gis folgte der Aufforderung, fasste Frysunth und Altje bei den Händen und blickte den kräftigen Bauern und seine dralle Frau fragend an.

"Vor unseren wahren Göttern, vor Wöda und Frigga und Fosite, vor diesem meinem Weibe und vor allen Bauern dieses Weilers erkläre ich dich, Gis, Rächer meines geliebten Agur, zu meinem Sohn an seiner statt." Kaum hatte Frysunth diese Worte gesprochen, fuhr eine helle Flamme aus dem Dach der kleinen Dorfkirche, ließ sie bald in Gänze lodern, zerfiel das Symbol des Christengottes in Schutt und Asche. Keiner wagte, sich zu rühren. Keiner versuchte zu löschen. Alle starrten mit offenen Mündern auf das züngelnde Feuer.

"Die Götter leben", murmelten die Bauern. Doch es war keine Freude in ihnen, nahmen sie doch den Christenglauben aus Überzeugung, und weil es der Glaube ihrer neuen Herren war, an. Sie wussten, schwere Zeiten würden über sie kommen, neuer Kampf ausbrechen. Konnten die Götter diesmal siegen? Kam einer glaubte daran. Doch ihr Zeichen war zu massiv, als dass jemand zu widersprechen wagte. In diesem Augenblick schien der Christengott geschlagen. Gis war Frysunths neuer Sohn. Die Götter wollten es so. Wenn König Karls Ritter dies erführen, käme es zum Kampf, würde auch ihr Gott seine große Macht zeigen. Aber mussten sie es erfahren? Musste er es erfahren? Das Leben könnte weitergehen, als sei nichts gewesen. Es gab keine Zeugen gegenüber den Menschen. Und was sprach dagegen, aus dem Heiden einen Christen zu machen. Jesus würde sie dafür lieben, ihnen bestimmt verzeihen.

"Lasst uns den Franken im Moor versenken, dass niemand ihn findet. Und macht aus dem Jungen einen von uns, ein sittsames Kind des Herrn Jesus. Entfernt die heidnischen Zeichen und kleidet ihn in ordentliche friesische Tracht", sagte einer der Bauern. "Und lasst uns die brennende Kirche löschen."

Er begab sich mit den anderen sogleich ans Werk, während Gis noch immer die Hände seiner neuen Eltern umklammerte. Er verstand ihre Sprache nur zum Teil, welches Schicksal sie ihm zudachten, verstand er jedoch. Und in diesem Moment schien ihm das nicht der schlechteste Weg zu sein, ihm, dem Waisenjungen, ihm, dem einzigen Überlebenden der einst so stolzen Sachsengemeinde vom Ufer der Eems.

Ein Schatten huschte zwischen die aus dicken Stämmen gebauten Häuser des Dorfes, ein Mädchen, schwarzhaarig und für die Region äußerst dunkelhäutig, ein wildes Kind, einzige Tochter des Odas, dem Gott drei Söhne geschenkt hatte, die ihm wie aus dem Gesicht geschnitten wirkten. Doch Kaya war der Liebling ihres Vaters, vielleicht weil sie so gar nicht dem nordisch friesischen Typ entsprach, vielleicht weil sie ihn so sehr an den geistlichen Lehrer ihrer Gemeinschaft, an Vater Bonifatius erinnerte. Die Idee, dass diese Ähnlichkeit durchaus biologische Gründe haben könnte, kam Odas nicht. Seine Frau bewahrte die Erinnerung im hintersten Winkel ihrer Seele, bis sie vor einem Jahr starb. Und Bonifatius Erinnerungen an die eine Frau blieb lediglich ein kleiner Tropfen im Meer der Vielen. Von Mutter und Vater geliebt, durfte Kaya alles tun, alles lernen, wonach ihr der Sinn stand. Und der Missionar Bonifatius, in seinem Innersten eine mögliche Verwandtschaft zu der kleinen, ihm recht ähnlich sehenden Schwarzhaarigen nicht völlig leugnend, lehrte sie, was er selbst an Wissen in Lesen, Schreiben, Rechnen erworben hatte. Es war nicht allzu viel. Schließlich erfuhr er selbst Bildung nur für kurze Zeit, wurde durch Auswendiglernen, Umgang mit dem Schwert und Schulung im Erdulden von allerlei Pein auf seine Missionsaufgabe vorbereitet. Das Kloster am südlichen Meer, in das ihn die Eltern mangels Möglichkeit, ein zehntes Kind zu ernähren, in jungem Alter gaben, sah nicht die Bewahrung der Wissenschaft, sah allein die Verbreitung des Glaubens als wesentlich an. Und so wurde er schon mit vierzehn Jahren als Gehilfe über die Alpen und nach dem Tod seines Herrn als Missionar zu den Heiden geschickt, an denen er seine Aufgabe mit Wort und Schwert erfüllte. Kaya dankte es ihm nicht, lernte zwar geduldig, blieb jedoch für den Heiligen Geist verschlossen, tobte lieber durch die Wälder, ritt wilder als ihre Brüder, nahm sich gar heraus, Waffen zu führen, und erlangte im Umgang mit dem Bogen ein Geschick, welches alle erstaunen ließ. Doch bei aller Wildheit lernte sie auch schnell, mit ihren Gaben nicht zu protzen, ihren freien Geist zu bezähmen, die Älteren und vor allem Bonifatius nicht herauszufordern. Ihr Vater hielt das für durchtriebene Schläue und liebte sie dafür umso mehr. Sie hingegen hasste die Durchtriebenheit des Vaters, seine Sucht nach Macht und Besitz, sein Geltungsbedürfnis, sein Streben, etwas Besonderes darstellen zu müssen. Wenn er meinte, sie durch schöne Kleider, durch fein gearbeitete Schuhe zu erfreuen, dann konnte es ihr nicht schnell genug gehen, wieder in die erdfarbene Bauerntracht zu schlüpfen und barfuß durch den Matsch zu laufen, bis sie nicht mehr von den Jungs des Dorfes zu unterscheiden war. Unermesslich wurde ihr Hass, als der Vater die Mutter wegen einer Kleinigkeit so prügelte, dass sie kurze Zeit später starb. Vor einem Jahr war das. Seither hatte sie den weiblichen Part in der Familie zu übernehmen, sich um Vater, Brüder, Haushalt zu kümmern, sich der täglichen Eintönigkeit eines bäuerlichen Lebens zu unterwerfen. Vielleicht verliebte sie sich deshalb in den fremden Jungen mit dem ersten Blick, den sie auf seine fast nackte, wild bemalte Gestalt werfen konnte. Er war anders. Er würde Abwechslung bringen, jedenfalls dann, wenn er nicht dem Franken zum Opfer fiele, vor lauter Angst sein Ziel verfehlte, die Chance des ersten Schusses vertäte. Nein, er sollte nicht sterben. So legte sie jenen rot gefiederten Pfeil, den sie Agur einst im Spiel entwendete, auf die Sehne ihres Bogens, jenen Pfeil, der kurz darauf die Kehle des Franken durchschlug, während ein zweites, gleichartig gemachtes Geschoss von der zitternden Hand des Sachsenjungen zwischen die eng stehenden Dornenbüsche gelenkt wurde, ein Umstand, der allein ihr auffiel. Als sich Frysunth dann auf die alten Götter berief, wurde sie zu Friggas Hand, setzte sie ein machtvolles Zeichen, steckte sie die Kirche, das Symbol christlicher Herrschaft in Brand. Kaya überlegte nicht, handelte instinktiv, tat, was sie tun musste und tat es, ohne an die Folgen zu denken. Als die Flammen emporschossen, warf sie den Bogen ins Gebüsch und rannte zum Haus des Vaters.

"Verflucht", rief Odas, rappelte sich aus dem Staube, in den er nach dem Zusammenprall mit der wie blind daherrennenden Kaya gestürzt war, wieder hoch, blickte kurz auf die ebenfalls zu Boden geschleuderte Tochter und stürmte weiter. Die Kirche brannte. Es musste gelöscht werden. Nur im Unterbewusstsein nahm er Kayas verrußte Kleidung und ihr versengtes Haar wahr.

"Hilf beim Löschen", schrie er noch in ihre Richtung. Als er die Kirche erreichte, mühten sich die anderen Bauern bereits, mit Eimern voller Wasser dem Brand Herr zu werden. Doch die Flammen zeigten sich unerbittlich, drohten bereits das Heiligste, den von Pater Bonifatius überbrachten Splitter vom Kreuze Christi zu verzehren. Außer Odas schien keiner zu ahnen, welch schreckliche Rache sie auf sich ziehen würden, falls die unersetzliche Reliquie zu Schaden käme. Und er, der stets Bedachte, der Berechnende, allein dem eigenen Vorteil Verpflichtete, verlor in Anbetracht der fernen das Gefühl der nahen Gefahr, riss sein Hemd vom Leibe, tauchte es in einen der Löscheimer, drückte es dann vor Mund und Nase und stürzte in die Flammen. Alles ging so schnell. Keiner konnte ihn aufhalten. Mit aller Kraft schöpften die Bauern Wasser, versuchten sie, die Flammen, die Odas einschlossen, zu ersticken. Ein Raunen ging durch ihre Reihen, als er nahe der Eingangstür auftauchte, die Schachtel mit dem geretteten Splitter triumphierend in den Händen haltend. Ein Schrei ging durch ihre Reihen, als er über einen brennenden Balken stürzte und vom zusammenbrechenden Kirchendach begraben wurde.

Ströme von Wasser hatten nichts genutzt. Von der Kirche blieben verkohltes Holz und reichlich Asche. Sie wurde zu Odas Grab. Wollten die alten Götter ihre Stärke beweisen? Hatte der Sachsenjunge die teuflischen Kräfte heraufbeschworen? Verwirrt standen die Bauern um die Ruine, während ein Mädchen mit versenktem schwarzen Haar, mit Brandlöchern in der bäuerlichen Tracht, mit ausdruckslosem Gesicht am Boden hockte und Tränen voll Scham, Wut, Trauer und Angst über ihre Wangen rollten.

"Er war dein Bruder", sagte Altje und rüttelte Frysunth an den Schultern. "Und du bist unser gewählter Vorsteher. Du musst dich um seine Familie kümmern. Du musst den Leuten sagen, was zu tun ist."

Frysunth wusste selbst, dass er all dies machen musste. Allein er wusste nicht, wie das alles zu bewerten war. Sollten sie die Stärke der alten Götter anerkennen, sich wieder unter ihren Schutz stellen, den sicheren Konflikt mit den neuen Herrn, mit deren bisher so starkem Gott suchen? Oder sollte er das Ganze ein Unglück nennen, dem fremden Jungen die Schuld geben, ihn an die Franken ausliefern und auf deren Verzeihen hoffen? Frysunth atmete tief durch und zog sein Messer aus dem Gürtel. Ein Raunen ging durch die Umstehenden, als er in Gis Richtung trat. Den Blick zum Boden gerichtet, die Zehen in den verrußten Boden gekrallt, die Hände auf dem Rücken verschränkt, wartete dieser auf das Kommende, egal wie es ausfiele. Er hatte Unglück über diese fremden Menschen gebracht. Er hatte Unglück über alle ihm bekannten Menschen gebracht. Er hatte getötet, gegen seine Überzeugung gehandelt. Es wäre nur rechtens, wenn die blanke Klinge seine Kehle aufschlitzte.

Doch Frysunth ging vor Gis Füßen in die Hocke, schnitze an einem der Kirchenbalken herum und schnitt einen Splitter von dem dunklen Holze.

"Mach eine Schatulle dafür, nicht zu unterscheiden von der, die du für Bonifatius Splitter machtest", sagte er im Aufrichten zu Tahnker, der sich besonders auf die Zimmerei verstand und lachte dabei verschmitzt. Auch Tahnker lachte, verstand er des Vorstehers Plan doch sofort, war er doch nur allzu gern Teil des Spiels, welches den neuen Herrn Gehorsam vorgaukelte und die alte, die wahre Tradition im Herzen behielt.

"Die Kirche bauen wir wieder auf, schöner und größer als zuvor. Bonifatius wird uns loben", sprach Frysunth weiter und ließ seinen Blick über die Bauern, Mägde, Knechte und ihre Kinder, über das ganze Dorf, welches sich inzwischen versammelt hatte, schweifen. "Odas Kinder werden Teil meiner Familie, sollen aufwachsen, wie meine eigenen Söhne, wie meine eigenen Töchter."

Wieder ging ein Raunen durch die Reihen der Umherstehenden.

"Er wird den fremden Jungen verstoßen, jetzt wo er eigene Söhne hat", flüsterte eine Magd und drückte aus, was die Mehrheit dachte. Tahnker, der neben ihr stand, biss sich auf die Lippen. Falls das passierte, wollte er lieber mit dem Kleinen fliehen, als ihn, das Zeichen der Götter, auf dem Christenaltar zu opfern.

"Und sie werden meinem Sohn Gis gute Geschwister sein. So wollen es die Götter, auch wenn dieses Wissen geheim bleiben muss, unsere Reihen nicht verlassen, den fremden Besatzern und ihren christlichen Helfershelfern nicht bekannt werden darf." Frysunth legte sich fest, streifte die heilige Taufe ab, gab sein Leben und das seiner Leute zurück in die Hände der alten Götter des Landes. Er wusste, nicht alle waren seiner Meinung. Doch sie hatten ihn gewählt, als Vorsteher, als Richter, als den, dessen Wille anzuerkennen war. Sie würden es nicht wagen, gegen ihn aufzustehen.

Jeder kürzer werdende Tag zeigte es. Der morgendliche Reif in den Spinnenweben zeigte es. Die lauten Gesänge der Grillen verkündeten es. Der Sommer ging zu Ende. Es war Zeit zu ernten, Zeit Vorräte anzulegen, sich auf den Winter, auf Kälte und Entbehrung vorzubereiten. Die Ernte fiel besonders üppig aus. Es schien, als wollten die alten Götter zeigen, dass noch immer sie es waren, die über das Land herrschten. Bonifatius, der vor einigen Tagen unverhofft auftauchte, lobte den Bau der neuen Kirche außerordentlich, zeigte sie ihm doch, dass des Satans schändliches Wirken keinen Erfolg hatte, aus dem Bösen immer mehr Gutes erwuchs. Besondere Freude empfand der Geistliche bei der Vorstellung, dass einer der von ihm Bekehrten sein Leben opferte, um den heiligsten Besitz des Dorfes, den Splitter vom Kreuze Christi, zu retten. Andernfalls, das sprach er jedoch nicht aus, wäre die gesamte Gemeinde allerdings auch in Verdammnis gefallen. Das Grab des Helden fand den würdigsten aller Plätze, wurde neben dem Eingang zum Hause Gottes angelegt. So sollte jeder an Odas Mut und starken Glauben erinnert werden. Und mit jedem Balken, den die Kirche in die Höhe wuchs, schwand die Angst der Menschen vor des Christengottes Rache, verblasste ihre Erinnerung an das Geschehene, holte sie der Alltag mit seiner Gleichförmigkeit, seiner Mühe und mit den seltenen, dafür umso intensiver gefeierten Festen, in das zurück, was ihnen normal war. Kaum einer, der von da an nicht wieder Wöda, Frigga, Fosite und all den anderen Göttern des Landes, den Geistern und Feen gedachte, ihnen zumindest heimlich opferte, ihre Zeichen an versteckten Plätzen anbrachte und kaum einer, der nicht weiterhin in die Lobpreisungen des Christengottes einstimmte. Es war gut, sich mit allen gut zu stellen. Und zumindest in diesem Jahr gab ihnen die reiche Ernte Recht.

Kaya trug die Garben vom Feld ihres Onkels, der seit Odas Tod die Vaterstelle an ihr versah. Trotzig blickten ihre dunklen Augen zwischen den schwarzen Haarsträhnen hervor, die über ihr, von der sommerlichen Sonne noch stärker als sonst gebräuntes Gesicht fielen. Sie schleuderte den Kopf nach rechts, befreite ihren Blick, ging schnellen aber doch vorsichtigen Schrittes, die nackten Zehen vor jedem Zusammenstoß mit Stöcken oder Steinen bewahrend, Stacheln und Dornen geschickt ausweichend. Oft genug machten sich die Brüder lustig. Als Tochter eines Großbauern hätte ihr ganzjährig Schuhwerk zugestanden, hätte sie bestimmt nicht wie eine gewöhnliche Magd in einem kaum knielangen derben Kleid daherkommen müssen. Kaya ärgerte sich über die groben Scherze der Kerle. Ändern wollte sie dennoch nichts an ihrem Aussehen. Sie war wild und frei, und das würde sie immer bleiben. Sie musste nicht durch Äußerlichkeit gefallen, musste keinen Wert auf künstliche Schönheit legen. Sie fand sich schön, wie die Göttin Frigga sie erschaffen hatte. Weit wichtiger waren ihr ohnehin die Fähigkeiten, welche ihr die Göttin verlieh, Fähigkeiten, die bei den anderen Bewohnern des Dorfes auf Ablehnung stießen, da sie sich für ein Weibsbild wenig schickten, als da sind Schwertkampf, Bogenschießen, Reiten und Ringen. Ihr Vater hatte sie dafür geliebt. Doch ihr Vater war auch schuldig am Tod der Mutter. Und sie hatte sich an ihrem Vater schuldig gemacht. Ohne ihre Brandstiftung würde er noch leben. Diese Zerrissenheit verdunkelte Kayas Gemüt, ließ sie noch aufsässiger, noch ungehorsamer, ihr Aussehen noch unschicklicher werden. Ihre Ziehmutter gab sich alle Mühe, der Kleinen standesgemäßes Benehmen beizubringen, sie auf den wundervollen Weg christlichen Lebenswandels zu leiten. Höre auf Vater Bonifatius. Es wird dein Glück sein. Deine Augen blicken so freundlich wie seine. Nimm seine Lehre an. Die Worte klangen so bekannt in Kayas Ohren. Und darum konnte sie Altje nicht einmal böse sein. Auch in ihrer eigenen Familie wurde der Christengott verehrt. Auch ihre richtige Mutter wollte sie zum rechten Glauben, zur wahren Frömmigkeit erziehen. Die Frauen meinten es sicher nicht böse, litten wohl beide unter dem Widerspruch von Traum und Sein. Das Leiden der Einen, der Mutter, fand sein frühes Ende. Die Andere, die Tante, trachtete, das Werk bestmöglich fortzusetzen. Und da Kaya sie nicht verletzen wollte, fand sie sich zumindest regelmäßig zu Bonifatius Belehrungen und Zeremonien ein, ebenso wie der Onkel und Ziehvater, der sich zwar öffentlich zu den alten Göttern bekannt, in seinem Innersten ihnen erneut zugewandt hatte, der dennoch nicht den Konflikt mit den neuen Herren und dem von ihnen mit aller Strenge durchgesetzten Glauben suchte. Kaya mühte sich, auch dies zu achten. Wenn Tammo, ihr ältester Bruder, Frysunth wieder einmal reizen wollte, ihn auf den Konflikt in Glaubensdingen ansprach, gar seine Autorität als Vorsteher, die nach seiner Meinung durch fränkisches nicht friesisches Recht gedeckt war, anzweifelte, versuchte sie eher zu schlichten, als von eigenen Vorstellungen geleitet, Partei zu ergreifen. Lieber wies sie auf die Sinnlosigkeit eines Gegeneinanders und die Notwendigkeit des Miteinanders hin, um so über alles Trennende hinweg den überlebensnotwendigen Zusammenhalt der Familie zu sichern.

Versunken in Gedanken erreichte Kaya den Speicher, schweifte ihr Blick über den freien Platz, den festgestampften Lehmboden, die Ziehmutter, welche den Ähren die Körner ausschlug. Die Ernte war reich ausgefallen. Es musste kein Mangel sein. Das Glück wohnte bei ihnen. Doch Kaya konnte sich nicht freuen. Die Vergangenheit bedrückte sie ebenso, wie der Ausblick auf eine eintönige Zukunft in der Enge des Dorfes.

"Reite zum Feld und bring deinem Vater das Mahl. Es steht neben der Kochstelle bereit."

Erst Altjes Worte ließen Kaya erkennen, dass noch jemand anwesend war, jemand, bei dessen Anblick ihre Augen lebendig, ihre Züge weniger traurig, ihre Schritte beschwingter wurden. Gis trat hinter dem Speicher hervor, die schwarze Stute führend, die mit Odas Tod an Frysunth fiel, der sie dem Adoptivsohn vermachte, nicht ahnend, welchen Neid er dadurch auslöste, dass er damit einen weiteren Tropfen in den Trog des Hasses fallen ließ, der insbesondere von Kayas Brüdern und allen voran von Tammo genährt wurde.

"Ich möchte mit ihm reiten, bin dann schneller auf dem Felde und schneller mit neuen Ähren zurück", bettelte Kaya, die es kaum erwarten konnte, mit dem Sachsenjungen allein zu sein, eine Freude, die ihr höchst selten zu Teil wurde, galt Gis doch als Außenseiter, vor dem es das Dorf zu schützen hieß, wurde er doch nur aufgrund Frysunths Einfluss und aus geheimer Furcht vor den alten Göttern, die seine Aufnahme mit einem machtvollen Zeichen forderten, geduldet. Kaya musste in Gedanken lachen. Sie, die Außenseiterin, wurde zur Hand der Götter, schoss den tödlichen Pfeil, der Gis Leben rettete, entzündete die Kirche, was das gesamte Dorf ängstigte. Ohne sie wäre der Kerl längst nicht mehr auf dieser Welt. Er wusste das nicht. Keiner außer ihr wusste es. Und sie schwieg. Der Kleine hatte, was ihr versagt blieb, Männlichkeit. Und er war ihr ähnlich, konnte in ihren Händen geformt werden, würde sie vor dem Schicksal der Herd, Haus und Kinder hütenden Bäuerin bewahren.

"Lass Kaya mit dir reiten", gab Altje dem Wunsch der Ziehtochter nach. Sie sah die Zwietracht unter ihren Kindern, die Abneigung, die ihre als Söhne angenommenen Neffen dem fremden Jungen entgegenbrachten, die eifersüchtigen Gedanken der eigenen Kinder, mit denen diese Kaya bedachten, die ihrem Herzen nach ein Mann, ihrem Aussehen nach exotische Verführung, von Gott mit stabiler Gesundheit und Kraft gesegnet war, was sich nur allzu deutlich von Altjes Töchtern abhob. Und wie schon öfter, ertappte sich die stämmige Bäuerin, die geachtete Frau des Vorstehers, bei dem Gedanken der Freude, dass ihr neben den kränklichen eigenen Mädchen die so reich beschenkte Nichte in die Familie gegeben wurde. Gott nahm ihr einen Sohn, doch er schenkte ihr vier andere und eine Tochter noch dazu. Sie sollte nicht trauern. Sie trauerte nicht. Das Leben war, wie es war. Der Verlust so vieler Kinder hatte sie gelehrt, ihr Herz nicht allzu fest an ihre Nachkommen zu binden. Das Leben musste weitergehen. Es brauchte starke Arme und kräftige Beine. Und da schien es weniger entscheidend, aus welchem Schoß diese Arme und Beine krochen, ob sie hell- oder dunkelhäutig waren, ob ihre Besitzer in Schuhen oder barfuß gingen. Selbst Kayas störrische Eigenheit, selbst Gis ewig traurige Verschlossenheit, sogar dessen unerklärliche Abscheu vor der Jagd auf Lebewesen konnten ihre Freude über die Schar der Kinder und ihre unersetzliche, den großen Hof blühen lassende Arbeitskraft nicht trüben. Das Leben ist wie es ist, war Altjes Leitspruch. Sie nahm es, wie es war, und machte das Beste daraus.

Gis Begeisterung, mit der Schwester auf einem Pferd zu reiten, hielt sich in Grenzen. So oft ihm die Ratio auch sagte, dass er es nicht besser hätte treffen können, er ohne die Aufnahme in Frysunths Familie hätte hungern, gar sterben müssen, siegte doch die Emotio, getrieben vom Schmerz über das Verlorene, bedrückt vom Wissen um das eigene Versagen, als des Großvaters Leben in seiner Hand lag. Auch der Alltag auf Frysunths Hof spendete wenig Freude. Schweres Arbeiten war Gis gewohnt. Auch seine Familie kämpfte mit der Härte des Lebens. Und satt wurde er auch, ein Umstand, der für ihn keine Selbstverständlichkeit besaß. Doch außer Frysunth gab es keinen Menschen, der ihm gegenüber Zuneigung zeigte. Altje akzeptierte ihn, vermutlich wegen seiner starken Arme, die den Wohlstand der Familie mehrten. Liebe brachte sie ihm nicht entgegen. Schon gar nicht konnte sie die Mutter ersetzen. Die beiden leiblichen Töchter des Hofes kämpften mit Kränklichkeit, hielten Männer, insbesondere wenn diese auf die Pueritia zusteuerten, für vom Teufel getrieben, eine Annahme, die der Pater Bonifatius zu stützen wusste. Insbesondere vor ihm, dem Sachsen, dem Pferdeanbeter wichen sie zurück. Sollte er ihretwillen umkehren, den Unterweisungen des Paters Bonifatius, die Schwestern berichteten gar oft von ihm, annehmen? Ihretwillen wollte er das bestimmt nicht. Und selbst wenn er das gewollt hätte, er hätte es nicht gekonnt. Aus Angst vor den Franken verbargen ihn die Stiefeltern vor jedem Fremden und auch vor Bonifatius. Gis, der ihre Furcht teilte, noch immer überzeugt war, dass man ihn eines Tages aufspüren und als Kind des Teufels brennen lassen würde, akzeptierte diese Vorsicht, obwohl sie ihn von mancherlei Abwechslung fernhielt und ihm die Chance zum Lernen, das wäre in seinen Augen die einzige Begründung zur Teilnahme an Bonifatius Unterweisungen gewesen, nahm. Blieben da noch die drei Stiefbrüder, deren Schicksal dem seinen ähnelte, die ebenfalls Mutter und Vater verloren hatten. Wenn es allerdings nach ihnen gegangen wäre, säße Gis schon längst im Kerker des Herzogs. Vor allem der achtzehnjährige Tammo machte kein Hehl daraus, dass er den Schuldigen am Tode seines Vaters, nichts anderes sah er in Gis, bis in alle Ewigkeit verfluchte. Lediglich seine bäuerliche Schläue hielt ihn vom Verrat des Zwangsbruders, wie er Gis nannte, ab, wusste er doch nur zu genau, dass er seinen Onkel und Ziehvater Frysunth ebenfalls in Verderben stürzen, jeden Schutz verlieren, der Gier der anderen Bauern nach seinem Besitz schutzlos ausgeliefert sein würde. Nur deshalb spielte Tammo das aufgezwungene Spiel. Einen Freund konnte Gis in ihm und auch in Tammos leiblichen, durch ihn bis in die letzte Haarspitze geprägten Brüdern nicht finden. Und Kaya? Kaya schenkte ihm manch verstohlenen Blick. Kaya sprach nicht schlecht über ihn. Kaya schien seine Nähe eher zu suchen, als zu meiden. Aber Kaya war so fremd, so dunkel, so mystisch, schien weder die neuen noch die alten Götter zu achten, sich vielmehr mit schwarzen Mächten einzulassen. Vor Kaya hatte Gis Angst. Es war ein irrationales, dafür umso stärkeres Gefühl. Kaya schien Dinge zu wissen, die man nicht wissen sollte. In Gis Augen war sie eine Hexe, würde sie eines Tages im Feuer enden, so wie ihr Vater. So zog sich Gis zurück, wenn Kaya ihm zu nahe kam, erkannte er ihr stilles Werben nicht, schlug er die Chance ihrer Freundschaft aus. Und nun sollte Kaya hinter ihm auf dem Pferd sitzen, ihr raues Kleid gegen seinen Rücken, ihre nackten Knie gegen seine Beine pressen. Gis schauderte bei dem Gedanken.

"Nun steige schon auf und lass Kaya hinter dir auf dem Pferd sitzen", beendete Altje Gis Gedanken, der mit dem Mahl für den Ziehvater in der einen und dem Zügel des Pferdes in der anderen Hand verlegen neben dem Dreschplatz stand. Es half nichts. Wenn die Stiefmutter etwas befahl, galt es zu gehorchen. Gis stand nicht der Sinn nach Aufbegehren. Er schwang sich auf die schwarze Stute, sein Pferd, seinen ganzen Stolz und reichte Kaya die freie Hand. Lachend schlug sie dagegen. Es klatschte, als sich ihrer beider Handflächen trafen. Das Signal war eindeutig. Ich brauche deine Hilfe nicht, drückte es unmissverständlich aus. Und mit einer Leichtigkeit, als habe sie ihr ganzes Leben nichts anderes gemacht, schwang sie sich hinter Gis, ganz zur Freude Altjes, die sich an der Tochter Antwort auf Gis männliche Überheblichkeit ergötzte und besonderes Glück beim so seltenen Lachen der Kleinen empfand.

Die Sonne stand am höchsten Punkt ihres alltäglichen Himmelslaufs, nicht mehr so hoch wie am Beginn des Sommers, aber doch hoch genug, um wollige Wärme zu spenden. Gis genoss ihre zärtlichen Strahlen auf seinen nackten, dunkelbraun gebrannten Schultern. Er trug kein Hemd, schonte es lieber, besaß ja nur das eine, sah keinen Sinn darin, es im Alltag zu verschleißen, bis zu jenem Augenblick, in dem Kaya hinter ihm saß und ihren Oberkörper fest an den seinen drückte. In diesem Moment hätte Gis alles für ein Hemd gegeben. Schweiß floss aus seinen Poren, nicht der Hitze wegen. Kaya ließ sein Innerstes wallen. Er war drauf und dran, in den Galopp zu fallen, fürchtete jedoch, seine Stiefschwester könne vom Pferd stürzen. An die Folgen wollte er lieber nicht zu intensiv denken. Doch die Pein trieb ihn an und die Stute wurde immer schneller.

"Du solltest die Schwarze nicht so treiben", sagte Kaya und blies Gis Haar, welches der Wind in ihren Mund wehte, aus selbigem. "Vater erwartet uns bestimmt nicht so schnell. Er hätte auch kein Verständnis, wenn man ein Pferd zu Grunde reitet."

Gis nahm erschrocken den Druck von des Tieres Flanken. Er musste sich beherrschen. Wie er das anstellen sollte, schien ihm allerdings rätselhaft. Natürlich schliefen sie im Haus auf engem Raum. Selbst die Zieheltern lagen nicht weit von ihnen, das hätte der verfügbare Platz nicht erlaubt. Dennoch achteten Altje und Frysunth streng darauf, dass zwischen Jungen und Mädchen eine Armlänge frei blieb. So fiel es Gis nicht schwer, die körperliche Nähe der Weiber zu meiden, wenn auch um den Preis, Tammos Schnarchen im Nacken spüren zu müssen. Auch am Tage kreuzten sich die Wege der Kinder kaum. Das ließ die harte, nach Geschlechtern verteilte Arbeit nicht zu. Und während der Mahlzeiten wurde geschwiegen. So kam es, dass Gis mit Kaya während seiner gesamten Zeit im Friesendorf kaum zehn Worte wechselte, bis zu jenem, von Altje heraufbeschworenen Moment. Der Junge hasste sie dafür, kochte innerlich vor Wut und war mehr als einmal kurz davor, dass Hexenweib auf den Waldboden zu werfen und die Flucht anzutreten. Doch seine Vernunft siegte. Er wusste, er war auf seine neue Familie angewiesen, hatte niemanden sonst auf dieser Welt. So ertrug er Kayas Nähe.

Das Pferd schritt ruhig dahin. Locker saß Gis auf dem breiten Rücken. Locker saß Kaya hinter ihm. Im Takt des Vierbeiners baumelten ihre Zehen gegen seine Fersen.

"Sei doch nicht so verkrampft", sprach Kaya weiter. "Hat sich noch nie eine Frau an dich geschmiegt?"

"Doch", antwortete Gis trotzig, auch wenn es nur seine Mutter war. Das sagte er allerdings nicht. Er sagte gar nichts mehr. Der Gedanke an die Mama trieb ihm Tränen in die Augen. Er wischte sie schnell hinweg, wollte stark erscheinen, sich keine Blöße geben, erst recht nicht vor Kaya.

"Dann zier dich nicht so." Kaya lachte, beugte sich nach vorn, griff in die Zügel und brachte die Schwarze zum Stehen. Es ging so schnell, dass Gis nichts dagegen tun konnte. Gleich darauf sprang Kaya auf den von raschelndem Laub bedeckten Waldboden, dabei sorgfältig die Zügel der Stute in der Hand haltend.

"Überrascht?", rief sie. "Ich zeig dir jetzt mal was. Wenn du mitmachst, verlieren wir nicht viel Zeit, und Vater wird dich nicht strafen."

Wohl oder übel fügte sich Gis. Das Weib hatte ihn überrumpelt. Sie war eine Hexe. Wenn es bisher noch Zweifel daran gab, so wurden diese nun komplett ausgeräumt.

"Steig ab", befahl Kaya und band die Stute an eine zitternde Esche. Fast wie ich, dachte Gis beim Blick auf den Baum, gab sich jedoch alle Mühe, Kaya aufrecht und mit festem Schritt zu folgen. Als diese jedoch ein Dickicht aus Strauchwerk auseinander schob, staunte er nicht schlecht, war seine Neugierde geweckt.

"Das ist meine Höhle. Warte hier." Kayas Worte und ihre abwehrend ausgestreckte Hand hielten Gis davon ab, der schlanken Gestalt in das dunkle Loch zu folgen. Er fand es zwar beschämend, von einem Weib kommandiert zu werden, fürchtete aber auch ihre Hexenkünste und die Dämonen, welche sie in der Dunkelheit des Erdlochs anrufen konnte. Ohnehin tauchte sie nach kurzer Zeit wieder auf, zwei Bögen in der Hand haltend.

"Wir kommen zu spät", sprach Gis aus, was sein Herz bedrückte. Gleichzeitig hingen seine grün leuchtenden Augen an den Waffen. Seit dem Schuss auf den Franken hielt er keinen Bogen mehr in der Hand. Er rang mit sich, wollte einerseits den Ziehvater nicht erzürnen, den einzigen Menschen, der wirklich zu ihm stand. Andererseits spürte er große Lust, seine Treffsicherheit zu beweisen, Kaya zu zeigen, was er konnte und damit ihre Hochachtung einzufordern.

"Natürlich kommen wir zu spät. Und du wirst die Schläge dafür einstecken, nicht wahr? Du wirst alle Schuld auf dich nehmen." Kaya lachte wieder. Was trieb sie für ein Spiel? Gis durchschaute sie nicht. Doch was waren schon Schläge? Davon hatte er genügend erhalten. Es brannte eine Weile, dann vergaß man es. Diesen Preis wollte er zahlen.

"Wenn du mich ein paar Pfeile verschießen lässt, nehme ich die Schuld auf mich", zeigte er sich denn auch stark.

"Hier ist der Bogen. Und dort ist dein Ziel. Siehst du das Astloch an der knochigen Weide?" Kaya deutete auf einen sicherlich uralten Baum, von dessen verwachsenem Stamm wohl schon vor längerer Zeit ein dicker Ast abgeschlagen wurde, eine gut sichtbare runde Narbe hinterlassend.

"Jeder drei Pfeile", gab Kaya sogleich die Regeln vor. "Wer die meisten ins Ziel bringt, darf die Schwarze zum Feld und nach Hause führen."

"So sei es", stimmte Gis siegesgewiss zu.

"Spann die Bögen und warte kurz." Kaya verschwand erneut in ihrer Höhle und kam mit sechs Pfeilen, drei weiß, drei schwarz gefiedert, wieder hervor. Die Bögen waren inzwischen schussbereit.

"Du darfst beginnen." Kulant reichte sie Gis die fein aus Esche gearbeiteten, mit einer scharfen Eisenspitze versehenen Pfeile, an deren Ende drei weiße Federn angewickelt waren. Gis ließ sich nicht weiter bitten, legte den ersten Pfeil auf, verschmolz mit dessen Spitze, lenkte Auge und bogenführende Hand exakt aufeinander abgestimmt in Richtung Ziel. Für kurze Zeit würde er dem Geschoss die Freiheit schenken, es auf leicht gekrümmter Bahn zum Astloch schicken und über den ersten Treffer triumphieren. Er lächelte. Die Sehne schnurrte. Die Pfeilspitze bohrte sich in das alte Holz.

"Treffer", jubelte Gis und sprang in die Höhe. Als er wieder auf den Füßen stand, stak ein Pfeil mit schwarzen Schaftfedern neben dem seinen.

"Treffer", sagte Kaya trocken.

Gis hatte seine beiden verbliebenen Pfeile vor sich in den Boden gesteckt. Er griff sich den Zweiten, zielte kurz und traf erneut, diesmal jedoch, ohne zu jubeln. Er wollte sich nicht wie ein Kind benehmen, nicht vor Kaya. Auch das Mädchen legte erneut an, verschmolz wie Gis mit der eisernen, wenn es sein musste todbringenden Spitze. Ein kurzer Flug und der vierte Pfeil steckte im Ziel. Gis vergaß Ziehmutter, Ziehvater, das Essen und überhaupt alles um sich herum.

"Wer einen Pfeil aus dem Ziel schießt, hat gewonnen", zischte er durch die Zähne.

"Psst", Kaya deutete auf die Lichtung. Ein Rehbock, noch nicht sehr alt, wohl ohne schlechte Erfahrung, wohl nicht allzu ängstlich, trat aus dem Schutz der Bäume.

"Der ist für den dritten Pfeil", hauchte sie tonlos. Doch Gis ließ den Bogen sinken. Du sollst nicht töten, hörte er die fast vergessene Stimme. Seine Ruhe war dahin. Er wusste, dass er zittern, das Ziel verfehlen würde.

"Du kannst nicht mal ein Reh töten", flüsterte Kaya weiter. "Du kannst nur auf Bäume schießen, du Versager."

Und obwohl sie tonlos sprach, konnte Gis ihre Verachtung so deutlich hören, als habe sie diese herausgeschrien.

"Ich tötete den Franken", gab er ebenso leise doch nicht minder bestimmt zurück. "Wenn es sein muss, kann ich alles."

"Du tötetest den Franken? Dann wirst du doch nicht bei einem Reh versagen", zischte Kaya lachend und gleichzeitig fürchtend, der Bock könne fliehen, wo ihr doch bei seinem Anblick bereits der Speichel im Munde zusammenlief. Doch ihre Wut auf den Jungen war nicht besänftigt.

„Dein Pfeil flog ins Nirgendwo. Ohne mich hätte der Kerl dich getötet. Versager!“ Kaya wollte es niemals aussprechen. Gis ließ ihr keine Wahl. Sie konnte nicht immer für ihn kämpfen.

"Ich bin kein Versager." Gis konnte sich kaum beherrschen.

„Sag, dass es nicht wahr ist.“ Seine Seele war aufgewühlt. Und dabei klang sie immer lauter, die Stimme aus seinem Innersten, die Stimme des Missionars. Du sollst nicht töten, rief sie.

„Nein“, rief er laut. Wenn es sein musste, konnte er töten. Gis war fest davon überzeugt. Und jetzt musste es sein, musste er dem Weibsbild beweisen, dass ihr Spott fehl am Platze, ihre Überheblichkeit nur Produkt ihres Neids war. Voller Wut, innerlich zerrissen, im Blick nur Pfeil und Ziel, legte er an und ließ die Sehne los, ohne Adalberts Stimme Zeit zu geben, erneut die magischen Worte auszusprechen. Das Geschoss schlug in die Brust des Tieres. Gis schrie auf.

"Sei ruhig", fauchte er seine tosende Seele an, während der verwundete Bock in Richtung Wald sprang. Du sollst nicht töten, hämmerte es hinter seinen Schläfen. Ein zweiter, schwarz befiederter Pfeil brachte das Reh endgültig zur Strecke.

"Wir haben es geschafft. Gemeinsam haben wir es geschafft", jubelte Kaya und drückte den noch immer fassungslosen Gis an sich. "Gemeinsam können wir alles schaffen."

Gis ertrug ihre Umarmung, presste sie ebenso fest an sich, wie sie sich an ihn. Sein Herz klopfte wie wild. Was machte das Weib mit seinem Körper? Was für ein Gefühl durchzog ihn von den Spitzen der Haare bis zu denen der Zehen?

„Sag, dass es nicht wahr ist“, bettelte er.

"Es ist nicht wahr. Du hast den Franken erschossen. Jetzt müssen wir aber wirklich eilen", keuchte Kaya unter der festen Umarmung. Sie kreuzte ihre Finger bei der Lüge. Rechne es mir nicht zu, bat sie ihre Göttin inständig.

"Das Reh nehmen wir auf dem Rückweg mit. Und sammle die Pfeile ein." Kaya triumphierte. Sie konnte den Kleinen formen. Und Gis fühlte sich erleichtert, tat, wie ihm geheißen. Kurze Zeit später lagen Bögen und Pfeile in ihrem Versteck, saßen der Junge und das Mädchen, der eine erste Männlichkeit fühlende Gis und die überglückliche Kaya auf der schwarzen Stute, er vorn, sie dahinter. Sie wusste, man durfte einen Mann nicht zu sehr herausfordern. Und er empfand ihre Nähe plötzlich nicht mehr bedrohend, vielmehr Begehr erweckend. Als sie ihre Zehen auf seine Fußrücken legte, ließ er sie gewähren, drückte nur leicht die Fersen in der Stute Flanken, sie zu schnellem Schritt bewegend. Doch im hintersten Winkel seiner Seele bohrte der Zweifel. Hatte er den Franken nicht doch verfehlt, erst Kayas Pfeil das Werk vollendet?

"Ihr seid spät dran", empfing sie Frysunth.

"Mutter hatte das Essen nicht eher fertig", log Gis. Und der Ziehvater glaubte ihm. Allein das Wort Mutter rührte sein Herz, zeigte es doch die Verwurzlung des Wahlsohnes in seiner Familie.

"Wenn wir Altje das Reh geben, wird sie sich sicher freuen und uns unser spätes Kommen verzeihen", versuchte Gis vordergründig Kaya, vor allem aber sich selbst zu beruhigen.

"Da wäre ich mir nicht sicher. Außerdem würde sie nachfragen, wie wir es erlegen konnten. Was willst du dann sagen? Willst du dann mein", Kaya stockte, überlegte kurz, bevor sie weitersprach, "unser Geheimnis verraten?"

Nein, das wollte Gis nicht. Doch sollten sie die Beute, die so hart erkämpfte Beute, die gegen alle seine Vorsätze und ohne Zwang getötete Beute verkommen lassen?

"Was schlägst du denn vor?", fragte er und drosselte den Schritt des Reittieres, als wolle er Kaya Zeit zum Nachdenken geben.

"Wir schenken es Tahnker." Kayas Plan schien bereits festzustehen. "Zum Dank soll er dir aus dem Fell Schuhe für den Winter machen, schöne neue Schuhe, um die dich Tammo beneiden wird."

Winter? Daran hatte Gis noch gar nicht gedacht. Ja, im Winter brauchte er warme Kleider und natürlich Schuhe. Früher sorgten seine Mutter und der Großvater dafür, dass er nicht fror. Doch die waren gestorben. Wie konnte er nur so einfach voraussetzen, dass auch Frysunth und Altje für ihn sorgten? Andererseits musste er ja auch begründen, warum gerade Tahnker ihm Schuhe schenkte.

"Und damit keiner dumme Fragen stellt, erzählen wir, du hättest während des großen Festes für Tahnker gearbeitet. Die Lüge wird keinem auffallen. Beim großen Fest besaufen sich die Erwachsenen so, dass sie fast alles vergessen. Wirst es ja bald erleben." Kaya spuckte auf den Boden. Ihr war Erntedank ein Graus. Wie konnte man sich nur so völlig unkontrolliert und wie ein kleines Kind benehmen? Sie würde wie jedes Jahr weder Met noch Bier annehmen, den Inhalt ihres Krugs wie immer unbemerkt im Erdreich versickern lassen. Und da sie bei Gis eher das Gegenteil befürchtete, schließlich waren seine Stiefbrüder das leuchtende Beispiel, wie Jungen völlig aus der Fassung geraten konnten, besonders wenn die Alten es ihnen vormachten, schien es ihr überaus willkommen, ihn von dem Fest fernzuhalten. Tahnker würde ihre List schon unterstützen.

Der Sommer wich einem goldenen Herbst. Die Striemen auf Gis Rücken, gezogen von Frysunths Gürtel, als Strafe für die Lüge, überwacht von Altjes strengem Blick, sie fürchtete nicht unbegründet, der Gatte könne zu viel Mitleid mit dem Findelkind haben, zu wenig Strenge auf seine Erziehung verwenden, jene über Tage brennenden, erst roten, später grünlich violetten Streifen waren kaum mehr zu sehen, taten längst nicht mehr weh. Weh tat allein die Erinnerung. Es waren gewiss nicht die ersten Schläge, mit denen Erwachsene versuchten, Gis zu erziehen. Es waren allerdings mit Abstand die Härtesten. Doch Gis hatte nicht geschrien, hatte Kaya gezeigt, dass er hart sein konnte. Und Kaya hatte seinen Rücken gepflegt, mit der kühlenden Salbe be-, mit sanfter Hand darüber gestrichen. Und noch etwas tat sie für ihn. Sie hielt Tammo im Zaum, den überheblichen Bruder, dem das neue Verhältnis seiner Schwester zu dem dahergelaufenen Sachsenjungen nicht verborgen blieb. Sobald er auch nur ein zündelndes Wort sagen wollte, spien ihre dunkelbraunen Augen heiße Flammen und ließen Tammo schweigen. Den Grund kannten nur die Schwester und er. Er könnte sich noch täglich dafür ohrfeigen, den nassen Fleck auf seinem Lager nicht besser verborgen, dem schwarzhaarigen Biest ein solch starkes Argument geliefert zu haben. Doch er konnte es auch nicht unterlassen. Zu stark kochten seine Hormone, auch wenn er nachher im Boden hätte versinken wollen, zumal wenn die Schwester, die diesen Augenblick zu riechen schien, ihn mal wieder beim Beseitigen der Spuren ertappte. Gis wusste davon natürlich nichts. Er hielt Kaya noch immer für verbunden mit dunklen Mächten. Allein er fürchtete das weniger, je mehr sein Körper die Berührungen der jungen Frau genoss. Und es gab jemanden, der bestärkte ihn in seinen positiven Gefühlen.

"Du hütest einen Schatz", sagte Tahnker, wenn er mit Gis über Kaya sprach. "Bewahre ihn gut."

Die neue Vertrautheit zwischen den Kindern, zwischen Gis, den Frysunth noch immer als seinen Erben ansah, der für Altje allerdings von geringem Stande war, ein Problem, welches zwischen den Eheleuten unausgesprochen aber fast täglich spürbar stand, die Vertrautheit also zwischen dem Sachsenjungen und seiner Schwester Kaya, blieb nicht lange unbemerkt. Nicht Tammo war es, der die Sinne der Stiefeltern für das wachsende Pflänzchen sensibilisierte. Er schwieg lieber, wusste er sich doch von Kaya durchschaut und erpressbar. Es war die Unbekümmertheit der beiden, die sich nicht als Bruder und Schwester, sondern als vom Schicksal zusammengeführte Leidensgenossen sahen. Mochte es anfangs angehen, dass die in Heilkunde erstaunlich erfahrene Kaya, ihre Mutter hatte ihr dieses Wissen vermittelt, sich um Gis Wunden kümmerte, so beäugte Altje die Fürsorge der Kleinen für den auf die Pueritia zusteuernden Knaben nach einiger Zeit mit großer Skepsis. Anfangs tat er ihr leid. Frysunth hatte wahrlich hart zugeschlagen, seiner Enttäuschung sichtbar Ausdruck verliehen. Später hingegen schien die Pflege der verheilten Wunden immer mehr Vorwand für eine nicht tolerable Beziehung unter Geschwistern zu sein. Und da Altje die Organisation des täglichen Lebens oblag, schickte sie ihre vier Jungs, selbst Tammo, der sich stets für etwas Besseres hielt, kam gegen ihren Befehl nicht an, zur Ernte auf die Felder, dass ihnen kaum ausreichend Gelegenheit zum Essen und Schlafen blieb. Kaya wiederum verbrachte die Zeit vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang gemeinsam mit Altjes leiblichen Töchtern beim Sammeln der reifen Früchte des Waldes, bei der Herstellung eines ausreichenden Holzvorrats für den bevorstehenden Winter und bei der Verarbeitung des Ernteguts. Wenn dann schließlich alle unter dem gemeinsamen Dach schliefen, blieb die Trennung zwischen Mann und Weib streng gewahrt. Eine Armlänge mindestens musste der Abstand betragen. So kam es, dass Kayas Höhle verwaiste, Gis die junge Frau nur mehr als Schatten in der Nacht zu Gesicht bekam, die Gefühle seines Körpers mangels Auffrischung langsam verblassten und das alte Bild der Hexe sich wieder aufdrängte, war es doch seit Generationen im Volke der Sachsen verwurzelt und unter der christlichen Missionierung mit neuer Schande belegt worden. Hexen sollten brennen, wusste Gis. Er erschrak bei diesem Gedanken. Würde auch Kaya ein solches Schicksal bevorstehen? Und was würde aus ihm, brächte man ihn mit ihr in Verbindung? Gis hatte keine Ahnung von den Anordnungen des großen Karl, des Königs der Franken, der für ihn ohnehin eine ferne abstrakte Gestalt blieb. Er wusste nicht, dass dieser bereits im Jahr von Widukinds Taufe den Hexenglauben unter Strafe gestellt hatte. Wie sollte er es auch wissen. Der Herrscher war fern und seine progressiven Ideen auch. Das Wissen der Bauernkinder beruhte vor allem auf den Erzählungen der Alten, auf dem Abschauen ihres Tuns und neuerdings auf dem Wirken christlicher Missionare, die in ihrem Denken von den progressiven Ideen ihres Königs mindestens so weit entfernt waren, wie die von ihnen Bekehrten. Und noch etwas drängte sich Gis auf, wenn er mit seinen drei Brüdern die Halme schnitt und zu Bündeln schnürte, wenn er diese auf dem nackten Rücken schleppte, das noch immer einzige in seinem Besitz befindliche Hemd schonend. Es waren Kayas Worte beim Bogenschießen, ihre Überheblichkeit und der ungeheuerliche Vorwurf, Gis hätte in höchster Gefahr das Ziel verfehlt, die ungeheuerliche Behauptung, allein durch ihr Tun wäre er noch am Leben. Die alten Gefühle ließen Gis noch schweigsamer, zurückgezogener und sogar duldsam gegenüber den Schikanen Tammos und seiner leiblichen Brüder werden. Harte Arbeit war das Los des Bauern.

Das wäre auch in seinem Heimatdorf nicht anders gewesen. Doch dort hätte er Liebe erfahren, die er im neuen Zuhause schmerzlich vermisste. Ging er Kaya deswegen ins Netz? Hatte sie deswegen leichtes Spiel mit ihren Verführungskünsten, weil er in ihr den Ersatz der Mutter sah? Kaya besaß magische Kräfte. Sie konnte ihn verzaubern. Er musste Altje dankbar sein, dass sie ihn aus dieser Abhängigkeit befreite. Gis war Altje dankbar, schuftete bis zur Erschöpfung, ersetzte Frysunth, der sich seit Tagen mit anderen Kriegern traf, dem eigenen Hof fern blieb, als Arbeitskraft ausfiel. Altje bemerkte seinen Eifer, selbst wenn ihre drei anderen Ziehsöhne nichts unversucht ließen, den ungeliebten Bruder in Misskredit zu bringen. Sie bemerkte auch, wie sich der Junge kaum mehr für Kaya interessierte.

"Arbeit ist die beste Medizin, heilt sogar verfehlte Liebe", sagte sie zu sich selbst und beschloss, dem Knaben eine Freude zu machen, ihm die Teilnahme am großen Erntedankfest zu erlauben. Als Frysunth endlich heimkehrte, unterbreitete sie den Vorschlag und fand des Gatten ungeteilten Zuspruch.

"Er arbeitet so hart, wird bestimmt einmal ein guter Bauer, ein guter Hoferbe", freute sich Frysunth, seinen lange gehegten Wunsch offen aussprechen zu können. Und Altje widersprach nicht mehr. Auch sie war von Gis Qualitäten zunehmend überzeugt, mochte vor allem nicht mehr den Hof an Odas Söhne vererben, die sich mehr durch Zänkigkeit denn durch Arbeitseifer, eher durch überhebliches Gehabe denn durch Demut auszeichneten. Sollten sie sich Odas Hof teilen. Der von Frysunth zu vererbende Besitz hatte einen würdigeren Eigentümer verdient.

Der Mond war gut am Zunehmen, würde bald seine größte Fülle erreichen. Erntedank stand unmittelbar bevor. Und wie jeden Tag stand Gis noch in der Dunkelheit auf, um mit dem ersten Tageslicht die letzten Feldfrüchte einzubringen. Wie jeden Tag nahm er sein Nahrungsbündel auf die nackte Schulter, ertasteten seine nackten Füße den Weg zum Ausgang. Leise öffnete er die hölzerne Tür. Er wollte sich das Geschimpfe der Brüder nicht anhören, die ihn einen Verräter, einen Streber nannten.

"Bleib noch. Du hast nicht mehr so viel zu tun, als dass du schon jetzt aufbrechen müsstest."

Gis erschrak. Es fiel ihm bis zu diesem Zeitpunkt nicht auf, dass Altje bereits ihr Lager verlassen, vor dem Haus bereits auf ihn gewartet hatte.

"Komm mit mir zu Tahnker. Dein Vater und er schlossen einen Handel. Du wirst dich freuen."

Altjes Worte machten Gis neugierig. Er hatte Tahnker lang nicht mehr gesehen, schon fast vergessen, dass er ihm einst den Rehbock schenkte und ein Paar Schuhe als Gegenleistung erbat. Er hatte auch Tahnkers Belehrung fast vergessen, die ihm auftrug, Kaya wie einen Schatz zu hüten. Hoffentlich fragt er nicht nach ihr, dachte Gis noch, als sie bereits vor der kleinen Hütte des Freigeists standen, dem die Frau bei der Geburt des ersten Kindes und das Kind wenig später gestorben, seither das Glück einer Familie versagt geblieben waren.

Tahnker stand bereits vor seiner Hütte, hielt ein Bündel in den Armen, welches im ersten Morgengrauen gut erkennbar war und Gis Blicke magisch anzog. Es ist bestimmt für mich, dachte er. Seit er fast alles verlor, nur die nackte Haut retten konnte, musste er sich jeden kleinen Besitz hart erarbeiten, reichte es gerade für ein Hemd und zwei Hosen. Jetzt streckte ihm Tahnker so ein großes Paket entgegen.

"Es ist für dich", sagte der bereits ergrauende, von Gestalt jedoch noch immer kräftige Mann. "Möge es dir Glück bringen, so wie mir großes Glück zu Teil, mir ein besonderer Schatz geschenkt wird."

"Nimm es ruhig", forderte Altje den zögernden, Tahnkers Worte nicht recht begreifenden Jungen auf. Es gehört dir. Von der Ziehmutter solcherart angestachelt, gab Gis seiner Neugierde nach und förderte ein fein gearbeitetes, mit Fell verziertes Hemd, eine feste lederne Hose und ein Paar Stiefel zu Tage. Was für ein Schatz, dachte er und jubelte innerlich. Äußerlich blieb er ruhig, sagte artig danke und sah erstaunt einen leichten Anflug von Trauer in Tahnkers Augen. Ärgerte sich dieser über Gis Beherrschung? War es nicht der Wunsch aller Erwachsenen, dass Kinder ihre spontanen Regungen kontrollierten?

"Es freut mich, wenn es dir gefällt. Doch eines gebe ich dir noch mit auf den Weg. Es gibt Werte im Leben, die erkennt man erst, wenn man sie verliert."

Gis runzelte die Stirn. Er verstand nicht den Sinn in Tahnkers Rede. Altje hingegen verstand ihn wohl, dankte nur kurz und drängte zum raschen Aufbruch. Keinesfalls sollte der alte Eigenbrötler ihren Sohn, wie sie Gis seit der Übereinkunft mit Frysunth in ihrer Seele nannte, mit romantischen Ideen von dem vorgezeichneten Weg zum Besitzenden, zum bedeutenden Mitglied der Dorfgemeinschaft abbringen.

Es sollte noch Stunden dauern, bis die brütende Sonne, die am Tage vor Erntedank noch einmal ihre Kraft zeigen, sich noch lang nicht dem aus weiter Ferne heranziehenden Winter beugen wollte, hinter den Bäumen verschwinden, die unerträgliche Hitze mit sich nehmen würde. Wie so oft trug Gis nichts mehr als nur den Schurz, während er die Ähren abschlug, den wenigen lauen Windstößen genug Gelegenheit gebend, die glühende Haut zu kühlen, den tropfenden Schweiß zu trocknen. Tammo, der die Halme zusammenband und an den Feldrand schleppte, konnte sich nicht vorstellen, nackt wie einer der Wilden aus den Erzählungen vom Anfang der Welt herumzulaufen. Lieber nahm er das bis zur letzten Faser durchgeschwitzte Hemd und die knöchelhoch mit Wasser gefüllten Stiefel in Kauf. Voller Ärger streifte sein Blick die beiden Brüder, welche dem Beispiel des Dahergelaufenen folgend, Hemd und Schuh ebenfalls abgestreift hatten. Er müsste mit ihnen schimpfen, sie auf ihren Stand verweisen, die Rolle des toten Vaters übernehmen. Doch Tammo fürchtete Frysunth, der ihn bei jeder Gelegenheit spüren ließ, wer der Herr war. Ein Wort zu dem verhassten Stiefvater und dieser schlüge seinen Ältesten mit harter Hand, ließe ihn spüren, dass er nur einer von vier Brüdern war, keinerlei Vorrechte besaß. Tammo verfluchte ihn dafür, verfluchte seine jüngeren Geschwister, verfluchte vor allem Gis, mit dem das ganze Übel begonnen hatte.

Frysunth saß in seinem Hause, dessen dicke Bohlen, dessen erst im letzten Jahr neu gedecktes Dach den unerträglichsten Teil der spätsommerlichen Hitze abhielten. Mit gekreuzten Beinen, die Arme vor dem nackten Oberkörper verschränkt, saß er auf einer Kuhhaut, einen Krug des frisch gebrauten Bieres neben sich. Es mundete hervorragend, würde einen guten Trunk beim großen Fest abgeben, alle Sinne in glückliche Sphären entführen. Drei Tage würden sie feiern, sich betrinken, Dinge tun, an die sie sich später besser nicht erinnern sollten, die jedoch so viel Spaß machten, dass sie die Mühsal des übrigen Jahres aufwogen. Es galt als Pflicht, sich zu betrinken. Seit alters her war es üblich, und ein Verstoß nicht zu verzeihen. Es war auch kein Privileg der Männer. Die Weibsbilder trieben es ebenso wild, und manche, die sich sehnlichst ein Kind wünschte, fand in dieser Zeit die Erfüllung ihres Wunsches. Frysunths Vorfreude wuchs von Tag zu Tag. Dieses Jahr verdiente ein besonderes Fest. Dieses Jahr nahm ihm den einzigen Sohn, doch es schenkte ihm vier neue, von denen einer sich als überaus würdiger Nachfolger erwies. Frysunth gab es nicht zu. Doch wenn er Gis mit Agur verglich, gewann ersterer. Und wenn das Glück ihnen weiter hold blieb, würde das ganze Dorf seinen angenommenen Jungen, seinen erwählten Erben akzeptieren und achten. Da konnten auch die anderen Ziehsöhne, allen voran der zänkische Tammo, nichts ändern. Und um dieses abzusichern, wollte Frysunth den Söhnen seines verstorbenen Bruders dessen Hof übergeben. Tammo schien alt genug, eine Familie zu gründen, mit seinen Brüdern das Land zu bestellen, die Tiere zu versorgen. Auf dem Fest wollte Frysunth seine Entscheidung verkünden. Und auch für Kaya war gesorgt. Für sie wäre kein Platz auf dem elterlichen Hof, sie würde nur stören, ständigen Streit verbreiten. Sie konnte auch nicht ewig bei Frysunth bleiben, schon gar nicht nachdem dieser Gis als Erben erkor. Gis brauchte eine einfache, sich unterordnende, ihren Platz kennende und widerspruchslos einnehmende Frau. Bei seiner Zukunftsaussicht musste man einen Mangel an Bewerberinnen nicht befürchten. Kaya hingegen sollte mit dem leben, dem sie besonders ähnlich war, der ihr die Freiheit gab, die sie brauchte, der ihr ausreichende materielle Sicherheit gab, der ihr handwerkliche Fähigkeiten beibringen könnte, die ihr ein eigenständiges Leben ermöglichten. Und Frysunth wusste, dass ihm sein Freund Tahnker auf ewig dankbar wäre. So erzielte er rasche Einigkeit mit Altje, seiner geliebten Ehefrau, die zwar auf eine wertvolle Arbeitskraft verzichten musste, jedoch auch eine ständige Bedrohung ihrer eigenen, für Gis weiteren Weg geschmiedeten Pläne beenden konnte. Um ein Hemd, eine Hose und ein paar Stiefel gaben sie Kaya an Tahnker. Die Verbindung der beiden sollte auf dem kommenden Fest geschlossen werden. Und während Frysunth einen kräftigen Schluck des kräftigen Trankes durch die Kehle rinnen ließ, stand sein Weib hinter ihm, massierte sie mit kräftigen Händen seine muskulösen Schultern, sein Wohlgefühl in schwindelnde Höhe treibend. Bald wuchs in beiden das Verlangen, sich ohne die Beobachtung durch die Kinder, man wusste ja nie, ob sie wirklich schliefen, aufs innigste nahe zu kommen. Heiß hämmerte die Sonne gegen das Haus. Heiß waren die Körper der Eheleute, so heiß, als trugen sie alle Sonnenstrahlen des langen Sommers in sich. Bald kannten sie nur noch einander, sahen und hörten nichts als ihr lustvolles Stöhnen, ihre animalischen Schreie. Erschöpft und glücklich lagen sie auf dem Boden. Sie sollten das Spiel der Liebe viel öfter pflegen, auch wenn es keine Leibesfrucht mehr erwecken konnte. Gis Arbeitseifer würde ihnen die nötige Freiheit schenken, ihnen viel von der Mühsal des Tages nehmen.

"Das sind die letzten Ähren. Die Speicher sind voll, die deinigen wie die deines Bruders Odas, meines Vaters." Stolz klang aus Tammos Worten und Ärger über die Bevormundung durch den Stiefvater, über die fehlende Würdigung seiner herausragenden Position, über die schmachvolle Gleichstellung mit dem dahergelaufenen Sachsenbastard, der noch immer fast nackt wie ein ungebildeter Heide umherlief, dessen schlechter Einfluss bereits auf die Brüder abfärbte. Tammo musste sich zwingen, nicht verächtlich auf den mit entblößtem Oberkörper vor ihm stehenden Stiefvater zu schauen. Fehlte es denn allen hier an Standesgefühl und Sitte? Frysunth nahm das alles wohl wahr, gab sich jedoch große Mühe, ruhig und freundlich zu wirken, auch wenn ihn der Ton reizte, er innerlich über die zwar standesgemäß wirkende, allerdings bis auf den letzten Faden durchgeschwitzte Tracht des Ziehsohnes lächelte, Tammo die eingenommene, über seine Brüder erhobene Position nicht zugestand.

"Gib deiner Schwester alles, was du auf der Haut trägst, dass sie es wasche, du in reinem Kleide auf das Fest gehen, deiner zukünftigen Würde als Herr des Odas-Hofes gerecht wirst."

Frysunths Worte ließen Tammo erst staunen, dann jubeln, innerlich nur, dafür umso heftiger. Nach außen blieb er gefasst. Zu lange staute sich Ärger in ihm, durchflutete Hass seine Gefäße, als dass er sich vor dem Onkel, dem weniger begüterten Bruder seines verehrten Vaters Odas zu überschwänglicher Äußerung seiner Gefühle hinreißen lassen wollte.

"Ich meine es ernst", sprach Frysunth weiter. "Gib deine Kleidung zum Reinigen und reinige dich auch selbst. Wir, deine Mutter", er nahm Altje, die schon einige Zeit neben ihm stand, bei der Hand, "und ich trafen gute und weitreichende Entscheidungen. Wir wollen sie in würdigem Rahmen verkünden."

Inzwischen war auch Kaya herbeigekommen, von den Worten des Stiefvaters nicht minder überrascht.

"Nun zieh dich schon aus", forderte sie so nachdrücklich, dass Tammo, noch immer unter dem freudigen Schock der großartigen Ankündigung stehend, sich des Hemds, der Hose und der Stiefel entledigte und seinen Brüdern zum nahen Waldbach folgte.

Die Abenddämmerung versprach sie, der aufkommende Wind brachte sie, die lang ersehnte Abkühlung. Die Tür des Hauses stand weit offen. Frysunth, der Hausherr, saß davor, mit seiner Familie einen Kreis bildend. Entsprechend der Aufforderung der Eltern trugen sie ihre besten Gewänder, die, welche sie für das Erntedankfest vorgesehen hatten. Nur Kaya ging wie immer in grobem Stoff und ohne Schuhe. Es war doch Sommer. Sie konnte doch die Göttin nicht durch widernatürliches Verhalten erzürnen. Lieber erzürnte sie Frysunth und Altje und Tammo. Erwartungsvoll blickten alle auf Frysunth. Er musste Großes zu sagen haben. Allein Kayas Blick wanderte in Gis Richtung. Wie lange konnte sie nicht mit ihm sein, wie lange ihn nicht mehr sprechen. Die harte Arbeit verschlang sie beide völlig. Des Nachts verfielen sie in herbeigesehnten, viel zu tiefen, weil viel zu kurzen Schlaf, getrennt durch eine hölzerne Bank, welche Frysunth zwischen den Lagern der Jungen und Mädchen und als mahnendes Zeichen aufgestellt hatte. Sie sollten sich wie Geschwister verhalten, sagte dieses Zeichen unbarmherzig. Gut sah er aus, der fremde Junge. Woher kam das mit Rehfell verzierte Hemd? Woher kam die lederne Hose? Woher kamen vor allem die guten Stiefel, mit denen so mancher Winter zu überstehen wäre? Kaya befiel eine Ahnung, eine grausame Ahnung. Gis trug doch nicht etwa die Früchte der gemeinsamen Jagd? Er sollte sie doch erst nach dem Fest erhalten, sie durch harte Arbeit auf Tahnkers kleinem Hof verdienen, auf diese Weise einen Grund haben, dem sinnlosen Besäufnis der Erwachsenen fern zu bleiben.

"Meine lieben Kinder", hob Frysunth an. "Dieses Jahr brachte Trauer, große Trauer. Es brachte auch Freude, große Freude."

Er hob den Bierkrug an die Lippen, nahm einen kräftigen Schluck, entließ die gleichzeitig eingesogene Luft mit kräftigem Geräusch und sprach weiter.

"Ich verlor erneut ein Kind, meinen geliebten Sohn. Vier von euch verloren den Vater, meinen geliebten Bruder."

Tammo räusperte sich, konnte ein zynisches Lachen nur mühevoll unterdrücken.

"Doch die Götter zeigten ihre Gunst, offenbarten sich durch ein starkes Zeichen, schenkten meinem Weibe und mir fünf starke Kinder und euch Eltern, Vater und Mutter, die euch lieben, für euch sorgen, eure Zukunft aufs Beste planen." Frysunth war es gewohnt zu sprechen. Schließlich stand er dem Dorfe vor, musste er in Streitsachen urteilen und sein Urteil eingehend begründen. Doch was er an diesem Abend zu sagen hatte, ging ihm nahe, hatte Einfluss auf das gesamte weitere Leben seiner Familie. Er nahm einen weiteren, noch tieferen Schluck, rülpste erneut und noch lauter als beim vorherigen Mal, setzte den Krug mit Bedacht ab und sprach mit Bedacht weiter.

"Auch der neue, der Christengott war uns gnädig." Er wollte den für sich wiederbelebten, den bei Gis vermuteten und von Kaya offensichtlich zur Schau gestellten alten Glauben nicht als die alleinige Wahrheit bezeichnen, die christlichen Gefühle seiner Frau und auch Tammos Gefühle nicht über Maß verletzen. "Er gab uns reiche Ernte und Frieden, hielt die Wikinger fern, bewahrte uns vor Krankheit und das Dorf vor Unglück. Wir bauten ihm eine neue Kirche. So zeigten wir unsere Ergebenheit. Und offenbar waren sich die Götter einig, uns für unser Tun zu belohnen, waren sich darin offenbar einiger als die Menschen, welche sich in ihrem Namen die Köpfe einschlagen."

Wieder blieb Frysunth der Einzige, der in seinen Worten die absolute Wahrheit sah. Doch man widersprach dem Hausherrn nicht, weil man ihn fürchtete, so wie Tammo oder weil man keinen Sinn darin sah, so wie Kaya es tat.

"Es ist an uns, die Zeichen der alten Götter richtig zu deuten und auch den Weg, den uns der Christengott weist, mit frohem Mut zu gehen. Und es ist an der Zeit, die Frucht, die mein hochverehrter Bruder Odas in seine Kinder legte, zu ernten." Frysunth blickte tief in Tammos Augen. Sah er eine kleine Träne? Gelang es ihm, das überhebliche Herz des jungen Mannes zu erreichen? Er wollte es gewinnen, ihn nicht zum Feinde haben. Er brauchte ihn als Verbündeten, wenn es zur nächsten Wahl kam. Tammo durfte dann wählen, und Frysunth wollte dessen Stimme. Er musste dafür einen hohen Preis zahlen, dem Sohn des ungeliebten Bruders den größten Hof des Dorfes überlassen, die Verhältnisse aus Odas Zeit fortschreiben. Doch das war immer noch besser, als einen Bruderzwist auszulösen, aus dem Gis, sein erwählter Erbe, als Verlierer hervorgehen würde. Und sein Blick wanderte weiter, glitt über die Gesichter von Tammos Brüdern, die sich in das Schicksal der Nachgeborenen zu fügen hatten, für die es sowohl auf dem Hofe ihres Ziehvaters, als auch auf dem von Odas hinterlassenen Hof nur die Knechtsrolle gab. An sie hatte er wenig zu verteilen. Sie müssten sich Tammo unterordnen oder fortgehen. Die Freiheit, dies zu entscheiden, wollte er ihnen zumindest einräumen. Mehr Gedanken widmete er den beiden nicht, dachte er doch bereits zu lange nach, unterbrach er seine Rede bereits zu lange, sah er bereits wieder Hass in Tammo aufkeimen. Doch bevor Frysunth weitersprach, sollten seine Augen noch die der Ziehtochter suchen. Kaya, sie war so anders, hatte im Aussehen nichts mit Odas gemein, hatte in ihrer ganzen Art nichts mit ihren Brüdern gemein, lief große Gefahr, ausgestoßen, gar als Hexe bezeichnet zu werden. Schön war sie anzusehen, fremdartig schön, so dunkel ihre Haut, so dunkel ihre Augen, so dunkel ihr Haar. War auch ihre Seele so dunkel? Odas hatte die Kleine geliebt, warum auch immer. Doch je länger Frysunth in das dunkle Braun unter den langen Wimpern blickte, desto mehr verstand er den Bruder, mit dem er ohnehin viel mehr gemeinsam hatte, als er zuzugeben bereit war. Vielleicht beruhte darauf ihre Feindschaft, auf ihrem gleichen Streben nach Macht und Einfluss? Frysunth wollte den Faden nicht weiter spinnen, nicht in diesem Moment. Kaya hielt Frysunths Blick ohne zu blinzeln stand, würde keinen Schritt zurückweichen. Frysunth wusste das und setzte seine Rede fort, weil es Zeit war, weil die anderen begannen, unruhig hin und her zu rutschen und weil er so seine von Kayas Augen abwenden konnte.

"Odas hinterließ sehr viel, drei wundervolle Söhne, eine ganz besondere Tochter", mit einem Lächeln auf den Lippen streifte Frysunths Blick erneut über Kayas Gesicht. Sie hielt ihre Augen noch immer auf ihn gerichtet, so als könne sie ihn durchschauen, könne bereits lesen, was er sagen wollte. Eine Hexe, dachte Frysunth und beglückwünschte sich erneut zu den hervorragenden Plänen, die er für Kayas Zukunft hegte. "Und Odas hinterließ einen hervorragend bestellten Hof, den ich nur vorübergehend als mein Erbe akzeptieren, den ich bald in die Hände seiner Söhne zu übergeben gedenke."

Tammos Mund stand weit offen. Die Ankündigung seines Onkels und Stiefvaters, so sehr er sie erhofft hatte, überraschte ihn doch. Niemals hätte er geglaubt, dass jemand errungenen Besitz ohne Not abgibt. Sein Vater Odas hätte so etwas niemals getan. Spott mischte sich in die Trauer, die ihn beim Gedanken an Odas befiel, Spott über Frysunth. Wie schwach musste dieser sein, sein Eigentum so leichtfertig herzugeben. Aber was sollte ihn das stören. Er profitierte von dieser Schwäche. Er wollte nicht unbedacht handeln, seinen Gewinn nicht durch falsches Verhalten gefährden.

"Ich danke euch von ganzem Herzen", versuchte Tammo, die rechten Worte zu finden. "In uns fließt gleiches Blut. Mögen wir auf ewig eine Familie sein."

"Wohl gesprochen mein Sohn", lobte Frysunth, das spöttische Zucken in Tammos Augenwinkel wohl wahrnehmend, wissend, dass er jetzt den entscheidenden Schlag setzen konnte.

"Wir sind auf ewig verbunden. Wir sind blutsverwandt. Wir werden einander beistehen bis ans Ende unserer Tage. Da jedoch meine Tage bereits fortgeschritten sind, mein eigen Werk der Nachfolge bedarf, soll der, der mir den eigenen Sohn ersetzend, die Last der Trauer tragen half, Teil dieser Familie und durch Blut für immer an uns gebunden werden."

Tammo zuckte zusammen. Sein Onkel war kein schwächlicher Spinner. Er gab ihm zwar den Hof des Vaters, raubte ihm jedoch fast die Hälfte des sicheren Erbes, nahm den Dahergelaufenen, den sächsischen Hund, den an allem Übel Schuldigen in die Erbfolge auf. Gis hingegen, den das alles angehen sollte, verstand die Sache absolut nicht, wusste nichts von der Art, Blutsverwandtschaft zu schließen, wie sie bereits die Vorväter seines Ziehvaters pflegten, mit denen sie seit jeher Kinder anderer Sippen in die ihre aufnahmen, wenn es durch Hunger oder Krieg zu einem Mangel an Nachwuchs kam.

"Gis", sprach Frysunth den Auserwählten direkt an. "An Erntedank werden sich unsere Adern kreuzen, wird unser Blut zusammenfließen, wirst du zu meinem Erben."

Gis riss die Augen weit auf. Er sollte Erbe von Frysunths Hof werden? Er sollte reich sein, in der Fremde mehr besitzen, als er zu Hause je vermocht hätte? Doch was war der Preis? Sein fragender Blick schweifte von Frysunth zu Kaya. Sie wirkte ungewöhnlich aufgerührt. Was war der Preis?

"Du Gis wirst einst mein Werk fortsetzen. Du wirst aber auch Verantwortung tragen, deine Mutter und deine Schwestern zu versorgen. Dafür werden deine Kinder in direkter Erbfolge stehen."

Tammo konnte nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken. Sein Onkel übertrug tatsächlich einen Teil des Familienbesitzes auf einen gottlosen Sachsen und dessen Brut. Und warum sah der Mann nun Kaya an? Wollte er mit ihrer Hilfe den angenommenen Sohn legitimieren? Vor Erregung drückte Tammo die Hände seiner Brüder, in deren Mitte er saß. Die beiden stöhnten auf. Sie waren einfache Bauernjungen, verstanden nichts von großer Politik. Sie würden tun, was man ihnen sagte. Nichts anderes taten sie, seit sie sich erinnern konnten.

"Und nun zu dir Kaya, meine liebe Tochter", Frysunth vermied den Kampf der Blicke, sah lieber auf ihre in der letzten Zeit gut gewachsene Weiblichkeit, welche das raue Gewand verlockend wölbte und dessen Ausschnitt einladend öffnete. "Für dich wird es Zeit, einem guten Manne nachzufolgen, seinen Hausstand zu versorgen, seinen Segen aufzunehmen und ihn mit vielen Söhnen zu beschenken."

Frysunth bemerkte nicht, wie Altje bei diesen Worten zusammenschrak, wusste sie doch nur zu genau, dass sie den Erwartungen des Gatten nicht gerecht geworden war, nicht das leistete, was eine gute Frau leisten sollte, ihm nicht die vielen Söhne schenkte, die den Bestand der Familie hätten sichern können. Altje beherrschte sich, schwieg, hatte sich damit abgefunden, dass ihr Ehemann sich nahm, was er wollte, sogar einen Sohn und Erben, den sie ihm nicht schenken konnte. Frysunth bemerkte das Nachdenken seiner Frau nicht. Seine Augen ruhten noch immer auf Kayas Brüsten. Eine Hexe, dachte er erneut. Sie wird es den Männern nicht leicht machen. Was für ein Glück, dass es einen gibt, der ihr gewachsen ist. Er riss sich los. Es wurde ihm bereits eng im Schritt. Er nahm seine Willenskraft zusammen, blickte der Tochter nun wieder direkt in die Augen.

"Du bist gut gewachsen auf dem von Odas bestellten und von mir gepflegten Acker, bist reif für die Ernte, reif dafür, einen Mann zu beglücken, der dich mit starker Hand führt und deine Weiblichkeit bewahrt. Du kennst diesen Mann. Es wird dir Ehre bereiten, dass er dich erwählte. Du wirst deiner Mutter und mir auf ewig danken, dass wir sein Werben erhörten."

Nun war es an Kaya, den Blick abzuwenden, nicht weil sie den Kampf der Blicke aufgab, einzig weil sie Gis ansehen wollte, denn niemand anders als er würde es sein, dem Frysunth sie zur Frau gab. Wäre nicht der Umstand gewesen, dass die Zieheltern und nicht sie die Wahl trafen, Kayas Glück hätte in diesem Moment keine Grenzen gekannt. Deswegen also ließ er sich die schöne Kleidung bereits vor dem Fest fertigen. Er sah wundervoll darin aus. Jede würde sie beneiden um den Mann, den man ihr zur Seite stellte, den Erben des Dorfvorstehers, Frysunths blutsverwandten Sohn. Mit Wohlgefallen erkannte Frysunth die gute Wirkung seiner Worte. Wusste Kaya schon wieder mehr, als er bis jetzt sagen konnte? Jedenfalls freute er sich, dass sie in Anbetracht des vorgesehenen Schicksals so freudig gestimmt wurde.

"Es macht mich glücklich, das Glück auf deinem Gesicht zu sehen." Frysunth vermied ab nun ebenfalls den Kampf der Blicke, wollte teilhaben an der Freude der Tochter. "Und ich bin mir sicher, du findest in Tahnker die verwandte Seele, nach der die deinige so lange suchte."

Lautes Gelächter brach aus. Alle sahen erschrocken auf Aalgaar und Uhgar, Tammos jüngere Brüder, die zwei, die nie etwas sagten, denen man Gefühlsausbrüche ebenso wenig zutraute wie einem Stein auf dem Grund des Baches. Doch die beiden klopften sich vor Lachen auf die Schenkel, konnten sich überhaupt nicht mehr beruhigen. Aalgaar verschluckte sich, begann zu husten, schien fast zu ersticken. Doch auch Tammo und Frysunth lachten nun laut, ließen sich anstecken von den beiden, deren Dasein sie bis zu diesem Moment kaum wahrnahmen. So bemerkte allein Gis, wie Kaya unter Tränen davoneilte und Altje ihr hinterher sprang. Als sich die vier vom Gelächter Überwältigten endlich beruhigten, brachte Altje die Ziehtochter bereits zurück, ihre Schulter fest umfassend, ihr damit Trost spendend, aber auch anzeigend, dass es kein Entrinnen gab. Frysunth blickte die Tochter ungläubig an. Wo blieb ihre Freude? Warum starrte sie zu Boden. Und warum fand sich diese Trauer in Gis Augen? Zornig zählte er eins und eins zusammen. Altje hatte Recht. Zwischen den Kindern bahnte sich etwas an. Zum Glück kam er dem zuvor, ehe Schreckliches daraus erwuchs. Mit wenigen Worten hob er die Runde auf, schickte er die ganze Familie in die Nachtruhe. Aalgaar und Uugaar konnten sich noch immer nicht beruhigen. Ihre ach so eigensinnige, sich niemandem beugende, auf ihre Freiheit so stolze Schwester wurde mit einem alten Mann verheiratet. Selbst wenn er ihr noch Kinder machte, würde er sie doch bald mit ihnen allein lassen. Dann wäre es völlig aus mit ihrer Überheblichkeit, müsste sie sich einen Beschützer suchen, einen Mann aus der Verwandtschaft, einen von ihnen. Der Gedanke an diese Chance ließ sie nicht los, ließ sie noch breit lächeln, als sie bereits in tiefem Schlaf lagen.

Das große Fest begann. Erntedank verdiente in diesem Jahr seinen Namen mit voller Berechtigung. Es zahlte sich aus, den alten Göttern zu huldigen. Es zahlte sich aus, darüber den neuen Gott nicht zu vergessen. Es zahlte sich die Weisheit des Vorstehers aus, der es verstand, der fränkischen Herrschaft das sichere Gefühl der Festigkeit ihrer friesischen Untertanen im neuen Glauben zu vermitteln. Die freien Bauern konnten nicht anders, als Frysunth zu loben und sich selbst zu der anfangs durchaus umstrittenen Wahl zu beglückwünschen. Sie wollten ihm sogar den außergewöhnlichen Wunsch gewähren, einen Adoptivsohn ans eigene Blut zu binden, ein Vorgehen, welches nur aus Vorzeiten und nur in Krisenjahren bekannt und so überaus ungewöhnlich war, dass es lediglich im inneren Kreis stattfinden und weder dem Herzog der Franken noch dem von ihm gesandten Seelsorger bekannt werden durfte. So trugen sie alle große Anspannung in sich, fragte sich jeder, wie Frysunth es anstellen wollte, ein sächsisches Findelkind, noch dazu ein von den Franken gejagtes, in die Dorfgemeinschaft aufzunehmen. Sie zweifelten allerdings keinen Augenblick. Frysunth, der alte Fuchs, würde auch dafür eine Lösung finden. Und als Gis kurz vor der Ankunft das Vaters Bonifatius verschwand, für den Mönch wie immer unsichtbar blieb, wussten sie, Frysunth arbeitete noch an seinem Plan. Und einige ahnten, wie dieser aussehen sollte, als der Vorsteher auf Bonifatius Frage nach dem Verbleib von Agur antwortete, dass dieser zur Ausbildung im Waffenhandwerk bei einem entfernten Verwandten weilte.

"Er macht Gis zu Agur", murmelten die, die sich für wissend hielten.

Kaya ging an der Hand ihrer Mutter, hatte sich äußerlich abgefunden mit dem zugedachten Schicksal, war nicht davongelaufen, nicht in den Brunnen, nicht mit einer Schlinge um den Hals von einem Aste gesprungen. So sehr ihr die Ungestümheit im Blute lag, so sehr zeichnete sie sich auch durch Beherrschung aus. Es brachte nichts, ohne Geld, ohne Besitz, ohne Hilfe loszuziehen. Sie konnte es nur schlechter treffen als mit Tahnker. Überhaupt, dieser Mann schien doch wie für sie gemacht, hatte den gleichen Drang zur Unangepasstheit. Er würde ihr die Freiheit lassen, die sie brauchte. Eigentlich könnte sie glücklich sein. Doch das war die Ratio, das war ihr Hirn, das war nichts. Denn ganz anders sprach ihr Herz, nein es sprach nicht, es schrie, schrie vor Schmerz. Sie war nicht nur nicht glücklich, sie war zutiefst unglücklich, dachte immer nur an den einen, an den Dahergelaufenen, an den Fremden, an den Schwächling, der nicht töten konnte, der nicht für sie kämpfte, der es widerstandslos hinnahm, als sie einem anderen versprochen wurde. Sie verzieh es ihm. Was schon können Argumente, kann das Hirn gegen das Herz ausrichten? Was kann der Verstand gegen die Liebe tun? Nichts! Es gab nur den einen, würde immer nur den einen geben. Mochte er schwach sein, in ihren Händen war er stark. Mit ihr wäre er zu dem gereift, was sie sich so wünschte, zu ihrem männlichen Ebenbild. Als er den Rehbock erlegte, zeigte sich ihre Kraft in ihm. Mit ihr konnte er alles. Ihn wollte sie, nicht Tahnker. Es war noch immer Zeit, warf sie jedes schwer erdachte Argument über den Haufen. Sie konnten noch immer fliehen. Sie hatte noch nicht bei Tahnker gelegen, noch nicht die Vereinigung vollzogen. Sie müsste sich nur heimlich davonstehlen, zu den Ställen laufen, wo Gis immer wartete, bis der Priester verschwand. Sie würden sich zwei gute Pferde nehmen. Die Welt ist so groß. Es gibt einen Platz für uns, wusste Kaya tief im inneren. Sie ging an Altjes Hand. Drückte die Mutter besonders fest oder bildete sie sich das nur ein? Konnte die Mutter ahnen, was in der Tochter vorging? Kaya flehte zu Frigga. Ihre Seele schrie heftig und laut, schrie um Erlösung, um Gnade, um Abwendung des Unabwendbaren.

"Zeige uns einen Weg, Gis und mir. Zeige uns unseren, den gemeinsamen Weg." Kayas Lippen formten die Worte. Unhörbar schwebten sie im Herbstwind, hingen sie in der warmen Luft über der duftenden Erde abgeernteter Felder, über den vielen grob gezimmerten Tischen und Bänken, welche den Festplatz übersäten, an welchen lärmende und lachende Männer und Frauen, streng getrennt nach Freien und Abhängigen, aber doch vereint im Wissen um die drei schönsten Tage des Jahres, saßen und das frisch gebraute Festbier genossen. Und wie Kayas Worte, so schwebten auch ihre Gedanken, flogen hinweg über die vielen bekannten und doch so fremden Verwandten und Nachbarn, über all die Trivialität, über Frysunth, der bereits auf einem Podest stehend, alsbald zu ihnen sprechen, über Bonifatius, der noch hinter Frysunth stehen, alsbald hervortreten und den Dankesgottesdienst abhalten würde. Das gehörte dazu. Das musste sein. Das ließe sie für eine Weile innehalten in dem, wonach ihnen der Sinn wirklich stand, nach schnellem Tanze, nach derbem Scherze, nach kräftigem Besäufnis und nach ungezügeltem Ausleben ihrer animalischen Triebe, was den Zustand allgemeiner Trunkenheit und das damit verbundene allgemeine Vergessen und Verzeihen voraussetzte. Dankbar bemerkte Kaya, dass Tahnker abseits stehend, ohne den obligatorischen mit berauschendem Trank gefüllten Tonkrug in der Hand, auf die Worte des Vorstehers wartete und hin und wieder zustimmend nickte, als Frysunth in gewählter Sprache den Spagat zwischen freiem Friesentum und ergebener Untertanenschaft als Teil des Frankenreichs schaffte. Ihre Dankbarkeit wuchs weiter, als sich Tahnker während der von Bonifatius zelebrierten Messe weiterhin abseits hielt, seinen Blick auf die uralte Eiche richtete, die dem christianisierenden Kahlschlag entging, da keiner sie öffentlich als Sitz von Göttern verehrte. Kaya jedoch wusste, aus dieser Eiche verfolgten die alten Mächte das Treiben ihrer Kinder. Und sie wusste, dass auch Tahnker das wusste. Es passte wirklich alles zusammen. Tahnker besaß alles, was sie von einem Manne wünschte. Er besaß mehr davon, als Gis, der in seinem Mute Schwankende, der so schnell Vergessende, der sie fast im Stich Lassende. Es sprach so vieles für Tahnker, so wenig für Gis. Letztlich sprach allein ihre Liebe für Gis. Und noch einmal wurde ihr bewusst, gegen die Sprache der Liebe konnte nichts ankommen, sei es noch so groß und wichtig. Frigga würde sie verstehen. Friggas langes Haar raschelte im Eichenlaub. Friggas verführerische Lippen summten das Lied der Liebe. Für Kaya laut und deutlich hörbar, schwebte es im Herbstwind, hing es in der warmen Luft über der duftenden Erde abgeernteter Felder, über den vielen grob gezimmerten Tischen und Bänken, säuselte es der jungen, vor Liebe, vor Abenteuerlust, vor Freiheitssehnsucht tollen Frau einen Plan ins Ohr, einen Plan direkt in die schmachtende Seele.

"Verzeih mir, lieber Tahnker", formten Kayas Lippen und Frigga lächelte dazu.

Gis saß zwischen seines Vaters, jedenfalls seines Ziehvaters Pferden. Sie kannten ihn gut. Sie vertrauten ihm. Selbst die Schwarze, der er doch den Herrn nahm, die er durch Mord für sich nahm, die er gar für schwere bäuerliche Arbeit in Beschlag nahm - andernfalls hätte Frysunth das Bleiben des Tieres nicht geduldet, denn nur wer arbeitete, durfte auch essen - schenkte ihm große Zuneigung, schien die Liebe zu spüren, die er für sie im Herzen trug. Für sie hatte er gemordet, einen Menschen getötet. Gis unterbrach seine Gedanken. Er tötete den Franken, weil dieser ihn töten wollte. Die Liebe zur Schwarzen kam erst später. Er wollte wenigstens zu sich selbst ehrlich sein. Dazu gehörte auch, dass er wegen einer Frau tötete, die Trophäe seiner Tat als Kleidung trug. Kaya hatte ihn dafür fragend angesehen, Kaya, der er schon so nahe war und von der er sich wieder so weit entfernte. Kaya, die ihn herausforderte, ihn zum Äußersten trieb, für die er tötete und die er unter der Last des Täglichen zurückstieß in die Masse der anderen, in die Vielzahl derer, bei denen er lebte, ohne einer der ihren zu sein. Gis saß noch immer auf dem Boden. Seine Zehen, wie selbstverständlich trug er wieder die einfache bäuerliche Kleidung, er durfte ja nicht mit auf das Fest, spielten mit dem duftenden Heu. Er konnte sie nicht still halten, war zu aufgeregt, wenn er an das dachte, was verging, noch mehr jedoch, wenn er daran dachte, was kommen könnte. Sein staubüberzogenes Gesicht verbarg sich in den schmutzigen Händen. Tropfen bahnten sich den Weg durch Staub und Schmutz, kamen aus grünen Augen, wuschen kleine Straßen frei. Er dachte an seine Sippe. Er sollte dazugehören, sollte in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen werden, sollte kein Kind mehr sein. Die Götter sollten ihn den Männern seiner Sippe gleich erachten. Dafür trug er die alten Symbole auf der Haut. Dafür überwand er das Wasser des Flusses, seines Flusses, an dem sein Dorf lag.

"Warum nahmt ihr mir das alles", rief Gis in das flaue Licht des Stalls. Der umherwabernde Staub wirbelte durcheinander. Durcheinandergewirbelt wie mein Leben, dachte Gis bei diesem Bild. Warum durfte er überhaupt leben, wo alle anderen starben, der Vater so früh, Mutter und Großvater ebenfalls weit vor der Zeit?

"Was habt ihr mit mir vor?" Er achtete die Gefahr der Entdeckung nicht, schrie laut. Die Götter sollten ihn hören, Wodan sollte ihn hören, Saxnot sich seiner erbarmen. Und kam da nicht eine Antwort? War da nicht mehr als das Schnauben der Pferde.

"Die Götter sind mit den Starken." Gis vernahm es ganz deutlich. Und er hörte seinen Namen, nicht den, den ihm Adalbert anhängte, den, den er von seinem Großvater bekam, Gis, der Pfeil.

"Ein Pfeil ist nur im Fluge frei."

War es Saxnot, der zu ihm sprach? Musste alles so kommen, damit er seinem Namen gerecht wurde? Durfte er sich nicht an Vergehendes binden? Sollte er die Knechtschaft abwerfen? Dann durfte er auch nicht unter neuer Knechtschaft leben. Dann musste er auch die neue, aus Not heraus angenommene Heimat verlassen. Musste er aus diesem Grunde Kaya vergessen, weil er frei sein und die seinen aus Knechtschaft befreien sollte? Doch die seinen waren tot. Wen sollte er befreien, die Friesen oder nur sich selbst?

"Antworte doch", flehte er, während die Pferde ihn fragend ansahen. Lag die Antwort so nahe, dass alle, selbst die Pferde sie kannten, nur er, Gis, sie nicht vernahm? Es war an der Zeit aufzubrechen, nicht alte durch neue Knechtschaft zu ersetzen. Aus seinem Dorf wurde er vertrieben, die in der Unterdrückung liegende Geborgenheit wurde ihm gewaltsam genommen. Er durfte nicht wieder darauf warten, dass die Götter ihn zwangen, seinen Weg zu gehen, durfte nicht wieder so viele Leben gefährden. Er musste aufbrechen und frei sein. Seine Augen trafen die der Schwarzen. Stehen nicht die Pferde den Göttern am nächsten, fragte Gis sich selbst und das Pferd. Und das Pferd sah ihn ruhig an, ließ Ruhe in die aufgewühlte Seele des Jungen einkehren. Er wollte aufbrechen, wollte seine neuen Kleider packen, sich auf seine Stute schwingen und in die Welt ziehen. Er wollte es nicht gleich tun. Auch bei diesem Gedanken blickte ihn das Pferd ruhig an, als bestätigte es seinen Plan. Er wollte erst den Winter vergehen lassen. Mit der Kraft des Frühlings wollte er sich auf den Weg machen. Gis stand auf, drückte sein Gesicht in das weiche schwarze Fell, strich mit der Rechten über die lange schwarze Mähne, umfasste mit der Linken den kräftigen schwarzen Hals. Endlich wusste er, was er wollte.

"Ich nenne dich Alitiksok, Taube. Mit dir werde ich davonfliegen." Gis sprach die Worte leise. Er musste lernen, sich zu beherrschen, musste lernen, vorsichtig und verschlagen zu sein. Er würde auch töten müssen. Er würde es tun, für die Freiheit, so wie er es für sich, für sein Leben, so wie er es für Kaya, die er einst meinte zu lieben, tat. Fest drückte er den schwarzen Hals. Pferde sind den Göttern so nah. Er war den Göttern so nah. Auf Alitiksok könnte er bis zu ihnen fliegen. Und doch hallte diese Stimme in ihm, die Stimme Adalberts, die Stimme, die Gis mit dem neuen Gott assoziierte. Du sollst nicht töten, rief sie in seine Seele, in sein Denken, in die ganze Welt.

"Schweig", schrie Gis. Alitiksok sprang erschrocken zur Seite. Wollte sie ihn nicht bestätigen? War es nicht der Ruf seiner Götter, der Aufruf Wodans und Saxnots, die ihn aufforderten zu kämpfen? Und bedeutete Kampf nicht immer auch Tod?

"Gib mir ein Zeichen Wodan. Sag, was ich tun soll Saxnot." Es war ein jämmerlicher, ein klagender, ein verzweifelter Ruf eines an der Grenze zum Mann stehenden Jungen, der alles verlor, was seine Welt ausmachte, der nichts als sein Leben rettend, eine neue Bleibe fand, eine neue Familie fand, der dennoch nicht zu ihnen gehörte, der sich im Stall verstecken musste, während sie feierten. Wie sollte er das Werk des Ziehvaters denn fortsetzen, wenn er keinerlei Kontakt zu Fremden haben durfte? Angestrengt dachte Gis nach. Frysunth würde ihn reich machen. Er zweifelte keinen Augenblick am Wort des Ziehvaters. Wenn er ginge, gäbe er das alles auf, gewänne jedoch die Freiheit zurück, das höchste Gut eines Sachsen. Und er müsste es nicht ertragen, Kaya in den Armen eines anderen zu sehen. Er gestand es sich nicht ein, dass seine Seele nach der dunklen Schönheit schmachtete, dass er durch Gleichgültigkeit, durch Gefangenschaft in sich selbst die Chance verstreichen, die Frau, die wirkliches Interesse an ihm zeigte, so ohne jeden Widerstand ziehen ließ. Sollten sie nicht besser gemeinsam fliehen, jetzt, sofort, unabhängig von Jahreszeit und Vorbereitung? Und ohne es zu wollen, formte Gis Seele das eine Wort, öffnete die Seele seinen Mund, warf die Seele diesen einen Namen gegen die Stallwände, zwischen die glänzenden Pferdeleiber, getragen von der erzitternden, staubgeschwängerten Luft.

"Kaya", schallte es so laut, dass es selbst in Walhall nicht überhört werden konnte.

Kaya erschrak, duckte sich hinter die braune Stute, die sie für ihren Plan auserkoren hatte. Woher wusste Gis, dass sie kam? Er konnte sie doch noch gar nicht sehen. Hatten noch andere ihr Gehen bemerkt, beobachtet, wie sie ihr Bündel nahm, sich zum Stall schlich?

"Ganz ruhig meine Freundin", flüsterte Kaya der tänzelnden Stute ins Ohr. "Bald bis du frei. Bald sind wir frei."

"Kaya?" Gis traute seinen Ohren nicht. War sie wirklich gekommen? Das musste das Zeichen sein. Erwartungsvoll sah er sich um. Stand Saxnot hinter ihm? Es war nur die Schwarze, Alitiksok, sein Pferd. Pferde sind den Göttern nah, dachte er und wusste, die Götter gaben das Zeichen, nach dem er schrie. Es gab kein Zurück mehr.

"Sei still", fauchte Kaya und holte Gis in die Gegenwart zurück. Des Jungen Unbedachtheit ärgerte sie. Worauf ließ sie sich nur ein? Sie floh mit einem Kind, musste nicht nur auf sich, sondern auch noch auf dieses unbeherrschte Wesen achten. Doch dieses Wesen liebte sie. Er war nicht wie Tahnker, doch er konnte so werden, konnte noch viel mehr werden. Sie würde ihn formen, Gis, ihren Mann. Sie hatte nachgefragt, sich erkundigt, von Eludin, dem Knecht, dem im Sachsenland Geborenen, erfahren, was die Symbole auf Gis Körper bedeuteten, dass er nicht mehr als Kind galt, eine Familie gründen, seine eigenen Entscheidungen treffen durfte. In ihren Augen kam das zu früh. Doch es gab wohl Gründe, die sie nicht kannte. Auch Eludin konnte nur Vermutungen anstellen, meinte, Gis Eltern hätten alles nur symbolisch gemeint, den Weg des Kindes in die Hände ihrer heimischen Götter gegeben, ihn dem Christengotte und seinen Missionaren entziehen wollen, was sich dann ja auch als große Sünde erwies und grausame Strafe fand. So jedenfalls deutete Eludin Gis seltene Berichte über seine Vergangenheit. Der Knecht selbst war mit ganzer Seele konvertiert, hatte die Taufe mit jeder Faser seines Körpers angenommen, konnte in den heidnischen Bräuchen seiner ehemaligen Landsleute nur noch Teufelswerk sehen. Kaya hingegen sah, die Götter der Sachsen und ihre Götter ähnelten sich in so vielem, hatten verwandte Namen, wohnten im gleichen Hause. Für sie war Gis vor den sächsischen Göttern zum Manne geworden. Sie würde ihn vor Frigga zum Manne nehmen und mit ihm in die Welt gehen, mit ihm und als seine Frau leben.

"Nimm die Schwarze und folge mir." Kayas Worte erlaubten keinen Widerspruch.

"Sie heißt Alitiksok", wagte Gis lediglich zu sagen.

"Also nimm Alitiksok und komm. Wir haben nicht ewig Zeit."

Gis wusste, die Götter führten ihn, führten sie beide, hatten entschieden. Er würde ihrem Rat folgen. Es musste gut werden.

Die Geräusche des großen Festes prallten laut gegen die Ohren der Flüchtenden. Es gab wohl niemanden mehr, der noch nüchtern, kaum einen, der noch Herr seiner Sinne war. Es gab keine bessere Gelegenheit, den Plan zur Flucht auszuführen. Zielstrebig schritt Kaya voran, die braune Stute an der Hand führend. Sie hatte ein Ziel, ihr erstes und letztes konkretes Ziel. An der Esche angekommen, band sie die Stute fest und forderte Gis auf, gleiches zu tun. Das ganze Dorf befand sich im Stadium der Agonie. Kaya wusste das. Es war jedes Jahr dasselbe. Erntedank begann mit Reden und endete mit völliger Trunkenheit. Niemand würde kommen. Sie konnte es hier tun. Am Beginn ihrer Flucht konnte sie Hochzeit mit Gis feiern. Ab diesem Moment wären sie unzertrennlich. Kaya wusste von der alten Skroba, was sich zwischen Mann und Frau tat, beobachtete die Zieheltern mit ganz anderen Augen, nachdem ihr die sowohl als Heilkundige als auch als Hexe angesehene Frau das Geheimnis der Vereinigung offenbart hatte. Für einen kurzen Moment bedauerte sie, nicht noch viel mehr von der Alten gelernt, nicht noch viel tiefer in das Wissen um den Kreislauf des Lebens, um Krankheit, Gesundheit, Heilkunst und Magie eingedrungen zu sein. Doch dafür blieb keine Zeit. In spätestens zwei Tagen wäre sie Tahnkers Frau. Sie musste heute den anderen, den einen nehmen, wollte sie ihn nicht auf ewig verlieren.

"Zieh dich aus", befahl sie Gis, blickte ihm tief in die Augen und begann auch selbst, die Kleider abzulegen. Gis Körper wogte. Er hatte Ähnliches schon einmal gespürt. Schon einmal hatte Kaya ihm unbekannte Gefühle geweckt. Damals vergingen sie wieder. Diesmal wollte er alles dafür geben, dass sie ewig blieben. So tat er, wie sie ihm befahl. Bald standen sie nackt voreinander, musterten einander von Kopf bis Fuß, sahen die Veränderungen am Körper des Gegenübers, mussten sich von einer inneren Stimme getrieben erst zögerlich, dann umso intensiver berühren, erst auf Abstand, dann bis zum Aneinanderschmiegen ihrer Körper zusammentreten. Kaya spürte, wie sich ihre Brüste strafften, wie sie nach Gis Händen, nach seinem festen Griff gierten. Noch fester, wollte sie rufen. Er schien sie ohne Worte zu verstehen. Sie schlangen die Arme umeinander. Kayas Schoß trieb Gis Männlichkeit fast zur Verzweiflung. Doch zunächst suchte ihr Mund den seinen, ihre Zunge die seine. Er konnte nichts bestimmen, wusste nicht, was kommen würde, wusste nur, dass es wunderschön sein würde, dass er es immer wieder würde spüren wollen, dass er mit dieser Frau auf ewig vereint sein musste. Kaya drückte ihn zu Boden, setzte sich auf ihn wie auf ein junges Fohlen, ganz vorsichtig, sich abstützend, die eigene Last ausbalancierend. Sie zeigte ihm den Weg und er folgte ihr. Aus dem Fohlen wurde ein Pferd, ein galoppierendes, schäumendes, rasendes Pferd. Kaya schrie, als sie spürte, was sie noch nie spürte. Gis bäumte sich, als er spürte, was er noch nie spürte. Aus zweien wurde eins, aus einem Jungen und einem Mädchen wurden Mann und Frau. Noch immer heftig atmend, legte Kaya ihr von wild verklebtem Haar gesäumtes Gesicht auf Gis schwitzende Brust. Laut schlug sein Herz, heftig ging sein Atem. Er schlang die Arme um den dampfenden Körper dieser, seiner Frau. Alles verstummte. Es gab nur sie beide. Saxnot und Frigga wurden in ihnen zum Mensch. Nichts konnte sie je wieder trennen.

Es war Zeit zum Aufbruch. Sie mussten ein gutes Stück Wegs zwischen sich und das Dorf bringen, bevor man ihr Fehlen bemerkte. Nur noch einen Augenblick, dachte Kaya. Einen kleinen Augenblick noch wollte sie die Augen geschlossen halten, nichts als Gis Atem hören, nichts als seinen Herzschlag spüren. Nur noch einen Augenblick, dachte Gis, während seine Lippen die ihren suchten. Es gab nichts außer ihnen beiden. Sie schwebten frei im Raum. Sie waren Götter.

"Hure!"

Kaya wollte schreien. Kräftige Finger zogen an ihrem Haar. Gleichzeitig drückte sich eine scharfe Klinge gegen ihre Kehle, ließ jeden Laut in selbiger ersticken. Vier Männerhände griffen ihre Arme, zwangen die fast Wahnsinnige auf die Knie. Sie hatte verloren. Es blieb ihr nur der Tod. Sie versuchte, ihre Kehle an dem kalten Eisen zu eröffnen. Doch der Dolch wurde so weit weggezogen, dass sie ihn nicht erreichen konnte.

"Dreh dich auf den Bauch", fauchte Tammo und stieß Gis mit dem Stiefel in die Flanke, "sonst stirbt sie."

"Besser …", Tammos Faust ließ Kaya verstummen. Nein, er wollte das nicht hören. Natürlich wäre es für die Schwester besser gewesen, tot statt versklavt zu sein. Allein sie hatte das nicht zu entscheiden. Sie würde ab sofort tun, was man ihr befahl, was er, Tammo, ihr befahl. Und Gis, kaum Herr seiner Sinne, voller Scham und voller Zorn über sich selbst, befolgte Tammos Anweisung, wollte nichts als Kayas Leben retten, am besten selbst sterben. Tammo nutzte den Überraschungseffekt und band Gis Hände fest aneinander.

"Hoch mit dir!" Er zog ihn an der Fessel nach oben, bis er auf seinen zitternden Beinen stand.

"Mitkommen!"

Gis Handgelenke schmerzten, noch mehr schmerzte seine verwundete Seele, die Scham der Unterlegenheit.

"Wird’s bald", Tammo zog kräftig an Gis Fessel, zwang ihn, unter einen starken Ast.

"Besser du tust, was ich sage, wenn du nicht ihr Mörder sein willst", fauchte Kayas ältester Bruder dabei und wies mit dem Dolch auf seine vor Wut fast platzende, von Aalgaar und Uugaar in sicherem Griff gehaltene Schwester. Und Gis tat, was Tammo sagte, stand demütig unter dem starken Ast, über den Tammo das Ende der Fesselleine warf, es wenig später straff zog, was Gis auf die Zehenspitzen zwang. Tammo verschnürte das Seil an der starken Eiche, eröffnete dem Gefesselten keinerlei Chance zum Widerstand.

"So, der Mistkerl kommt uns nicht mehr in die Quere." Tammo schnaubte die Worte heraus. All die aufgestaute Wut, all die bitter empfundenen Kränkungen brachen sich Bahn.

"Und nun zu dir Schwesterlein oder besser Hexe oder gar Hure", Tammo lachte dreckig, als er einen weiteren Strick aus seiner Gürteltasche zog.

"Biegt ihr die Arme auf den Rücken."

Aalgaar und Uugaar drückten heftiger und zwangen Kayas Hände auf deren Rücken. Sie bäumte sich auf, versuchte, die Peiniger abzuschütteln. Es gelang ihr nicht.

"Ihr Schweine, Frigga wird euch strafen", schrie sie und wusste doch, sie hatte keine Chance gegen die Übermacht. Und je fester sich der Strick um ihre Handgelenke legte, umso geringer wurde ihr Widerstand. Schließlich kniete sie stumm und mit gesenktem Kopf auf dem duftenden Waldboden. Sie wollte ihre Gedanken sammeln, sich konzentrieren, nicht mit Kraft, sondern mit Kopf vorgehen. Die Brüder würden nicht wagen, sie zu töten. Für Gis hingegen musste man mit dem Schlimmsten rechnen. Auch für ihn gab sie ihren Widerstand auf, vorläufig.

"Ihr dachtet wohl, es merkt keiner, dachtet wohl, ihr könntet Vater hintergehen." Tammo spuckte auf den Boden, direkt neben Kaya.

"Ihr werdet lernen, was es heißt, sich gegen den älteren Bruder aufzulehnen. Gott wird euch zeigen, dass man ihn nicht ungestraft verleugnet. Und ich bin sein Werkzeug." Tammos Augen wanderten von Kaya zu Gis und zurück. Er genoss ihre Hilflosigkeit. Was schlich sich der Sachsenbastard auch in ihr Leben. Schuldig ist der Kerl, schuldig am Tode des Vaters, schuldig an der falschen Entscheidung des Ziehvaters. Fast hätte er Tammos Erbe geraubt. Doch daraus wurde nichts. Brennende Genugtuung erfüllte Tammos Seele, wuchs beim Anblick der gedemütigten Schwester, die sich so schändlich ihm gegenüber vergangen hatte, ihn erpresste mit einem Geheimnis, das sie nie hätte erfahren dürfen. Seine Rache war noch nicht zu Ende, sie fing erst an.

"Mach Feuer", befahl er Uugaar. Alles schien abgesprochen. Kaya verstand, ihre Brüder nutzen dies eine Mal das Fest nicht, sich zu betrinken, lauerten die ganze Zeit, ihr eine Falle zu stellen, beobachteten offenbar, wohin es sie zog. Alles ging viel zu schnell, als dass eine spontane Idee dahinter stecken konnte. Alles war zu gut vorbereitet.

"Hast du kein Mitleid?", fragte Kaya Aalgaar, der sie noch immer im festen Griff hielt.

"Maul halten", fauchte der Bruder sie an. Er befolgte nur Tammos Befehle, fühlte sich selbst unsicher, wollte diese Schwäche jedoch keinesfalls zeigen. Inzwischen flackerte das Feuer hell. Die züngelnden Flammen versprachen nichts Gutes. Gis konnte seinen Blick nicht von ihnen wenden. Was werden sie uns antun, fragte er sich die ganze Zeit und beschwor sich, alles auszuhalten, um zumindest Kayas Leben zu retten. Er musste nicht allzu lang in Ungewissheit verbleiben. Kaum dass Uugaar das Feuer kräftig entfacht hatte, zog Tammo ein Brandeisen hervor. Kalt und schwarz und bedrohlich sah es aus. Er hielt es direkt vor Gis Gesicht.

"Erkennst du das Zeichen?", fragte er höhnisch. Gis erkannte es sofort. Es war das Zeichen des Odas-Hofes. Er zuckte zusammen, als Tammo das noch kalte Eisen gegen seine Brust drückte. Er wird es nicht tun, sagte Gis immer wieder zu sich selbst, sagte es auch noch, als das Eisen bereits im Feuer lag, als es bereits glühte, als Tammo es erneut nahm und ihm unter die Nase hielt.

"Du kamst gezeichnet zu uns, gezeichnet sollst du uns verlassen."

Ein markerschütternder Schrei folgte Tammos Worten. Er hatte es getan, hatte das glühende Eisen fest auf Gis nackte Brust gepresst. Dampf stieg auf. Es roch nach verbranntem Fleisch. Kaya stieß ihren Kopf in Aalgaars Flanke, brachte ihn fast zu Fall, aber nur fast. Er hielt sich noch eben auf den Beinen und die Schwester anschließend in noch festerem Griff.

"Willst du auch?", fragte Tammo in Kayas Richtung. Und zum ersten Mal sah er Demut in ihren Augen, als sie langsam den Kopf schüttelnd ein "Nein" hauchte.

"Das nenn ich Bekehrung." Tammo schien über Kayas Reaktion ziemlich erfreut.

"Du wirst es nicht bereuen, deine Schönheit erhalten zu haben. Tahnker soll dich ja nicht verstoßen. Doch zuvor verstoßen wir den Bastard."

Wieder schien alles abgesprochen, als Uugaar ohne weitere Worte des Bruders Gis Pferd herbeiführte.

"Jeder wird glauben, er ist abgehauen", lachte Tammo, ging, das noch glühende Eisen in der Hand haltend, zu Alitiksok und brannte das Zeichen über das des Herzogs.

„Sollst jedermann als gestohlen auffallen. Keiner wird dich kaufen, so sehr dein Herr auch darum bittet“, sagte er dabei. Dann wendete er sich an seine Brüder.

"Legt ihm den Schurz an“, befahl er ihnen.

„Soll gehen, wie er kam, fast nackt und gezeichnet. Und du", Tammo drehte sich in Kayas Richtung, "wirst über alles schweigen, wenn dir sein Leben lieb ist. Mit unserem Zeichen wird man ihn im ganzen Lande finden und als den Sachsenmörder erkennen. Ich muss nur den Herzog informieren."

"Das wirst du nicht tun. Und gib ihm seine Kleider. Dann kannst du alles von mir verlangen."

"Nun gut, liebes Schwesterlein, diesen Preis bin ich bereit zu zahlen", beantwortete Tammo Kayas Bitte. Er schien auch darauf vorbereitet, musste das Bündel nur aus einem Gebüsch ziehen. Alles ist durchdacht, verstanden Gis und Kaya gleichzeitig. Der Junge ist weg, sein Pferd ist weg, seine neuen Kleider sind weg. Der ist abgehauen, würde für alle feststehen. Sie würden anfangs über den Grund rätseln, sich vermutlich erinnern Gis und Kaya in trauter Einheit gesehen zu haben, verschmähte Liebe annehmen und Gis Reaktion verstehen. Und wahrscheinlich wären viele, fast alle, froh über diese Wendung, alle bis auf Frysunth. Doch auch Frysunth würde die Wahrheit nicht erfahren, von wem auch. Gis durfte nie wieder auftauchen, wollte er Kaya nicht gefährden. Kaya musste schweigen, wollte sie Gis nicht gefährden. So stieg Gis auf sein Pferd, die Hände noch immer gebunden. Vor ihm verschnürten sie seine Kleider, unter Alitiksoks Bauch seine Füße. Die festen Stricke schnitten schmerzhaft in sein Fleisch. Schmerzhafter brannte die Wunde auf seiner Brust. Er nahm das alles nicht wahr. Der Schmerz seines Herzens war so viel stärker. Tammo gab Alitiksok einen Schlag. Die Stute galoppierte los, nahm Gis mit sich und ließ Kaya verzweifelt zurück.

"Wir sehen uns …", weiter kam sie nicht. Tammo drückte einen hölzernen Knebel in den Mund der Schwester, ließ sie nicht aussprechen, was sie Gis so gern mit auf den Weg gegeben hätte. So vieles gab es zu sagen. Sie würde ihn finden, egal wohin es ihn auch verschlüge. Sie wollte ihm das nachrufen. Doch sie konnte nur noch erstickte Töne hervorbringen, während Tammo sie vorwärts in Richtung des Dorfes stieß.

"Wir bringen dich zu dem, dem du versprochen bist", sagte er, während er Kaya zu Tahnkers Hütte stieß.

"Wird der kleinen Hure bestimmt Spaß machen, wenn sich ihr zukünftiger Herr bereits vor der Hochzeit mit ihr vergnügt. Doch ich will sicher sein, dass sie sich fügt", sprach er seinen Brüdern zugewandt weiter.

Kaum in Tahnkers Hütte angekommen, warf Tammo die Schwester auf das mit Fellen bedeckte Podest, welches dem Hausherrn als Schlafstatt diente. Er rechnete dabei nicht mit Kayas Kampfeswillen. Trotz gefesselter Hände richtete sie sich wieder auf, rammte ihren Kopf in seine Weichteile, ließ schrecklichen Schmerz durch seinen Körper rasen. Doch auch Tammo war kräftig und im Kampf geübt. Sein Faustschlag, ein unkontrollierter Reflex, antrainiert in vielen Auseinandersetzungen mit anderen Halbstarken, streckte Kaya nieder. Als sie wieder erwachte, waren ihre Hände und Füße an den Bettpfosten festgebunden. Sie konnte sich mühen, wie sie wollte. Es gab kein Entrinnen, auch dann nicht, als Aalgaar und Uugaar Tahnker herbeischleppten, der viel mehr als üblich getrunken, seinen Verstand weitgehend verloren hatte. Er wusste nicht so recht, was er von der Szene halten sollte, kapierte nicht, warum Kaya nackt auf seinem Bett lag, reagierte unterbewusst, animalisch, von Kayas Brüdern bedrängt.

"Siehst du nicht, wie sie dich will?"

"Weißt du nicht, wie ein Mann eine läufige Frau nehmen muss?"

"Nun zieh schon die Hose aus, bevor dein Stecken bricht."

Aalgaar, Uugaar und Tammo sprachen nacheinander auf Tahnker ein, bis er mit heruntergelassener Hose zu Kaya stieg und den Akt vollzog, den man offensichtlich von ihm erwartete. Kaya konnte nur schluchzen, war dem schändlichen Treiben ausgeliefert, sagte sich immer wieder, dass das nicht Tahnker sei, der sie solchermaßen demütigte, dass er nicht Herr seiner Sinne, dass alles das schändliche Werk ihrer Brüder sei. Und sie wusste, es würde eines Tages Sühne geben. Sie würde warten, nicht eilen, aber auch niemals vergessen. Tahnker war in alle Ewigkeit an sie gebunden. Er hatte ihr Gewalt angetan. Sobald er wieder denken, sein begangenes Unrecht erkennen könnte, wäre er ihr Sklave. Die Brüder hingegen mochten augenblicklich frohlocken. Ihrer Strafe könnten sie nicht entgehen. Wenn Gis erst zurückkäme, müssten sie um ihr Leben bangen. Kaya dachte fest an Frigga, ihre Göttin, die das alles nicht verhindern konnte, sie aber in ihrem Kampf unterstützen würde.

"Wir kämpfen gemeinsam", flüsterte sie in den Knebel, als sie Tahnkers Wärme in ihrer Mitte spürte, als sein nach Bier stinkender Kopf auf ihre Brust sank, als er seinen Rausch auf ihrem nackten Körper ausschlief. Kaya schlief nicht. Gedanken des Zorns, Gedanken der Rache wühlten in ihrem Kopf.

"Du wirst keinem erzählen, was geschah", raunte ihr Tammo ins Ohr, "sonst wirst nicht nur du, werden auch Gis, der Mörder, und Frysunth, der den Mörder versteckte, schlimmen Schaden nehmen. Hör zu, wenn ich mit Tahnker spreche, und merk dir jedes Wort. Denn nur das ist die Wahrheit. Und nichts anderes sollst du zukünftig sagen, als die Wahrheit." Eine Ohrfeige unterstrich die Ernsthaftigkeit von Tammos Worten.

"Verstanden?" Wissend, dass die Schwester ihn verstand, auch wenn sie nur minimal nickte, nahm er den Knebel aus ihrem Mund und ging zu Aalgaar und Uugaar, während Kaya sich die schrecklichsten Strafen ausmalte. Sie schwieg dabei, sprach nur innerlich und mit sich selbst, forderte sich zur Geduld auf, kämpfte gegen Todessehnsucht und für das Weiterleben, gegen voreilige Entscheidungen und für das geduldige Warten auf den richtigen Zeitpunkt, Vergeltung zu üben. Sie atmete schwer, während Tahnker auf ihr lag, ihre Brüder auf dem Boden sitzend, mit dem Rücken an der Wand lehnend, der anstrengenden Vorbereitung ihrer Schandtat Tribut zollend, in traumlosen Schlaf fielen.

Ein gellender Schrei entfuhr Tahnkers Mund, als er erwachend erkannte, was er im Vollrausch getrieben hatte. Die Szene war zu eindeutig.

"Du raubtest die Ehre unserer Schwester, nahmst sie mit Gewalt und noch vor der Hochzeit, noch bevor Frysunth, unser Vater, sie dir übergab." Tammo, von Tahnkers Schrei aus dem Schlaf gerissen, folgte zielgerichtet seinem Plan. Die Schwester käme ihm nie wieder in die Quere, und Tahnker, der beste Aussichten hatte, Frysunth in der Vorsteherschaft nachzufolgen, stünde auf ewig in seiner Schuld. Dann war der Weg frei, vom großen zum allergrößten Bauern aufzusteigen, neben dem des Vaters auch Frysunths Hof zu übernehmen und ihm in der Vorsteherschaft nachzufolgen.

"Was tat ich nur?" Voller Abscheu vor sich selbst stand Tahnker auf, bedeckte seine Blöße, sah Tammo fragend an und vermied krampfhaft, in Kayas Richtung zu blicken.

"Du hast dich betrunken und das dir versprochene Weib mit Gewalt genommen. Wir bemerkten es zu spät, fanden euch erst, als du am Höhepunkt standst." Tammo wollte weiteren Fragen Tahnkers zuvorkommen, nicht erklären müssen, warum er der Schwester nicht beigestanden hatte.

"Wir hätten dich von ihr reißen, unsere Dolche in deinen brünstigen Leib stoßen können. Doch es war zu spät." Tammos Unschuldsmiene ließ die Lüge wie Wahrheit wirken, trieb Tahnker zur Verzweiflung.

"Nein, es ist nicht zu spät. Bindet eure Schwester los und lasst sie Rache an mir nehmen", flehte er.

"Willst du sie ein zweites Mal beleidigen, womöglich mit deinem Kind im Leib zurücklassen, während du in die Hölle fährst?" Tammos Stimme überschlug sich fast, während Tahnker am ganzen Leibe zitternd, jeden Stolz verlor.

"Nein, du wirst sie losbinden, so wie du sie festgebunden hast. Du wirst sie jeden Tag um Verzeihung bitten, wirst sie behüten wie deinen Augapfel. Und du wirst immer daran denken, welches Wissen wir mit dir teilen." Mit sichtbarer Schadenfreude zeigte Tammo an, dass Tahnkers Leben von nun an fremdbestimmt, sklavisch, in ständiger Furcht verlaufen würde.

"Nimmst du sein Opfer an?", fragte der große Bruder die entehrte Schwester und zeigte sichtbar auf seine Brust, auf die Stelle, an der Gis das Brandzeichen trug.

"Ich nehme es an", schluchzte Kaya und rieb sich die Gelenke, die Tahnker nacheinander von ihren Banden befreite.

"Dann zieh dein Kleid über und komm mit. Bei Sonnenaufgang wird dich Frysunth dem übergeben, dem du seit letzter Nacht ohnehin gehörst." Tammo warf Kaya das grobe Gewand zu, welches sie voller Scham über den schmerzenden Körper streifte. Bald würde sie es gegen Festtagskleider tauschen, äußerlich rein und unbefleckt erscheinen, von einem ahnungslosen Ziehvater einem gedemütigten Manne zur Frau gegeben, von einem ebenso ahnungslosen Vater Bonifatius vor dem Christengott vermählt werden.

Frysunth tobte, Altje schrie. Aufgeregt kam Vater Bonifatius herbeigelaufen. Sicher, es fiel den Eltern schwer, ihre Kinder aus dem Haus zu geben, vor allem, wenn sie so kräftige Arme hatten, so fleißige Arbeiter waren, wie es auf Kaya zutraf. Doch ganz so heftig musste die Trauer nun wirklich nicht ausfallen. Es ging schließlich nur um das Ziehkind.

"Beruhigt euch liebe Leute und Gott zum Gruße." Ohne Zögern und mit diesen Worten auf den Lippen betrat der Missionar des Dorfvorstehers Haus, worauf dieser ebenso wie seine Frau augenblicklich verstummten. Gis war geflohen, hatte die Liebe missbraucht, die Pläne der Zieheltern so radikal umgestoßen. Aussprechen konnten sie das nicht. Es gab nie einen Gis, jedenfalls nicht für Bonifatius. So warteten sie erst einmal ab, was der Christenpriester von ihrem Wortgefecht gehört, welches Wissen er bereits gesammelt hatte.

"Freut euch und schreit nicht vor Trauer. Eure Tochter geht aus dem Haus, aber sie geht an den Richtigen. Sie ist so ungestüm, so leicht verführbar. Ein älterer Mann wird sie lehren, sie auf dem Pfad der Tugend begleiten, nicht in jugendlicher Wollust, sondern auf gottgefälligem Wege mit ihr gehen."

"Ihr habt ja Recht." Aus Frysunths Worten sprach ehrliche Erleichterung. Der Gottesmann fasste sein und das Klagen seiner Frau zum Glück völlig falsch auf, führte es auf Kayas Heirat zurück, hatte offenbar weiterhin keine Ahnung von Gis Existenz. Und so schickte Frysunth sich an, mit brummendem Schädel, auch er hatte am Vorabend dem Bier sehr reichlich zugesprochen, die Hochzeit seiner Adoptivtochter wie vorgesehen zu feiern. Erntedank bildete einen würdigen Rahmen. Am Abend würden nicht nur alle Gäste, würden auch Braut und Bräutigam berauscht sein. Das schuf die beste Basis für den ersten Beischlaf. In solcher Nacht werden Helden gezeugt. Und obwohl Gis Flucht heftig schmerzte, dachte Frysunth bereits weiter, plante er bereits mit einem Enkel als Nachfolger. Seine leiblichen Töchter würden in andere Familien einheiraten. Tahnker hingegen hatte keine Familie. Das band Kaya für immer an ihn, ihren Ziehvater. Wenn nicht Gis den Hof übernahm, dann halt Kayas Sohn. So fand Frysunth die Lösung für eines seiner drängendsten Probleme, die Sorge um seine Nachfolge, um seinen Besitz. Das linderte die gekränkte Eitelkeit ein wenig. Daran, dass die angenommene Tochter ohne Kinder bleiben oder nur Mädchen gebären könnte, verschwendete der Vorsteher keinen Gedanken.

Ein Pfeil ist nur frei, wenn er fliegt

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