Читать книгу Ein Pfeil ist nur frei, wenn er fliegt - Frans Diether - Страница 4

3. Kapitel

Оглавление

Als sei ihr ein böser Geist auf den Fersen, so lief Alitiksok durch den dichter werdenden Wald, in das Rot des Abends, in das Schwarz der Nacht, in das zarte Blau des jungen Morgens, über Wiesen und Felder. Gis lenkte sie nur wenig, wusste selbst nicht, wo sein Ziel lag, wusste nur, dass es weit weg, weit weg von Friesen und Franken, weit weg von allen Menschen sein musste. Eigentlich gab es für ihn nur einen guten Ort, das Reich der Toten. Doch von dort aus könnte er Kaya nicht helfen, könnte er die Schmach seines neuerlichen Versagens nicht tilgen. Andererseits konnte ihn der Tod noch immer einholen, jedenfalls wenn es ihm nicht gelänge, seine Fesseln zu lösen, das verängstigte Pferd von seiner Last zu befreien. Irgendwann würde es entkräftet zusammenbrechen und liegenbleiben. Und er würde unter ihm liegen, bis der Durst seinen Körper ausgetrocknet, das Licht seines Lebens ausgeblasen hätte. Wieder einmal befand sich sein Schicksal in den Händen der Götter.

"Willst du, dass ich lebe, so hilf mir, die Fessel abzustreifen", schrie er zu Saxnot und zerrte heftig an den gebundenen Füßen.

"Willst du, dass ich sterbe, so schenke mir ein rasches Ende", rief er weiter und klammerte sich noch fester an den dampfenden schwarzen Leib, seinen Todeswunsch Lügen strafend. Nein, sein Körper wollte nicht sterben, wollte nicht von Alitiksoks Rücken gleiten. Sterben wollte Gis gedemütigte Seele. Und sie ließ ihn weiter schreien, nach den Göttern rufen, diese, das Schicksal, das eigene Versagen verfluchen, bis noch lautere Schreie die seinen übertönten.

"Erschlagt ihn."

"Er bringt Unheil über uns."

"Einem Toten den Tod."

Gis verstummte. Alitiksok verlangsamte ihren Schritt. Eine wilde Horde jagte, vom Horizont kommend und auf dem abgeernteten Feld große Staubwolken aufwirbelnd, direkt auf ihn zu. Sie trugen Gabeln und Spieße, schienen bereit, ihren Worten Taten folgen zu lassen. Gis verstand nicht, warum sie es auf ihn abgesehen hatten. Er verstand nur, dass sich der rasche Tod näherte. Hatten ihn die Götter erhört? Er zögerte zu fliehen. Die Götter hatten entschieden. Er sollte ihren Richterspruch annehmen. Doch es gelang ihm nicht, in Demutshaltung zu verharren. Sein Körper wollte leben. Er streckte seinen Hals, um in die Gesichter der Angreifer sehen zu können. Da erst erkannte er, dass nicht er, dass ein in raschem Schritt Hinkender, ein in langen groben Stoff Gekleideter, das offensichtliche Ziel der aufgebrachten Menge war. Er hatte solche Kleidung noch nie gesehen, gehört hingegen hatte er schon davon. Es war ein Aussätziger, der da um sein Leben rannte. Als dieser den Mantel abstreifte und auf seine Verfolger warf und die Getroffenen wie vom Schlag gerührt stehen blieben, wusste Gis, seine Vermutung traf zu. Er beeilte sich, Alitiksok zu wenden, der schrecklichen Szene zu entfliehen, hatte jedoch nicht mit Kraft und Schnelligkeit des Aussätzigen gerechnet, der sich just in dem Moment hinter ihm auf den Pferderücken warf, in dem die schwarze Stute lossprang. Wie das lebendig gewordene Böse klammerte sich der Mann an Gis, drückte er seine nackte Brust an dessen bloßen Rücken, jagte er ihm einen Schauer nach dem anderen über selbigen, schlimmste Gedanken von Verwesung bei lebendigem Leibe durchs Hirn. Gis hatte noch nie einen Aussätzigen gesehen. Jedoch erzählten die Alten von einem Krieger aus dem Südlande, der seine verkrüppelten Hände und Füße mit Lappen verhüllte, seinen ausgemergelten Körper in einem langen Mantel versteckte, eine hölzerne Klapper schlagend, um Wasser und Brot bat. Zum Dank für die Hilfe berichtete er, dass die Krankheit durch Berührung weitergegeben wurde, dass sie sich ja in Acht nehmen sollten, ihn oder seinesgleichen anzufassen. Wenig später starb der Mann, die Geschichte lebte jedoch weiter. War ein Kind unartig, drohte man oft mit dem Krüppel. Der Aussätzige wird dich holen, hieß es dann. All das ging Gis durch den Kopf, während Alitiksok einen guten Vorsprung herauslief, die Verfolger bald abschüttelte.

Nach etwa einer Stunde scharfen Rittes brachte der Fremde die Stute zum Stehen. Er konnte offenbar gut mit Pferden umgehen, stellte Gis fest. Das nahm ihm nicht die Angst, weckte aber so etwas wie Hochachtung.

"Ich steige jetzt ab", sagte der Fremde und setzte dies sogleich in die Tat um. Da stand er nun, nackt bis zum Gürtel, Hände und Füße mit grauem Stoff umwickelt. Prüfend lag sein Blick auf Gis, der so gern ebenfalls vom Pferd gestiegen, sich so gern in einem Bach oder Tümpel, wenigstens in einer Pfütze gewälzt, den bösen Atem von seinem Körper gewaschen hätte. Sollte er fliehen, den Mann seinem Schicksal überlassend die eigene Haut retten? Oder trug er den Aussatz bereits in sich? Schließlich hatte der Kranke ihn eng berührt. Gis blieb. Krankheit hin oder her. Wenn er nicht bald die Fesseln loswürde, müsste er ohnehin sterben. So sah er voller Erwartung zu, wie der Fremde die Hüllen von Händen und Füßen entfernte. Sie waren nicht so entstellt, wie Gis fürchtete, sahen eher ganz normal aus. Hatte der Kerl sich nur verkleidet? Jagte er Gis nur einen Schrecken ein?

"Dachtest wohl, ich sehe aus wie ein Gespenst? Hast wohl noch nie einen mit der Miselsucht gesehen? Bist wohl schlechter dran als ich, aber hast mir den Hals gerettet." Der Fremde spuckte aus, griff nach seinem Gürtel, zog ein kleines Messer hervor und durchtrennte Gis Fußfessel, worauf dieser völlig erschöpft vom Pferd rutschte. Wie ein hilfloses Bündel lag er auf dem duftenden Waldboden, hin- und hergerissen zwischen Furcht und Dankbarkeit. Zögerlich streckte er die Hände aus. Ein Schauer lief über seinen Körper, als der Fremde ihn berührte.

"Halt still", sagte dieser ganz ruhig, "oder soll ich dir eine Hand abschneiden?"

Natürlich sollte er ihm nicht die Hand abschneiden. Gis schüttelte den Kopf und hielt still.

"Gute Arbeit", brummte der Fremde. "Hätte dich noch einige Zeit gekostet, die loszuwerden. Hätte durchaus zu spät sein können. Gut, dass du mich getroffen hast."

Langsam, sehr langsam kehrte Leben in Gis Finger zurück. Vorsichtig bewegte er seine Zehen, drehte er die Füße hin und her. Sie sahen schrecklich geschwollen aus. War er doch schon von der Krankheit befallen? Und wie nannte der Fremde die Krankheit? Miselsucht? Aussatz war es, schrecklicher Aussatz, die Strafe für ungehorsame Kinder. Gis konnte sich nicht aus seiner Tradition lösen. Es dauerte jedoch nicht allzu lang, da schwollen seine Füße bereits ab, konnte er seine Hände bewegen, gar einigermaßen sicher auf den Beinen stehen. Die Angst schwand ein wenig. Er sah den Fremden an. Dessen Bewegungen wirkten unsicher, so als habe er kein rechtes Gefühl im Körper.

"Lass uns eine Bleibe für die Nacht bauen", beendete der Mann das Schweigen. "Und berühre mich nicht, dann musst du dich auch nicht vor mir fürchten."

"Aber …"

"Ich habe dich berührt." Der Fremde schnitt Gis das Wort ab, wusste er doch selbst am besten, in welche Gefahr er den Jungen brachte. Er tat es aus purer Todesangst. Die Dörfler hätten ihn aufgespießt und verbrannt. Und die kurze Zeit, in der er hinter dem Jungen saß, würde kaum ausreichen, das böse Gas in diesen strömen zu lassen.

"Du musst dennoch keine Angst haben. Ich sah viele, die an Aussatz, wie ihr es nennt, litten. Die Krankheit geht nicht so schnell von einem zum anderen." Der Fremde atmete tief. Hätte er damals gewusst, was er später lernte, er könnte noch gesund sein. Für ihn kam das Wissen zu spät. Wäre er seinem Handwerk treu geblieben, er könnte noch immer völlig gesund sein. Was musste er auch den Bogenbau aufgeben und sich der Heilkunst zuwenden? Doch sein altes Handwerk brachte anderen den Tod. Als Heiler konnte er das Leben anderer bewahren. Einmal würde er dem Jungen alles erzählen. Zunächst hieß es, ein Versteck zu finden. Sie waren beide Ausgestoßene. Oder warum sonst hatte man den Kleinen auf das Pferd gebunden? Der Junge war sein Glück, konnte das tun, was er nicht mehr vermochte, konnte das lernen, was er nicht mit ins Grab nehmen wollte.

"Ich heiße übrigens Evroul."

Gis schwieg. Traten nicht bereits Beulen auf seinem Rücken hervor? Vorsichtig tastete er über die schweißnasse Haut. Alles wie sonst, stellte er fest. Wesentliche Erleichterung brachte ihm das nicht.

"Nun kennst du meinen Namen. Sag mir doch auch deinen." Die Stimme des Mannes klang so vertrauensvoll. Und Gis wollte ihm so gern glauben, wollte so gern bei ihm statt allein bleiben. Aber sagte er nicht auch, man solle ihn nicht berühren? Und sagten nicht die Alten, der Aussatz geht durch den Atem über? Und ging nicht der Atem auch über das Wasser, über das Brot? Konnte man wirklich mit einem Miselsüchtigen, wie der Fremde sich selbst bezeichnete, zusammenleben, ohne selbst zum Krüppel zu werden? Aber was war die Alternative? Es gab keine. Wie sollte ein sächsischer Junge, noch dazu mit einem Brandmal auf der Brust, im fremden Lande überleben, in einem Lande, dass er nie zuvor betrat, dessen Bewohner ihm fremd und sicher feindlich gesinnt waren.

"Gis heiße ich. Mein Name ist Gis", sagte er leise.

"Ein sächsischer Name", stellte Evroul fest. "Bei uns würde das Pfeil heißen. Ein gefährlicher Name."

Langsam meinte Evroul zu begreifen, ein Sachsenjunge mit einem friesischen Brandmal auf der Brust, von einem edlen Pferd in fränkische Gefilde getragen, halbnackt, gefesselt. Er wird wohl gestohlen haben, sollte wohl von dem Tier zum Kerker gebracht werden, war wohl irgendwie entkommen. Evroul untersuchte das Pferd, fand Herzog Kuberts Zeichen, zwar überdeckt von einem neuen Brandmal, für den Kundigen jedoch noch immer erkennbar. Er fand seine Vermutung bestätigt.

"Bleib bei mir. Dein Risiko ist dann geringer", sagte er mit seiner ruhigen, tiefen, Vertrauen erweckenden Stimme. Gis hatte sich ohnehin entschieden. Evroul schien sich auszukennen, in der Gegend und in vielen anderen Dingen. Er schien sich auch mit Aussatz auszukennen. Und warum sollte er ihn belügen. Vielleicht war es gar nicht der Atem, vielleicht musste man wirklich die Körper längere Zeit eng zusammenbringen, um die Krankheit weiterzugeben. Ihre Körper waren eng zusammen. Das ließ sich allerdings nicht mehr ändern. Und die Zeit war kurz. Für die Zukunft wollte Gis Evrouls Worte allerdings streng beachten. Dann sollte er die Gefahr beherrschen. Außerdem, Leben hieß Risiko. Und sagte Evroul nicht selbst, Gis ist ein gefährlicher Name? Gis steht für Freiheit. Das ist gefährlich. Er erfuhr es zur Genüge. Er würde bei dem Fremden bleiben, bekräftigte Gis seinen Entschluss. Er besaß ja noch seine Festkleidung. Die edlen Stücke würden seinen Körper schützend umhüllen. Er schnürte sein Bündel auf.

"Ich will nur meine Kleider anlegen, dann komme ich mit dir", sagte er zu Evroul.

"Wasch dich zuvor", antwortete dieser mit einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. "Und die Stiefel gib mir. Du bist gesund, kannst barfuß gehen. Ich laufe mit geschützten Füßen schneller. Das nützt uns beiden."

Unter anderen Umständen hätte sich Gis mit allen Kräften gewehrt, seinen kostbaren Besitz bis zum letzten verteidigt. Evroul jedoch schien magische Kräfte zu besitzen, konnte offenbar Gis Willen kontrollieren, ihn veranlassen, den Anweisungen ohne Widerspruch zu folgen.

"Erkläre ich dir alles später." Evroul dehnte die Stiefel kräftig und war zum ersten Male in seinem Leben froh, kleinwüchsig zu sein. Das weiche Leder gab problemlos nach. Die für ein Kind gefertigte Fußkleidung passte ihm hervorragend, würde ihn weit besser tragen als die schäbigen Lappen, in die er sich bisher hüllen musste. Er war ein Wissender. Die größte Gefahr seiner Krankheit war das fehlende Gefühl. Er hätte über glühende Kohle, über Dornen und Stacheln gehen können, ohne es zu bemerken. Verletzt hätte er sich wie jeder andere. Sein Wissen bewahrte ihn bisher davor, als Krüppel zu enden. Die Füße gut geschützt, schritt er rasch aus. Gis konnte ihm kaum folgen, befolgte hingegen seine Anweisungen, ließ die Kleider als Bündel auf Alitiksoks Rücken. Das Pferd hatte sich gut erholt. Er würde es besonders verwöhnen. Ohne die Schwarze wäre er vielleicht schon tot, wären sie beide gestorben, Evroul und er. Die Zukunft erschien Gis auf einmal viel heller. Er besaß diese tolle Stute. Er fand diesen tollen Beschützer und Lehrer. Er konnte es noch nicht ganz glauben, dass die Gefahr vorüber, er nicht selbst zum Krüppel verdammt war. Er konnte nicht vergessen, dass er sich wieder auf der Flucht befand. Er konnte nicht völlig verwinden, dass er ein zweites Mal versagt, seine Sippe und Kaya im Stich gelassen hatte. Doch er sah wieder ein Licht. Die Hoffnung kehrte zurück. Die Götter ließen ihn nicht im Stich. Es musste ihr Wille sein. Sie prüften ihn. Er musste stark werden, musste frei bleiben. Die Götter sind mit den Starken. Die Götter lieben die Freiheit. Gis wusste das. Gis glaubte an Saxnots Beistand. Wer sonst war in der Lage, einen Sachsenjungen aus allen Gefahren zu retten. Dieses Wissen wirkte beruhigend.

Die Abenddämmerung, das tiefe, vom Horizont zum Zenit immer dunkler werdende Blau des Himmels an welches die untergehende Sonne kräftige rote Streifen zauberte, setzte das Zeichen zur Rast. Evroul kannte die Gegend, wusste von einem geeigneten Platz, der von Dickicht geschützt, schwer einsehbar und dennoch ausreichend zugänglich war, in dessen Nähe der Wald reiche Frucht bot, sich Gras für das Pferd und Wasser für sie alle fanden. Während er eine Schlafstatt aus Zweigen und trockenem Gras baute, diese mit einem Blätterdach versah und mit einem angespitzten Stock eine Mulde für ein kleines Feuer aushob, reinigte sich Gis im klaren Wasser, sammelte er im letzten Licht Früchte und Wurzeln, ein zwar karges, doch in Anbetracht des Hungers köstliches Mal.

"Setz dich zu mir und lass uns deine Ernte munden", sagte Evroul zu seinem jungen Begleiter. Doch Gis musste noch ein Versprechen einlösen, Alitiksoks Fell mit Heu abreiben, welches er von seinem Lager nahm. Erst als diese Arbeit erledigt war, kauerte er sich neben Evroul, seinen neuen Freund, peinlich auf Abstand zu dessen Körper achtend, während er ihm im Geiste schon näher kam. Schweigend kauten sie, fütterten ihre knurrenden Mägen mit dem, was der Wald ihnen bot, hingen ihren Gedanken nach und spannen Pläne für die Zukunft. Evroul kannte dieses unstete Leben. Seit er vor langer Zeit aus dem Lande der Langobarden zurückkehrte, krank, verstoßen, ohne Dank, ohne Lohn, schlug er sich mit Diebstahl und Bettelei durch, rannte er auf gefühllosen Füßen davon, trug er mit gefühllosen Händen zusammen, was er tragen konnte. Manchmal wünschte er sich den Tod. Doch dann siegte sein Lebenswille. Und nun hatte er Verantwortung für diesen Jungen übernommen. Und er hatte in ihm jemanden gefunden, der seine Defizite ausgleichen konnte. Auf einer bitteren Wurzel kauend griff er bereits nach den süßen Beeren. So ist das Leben, mal bitter, mal süß, dachte er. So war es, so wird es bleiben. Da ändert kein Gott etwas, auch nicht viele Götter. Er hatte sie alle kennengelernt, war durch den Norden, den Osten, den Süden gezogen. Er ging mit dem Heer seines Königs, war der berühmteste Bogenmacher von allen, schuf Werkzeuge zum Töten, treffsicherer, effektiver, mithin tödlicher als die bis dahin üblichen. Er sah das Leid, doch er wollte es nicht sehen. Im Lande der Langobarden zerschmetterten seine Leute Kindern, denen die Eltern die heilige Taufe versagten, die dunkelhaarigen Schädel auf großen Steinen. Seine Bögen hatten geholfen, den Widerstand zu brechen, hatten seinem fränkischen Volke den Weg ins Südland geöffnet. Doch wofür, für einen abstrakten Gott, getrieben von einem heilig genannten Geist? Es dauerte lange, bis er sich dem Dienst verweigerte. Er war kein Held, suchte lange nach einer Gelegenheit zum Ausstieg. Er fand sie in einem Lager Aussätziger. Er hatte nie von dieser Krankheit gehört, die unter den Langobarden weit verbreitet war. Er wusste auch nicht, dass sie auf andere übergeht, dass auch fränkische Kämpfer von ihr befallen werden können. Er sah die Möglichkeit, durch Krankendienst dem Kriegsdienst zu entkommen. Einmal in Kontakt mit den Ausgestoßenen wurde er von den Kameraden gemieden. Böser Atem konnte übergehen, Speise und Trank vergiften, die Strafe Gottes auf andere weitertragen. Und da ein jeder wusste, wie oft er Gottes Wort missachtete, nicht dem Herrn Jesus folgte, sondern Gewinnsucht und Wollust frönte, fürchtete sich ein jeder vor dieser schrecklichen Geisel. Evroul hingegen sammelte Berichte, beobachtete scharf, verstand irgendwann, dass es schon intensiven Körperkontakts bedurfte, um die Krankheit an den Nächsten weiterzugeben. Die Langobarden lehrten es ihn und machten ihn zu einem hervorragenden Pfleger auch der eigenen Leute. Er konnte sie nicht heilen, konnte ihnen jedoch helfen, als er verstand, dass die schrecklichen Entstellungen nicht durch böse Gase, nicht durch falsche Körpersäfte, sondern allein durch fehlendes Gefühl und damit verbundene Verletzungen entstanden.

"Achtet auf eure Hände. Schützt eure Füße", gab er seinen Schützlingen mit auf den Weg, versuchte er Nicola täglich neu beizubringen. Doch sie war noch so jung, war noch so voller Freiheitsdrang, prahlte damit, über glühende Kohlen laufen, ein erhitztes Messer mit bloßen Händen aus dem Feuer nehmen zu können. Evroul musste alles verwerfen, was er lernte, konnte nicht von dem wundervollen Weibe lassen, musste bei ihr liegen, nächtelang, wochenlang, musste sehen, wie er sie nicht retten, dem Würgegriff der Schwindsucht nicht entreißen konnte. Und er musste erfahren, dass seine Theorie falsch war. Er kam Nicola so nahe, übermannt vom Verlangen, anfangs nur nach Bier im Übermaß, später auch völlig nüchtern, dass er nach seinem Wissensstande vom Aussatz erfasst werden musste. Doch ihm konnte die Krankheit nichts anhaben. War er in Gottes Augen unschuldig, in den Augen eines Wesens, an das er den Glauben lange verlor? Es musste ihm unbekannte Ursachen geben, die aus den einen Aussätzige machten, die anderen gesund bleiben ließen. Sein gesamtes bisheriges Gedankengebäude stürzte ein. Er sah sich nicht mehr vor im Kontakt mit den Kranken, kehrte zurück in den Schoß der christlichen Kirche, spendete Kraft und Trost aus Psalmen und fand irgendwann, Nicola war ein Jahr zuvor gestorben, diesen hellen tauben Fleck auf seiner sonnengebräunten Haut, bemerkte irgendwann den nachlassenden Tastsinn in Händen und Füßen, begriff sehr spät, dass er doch recht hatte, dass sich seine Theorie an seinem Körper bestätigte. Er verfluchte seinen, verfluchte alle Götter, zog mit Karls Truppen nach Norden, konnte nicht jede Verletzung vermeiden, wurde nicht mehr als der Heiler, wurde selbst als Kranker wahrgenommen, mit der üblichen Tracht, einem langen Mantel, Hüllen für Hände und Füße und der hölzernen Klapper versehen. Mittellos jagten sie ihn davon, überließen ihn der Mildtätigkeit anderer und seiner eigenen Geschicklichkeit, wenn es darum ging, zu nehmen, was man ihm nicht geben wollte, oft davongejagt, oft dem Tode nahe, immer allein, allein bis zu jenem Tage, als er sich hinter einen halbnackten Jungen auf ein edles schwarzes Pferd schwang, nachdem er den Mantel, das Zeichen der Schande, auf seine Verfolger geworfen, ihnen den Schrecken bis ins Mark gejagt, sie von weiterer Verfolgung mindestens zeitweise abgehalten hatte. Er konnte kaum glauben, dass dies erst vor wenigen Stunden geschah, so vertraut schien ihm das schweigsame Kind bereits.

"Lass uns schlafen. Morgen ist ein neuer Tag. Ausgeruht werden wir einen Plan für unsere Zukunft schmieden."

Gis sah den nicht mehr fremden Mann an. Er hatte ihn schon eine Weile angesehen, das flackernde Schattenspiel beobachtet, welches ihr kleines Feuer auf seine nackte Brust warf. Er besaß nichts als seine Hose und die Stiefel, welche Gis ihm mehr aus Not denn Überzeugung überließ. Er war noch ärmer als Gis selbst, der sich doch in sein fellbesetztes Hemd hüllen, gar ein Pferd sein eigen nennen konnte. Und doch besaß er etwas, was Gis in seinen Bann zog. Er strahlte Ruhe und Liebe aus. In seiner Nähe fühlte sich Gis geborgen, obwohl er ihm nicht einmal nahe sein durfte, obwohl sein Geist noch immer vor Angst gefror, wenn seine Augen auf die hässlichen Flecken, die Ungelenkigkeit der tauben Finger, die Unsicherheit in Evrouls Gang blickten. Er war nicht mehr allein. Das gab ihm Kraft. Am kommenden Tag würden sie einen Plan schmieden. Das gab Hoffnung. Saxnot stand ihm bei.

So wie ehemals bei Kaya musste Gis auch von Evroul Abstand halten, als sie ihr Nachtlager einnahmen. In seinem Traum lag er wieder unter Frysunths Dach, auf Frysunths Stroh, neben der Geliebten und doch so fern von ihr. Im Traum kamen sie allerdings erneut zusammen, wurden sie wieder eins. Schweißüberströmt erwachte Gis. Sie durften sich nicht berühren. Aussatz, Aussatz hämmerte es in seinem Kopf. Doch niemand war da, der rief. Ruhig und dunkel lag der Wald. Ruhig lag Evroul gut vier Fuß entfernt. Ruhig lag Alitiksok. Das Mondlicht ließ ihr Fell glänzen. Morgen würden sie einen Plan schmieden. Alles würde gut werden. Gis beruhigte sich, dachte an seinen neuen, so erfahrenen, so freundlichen Begleiter, dachte an Kaya, die wohl Tahnkers Lager teilte. Ein Stich ging durch sein Herz. Er hatte sie nicht vor der Bosheit Tammos bewahren können. Er hatte versagt, erneut versagt. Doch er würde noch eine Chance bekommen. Saxnot hatte ihn nicht verlassen. Ruhig ging sein Atem. Das leise Rascheln der Blätter schickte ihn in den Schlaf zurück. Nur der Mond beleuchtete das Lager der zwei Ausgestoßenen. Ihr Feuer war längst niedergebrannt, die Kälte des Morgens ein guter Weckruf.

"Wasch dich und besorg was zu essen." Evrouls Stimme klang mürrisch. Das karge Mahl des Vorabends füllte seinen Magen längst nicht mehr. Auf der Flucht hatte er seinen Mantel weggeworfen. Nicht nur, dass dieser ihn nicht mehr wärmen konnte, er fehlte auch als mitleiderregendes Symbol. Nicht jeder jagte einen Aussätzigen davon. Viele fühlten auch mit ihm und erbarmten sich des Bettlers.

"Und beeile dich. Wir haben einen anstrengenden Tag vor uns."

Gis fiel der Ärger in Evrouls Stimme kaum auf, war er es doch nicht anders gewohnt, als morgens zur Arbeit geschickt und zu besonderem Fleiß ermahnt zu werden. Doch als er zurückkehrte, war auch er niedergeschlagen. Viel mehr als einige Beeren bot die Umgebung nicht an Nahrung. Ohne entsprechende Ausrüstung gab es auch kaum eine Chance, Vögel oder anderes Getier zu fangen. Im Frühjahr hätte er wenigstens Nester leeren können. Doch es war Herbst. Die Bauern feierten Erntedank. Für seinen Freund und ihn hingegen gab es nichts zu feiern. Und käme erst der Winter, müssten sie elendiglich hungern. Auch für Alitiksok würde es dann knapp werden. Selbst in den Dörfern wurden im Winter Pferde geschlachtet, weil man kein Futter für sie hatte. In der Wildnis war dieses Risiko noch größer. Trotz des flauen Gefühls im Magen breitete Gis das Tuch mit den Beeren vor Evroul aus und blickte traurig zu Alitiksok. Und den kranken Mann überkam Mitleid. Er sollte nicht so herzlos mit dem Jungen umgehen. Er sollte nicht die eigene Unzufriedenheit an dem Kleinen auslassen. Vor allem sollte er ihn nicht ängstigen.

"Hab keine Angst. Wir finden einen Weg, finden ein Lager und Essen für uns und auch für dein Pferd", sagte Evroul und blickte Gis freundlich an. Er wusste nicht, was dieser durchgemacht hatte, ahnte nur, dass es schlimm war. Allein das Mal auf seiner Brust sprach Bände.

"Lass uns teilen, was du gesammelt hast. Lass uns dann unsere Geschichten erzählen, damit wir wissen, mit wem wir es zu tun haben, bevor wir unseren ersten gemeinsamen Beutezug starten."

Gis sah Evroul fragend an.

"Du hast schon richtig verstanden", sprach dieser weiter. "Heute wird nicht mehr gesammelt, heute wird eingesammelt. Ich kenn mich hier aus, weiß, wo was zu holen ist. Wir nehmen, was wir kriegen können, müssen ohnehin weiter, können nicht zu nahe bei denen bleiben, die mich fast auf dem Gewissen haben. Doch um den besten Weg zu wählen, muss ich wissen, wo du herkommst und vielleicht nie wieder hin willst."

Gis dachte nach. Wo kam er denn her? Wo wollte er denn nie wieder hin? Sein Dorf gab es nicht mehr. Ob er wollte oder nicht, dorthin durfte er nie mehr. Er kam auch nicht von dort. Er kam aus Frysunths Dorf. Dort wollte er auch wieder hin, irgendwann. Es hing aber nicht am Wollen, es hing am Dürfen. Evroul sollte entscheiden, ob es gut war, sich dem friesischen Weiler nochmals zu nähern. So erzählte Gis seine Geschichte, jedenfalls den Teil, der ihn nicht beschämte, berichtete vom Überfall der Franken, von der ersten Flucht, von der Aufnahme in Frysunths Familie, von Kaya und der Vertreibung durch ihre Brüder.

"Das macht mir manches klar", lachte Evroul. "Wenn es um Frauen geht und wenn es um Land geht, wird mit harten Bandagen gekämpft. Dem Tammo sollten wir besser nicht auf die Pelle rücken, noch nicht."

Gis musste ebenfalls lachen. Eines Tages würde er Tammo auf die Pelle rücken, ihm die Pelle ebenso verbrennen, wie der es mit seiner Haut getan hatte. Eines Tages käme die Zeit. Bis dahin schien es allerdings geboten, sich von ihm fernzuhalten.

"Wir brauchen eine Bleibe, wo uns niemand kennt", breitete Evroul seinen Plan aus. "Dort lehre ich dich, wie man die besten Bögen baut, die es gibt. Du musst wissen, ich verstehe dieses Handwerk. Ich bin Bogenmacher."

Dann erzählte auch Evroul seine Geschichte.

"Du siehst, auch bei mir war es eine Frau, die erst Glück dann Unglück brachte. Doch du bist jung, wirst noch viele Frauen haben, während meine Zeit abläuft", schloss er seine Erzählung. Gis wollte bereits aufbrausend widersprechen, wollte sagen, dass es nur Kaya für ihn gäbe und Evroul noch ewig leben müsse. Er besann sich jedoch, beherrschte sich und schwieg. Die vergangenen Tage waren ein guter Lehrmeister, hatten das Kind reifen, es vorsichtig, überlegt, männlich werden lassen.

"Dann lass uns aufbrechen, zieh dir jedoch vorher Hose und Hemd über. Man soll das Mal auf deiner Haut nicht sehen, sich nicht später erinnern, wer die Vorräte vom Sonnenhof stahl." Evroul selbst besaß nichts, was er hätte noch überziehen können. Doch das sollte sich bald ändern. Auch auf dem Sonnenhof wurde Erntedank gefeiert. Auch dort würden alle dem herrlichen Gebräu zusprechen, welches die Sinne so schön benebelt, die Mühsal der Welt so leicht macht. Von dort würden sie nehmen, was für ihre Reise wichtig war, ein zweites Pferd, Kleidung, Nahrung, Waffen. Zu zweit schien ihm ein Kinderspiel, was ihm allein so kläglich misslang.

Die Geräusche klangen so vertraut, die sich überschlagenden Stimmen, die Flüche, die Schreie, die Musikfetzen, welche sich mühevoll ihren Weg zwischen den lärmenden Feierenden bahnten. Gis klang all das noch im Ohr, erinnerte ihn an die schreckliche Vertreibung aus seiner letzten Zufluchtsstätte. Gab es auch hier einen Tammo? Blieb auch hier jemand nüchtern, nur darauf wartend, einen kleinen Dieb zu binden, zu quälen, gar zu töten?

"Ich kam einen Tag zu früh", flüsterte Evroul. "Heute sind sie wirklich alle besoffen. Wir haben nichts zu befürchten. Sobald die Nacht schwarz genug ist, schlagen wir zu."

Gis wünschte von ganzem Herzen, Evrouls Zuversicht teilen zu können. Er hatte noch nie gestohlen, wusste jedoch um die schreckliche, dem Diebe zugedachte Strafe. Zwanghaft fasst er an seinen Hals, atmete keuchend, schien wie gelähmt.

"Denk nicht an das, was du verlieren kannst, denk daran, was du gewinnen wirst", versuchte Evroul, die offensichtliche Angst seines Begleiters zu mildern, obwohl er selbst ein flaues Gefühl im Magen hatte. Würde der Junge alles richtig machen oder das Risiko sogar vermehren? Noch befanden sie sich in sicherer Entfernung. Noch konnten sie fliehen. Aber dann verspielten sie eine ihrer seltenen Chancen. Es war nicht die Zeit, Angst zu haben. Schräger Gesang schreckte Evroul aus seinen Gedanken. Ein Reiter näherte sich vom Sonnenhof her, hing wie ein nasser Sack auf dem Pferderücken, schien so berauscht, dass von ihm keine Gefahr ausging.

"… die Mägdelein fein …", ein heftiger Schlag beendete den Gesang. Das Pferd blieb stehen. Der Mann lag neben ihm auf dem Boden, kaum dreißig Fuß von Evroul und Gis entfernt. Evroul zog sein kleines Messer aus dem Gürtel und griff mit der anderen Hand den zugespitzten Stock, den er in Ermangelung einer besseren Waffe gefertigt hatte.

"Bleib hier", zischte er, drückte Gis ins tiefe Gras und schlich sich an den Fremden heran.

"Komm und halte das Pferd", rief er wenig später mit unterdrückter Stimme. Gis, froh endlich aktiv werden, endlich das Angstgefühl durch Taten unterdrücken zu können, erhob sich aus dem Versteck und ging ruhig auf das Pferd zu, eine nicht allzu große aber gut im Futter stehende braune Stute.

"Der tut nichts mehr", sagte Evroul und wies auf den verkrümmt liegenden Mann, der sich beim Sturz offenbar das Genick brach und den Hals aufschlitzte. Oder hatte Evroul nachgeholfen, sein Messer die Ader geöffnet, aus der dunkles Blut in das niedergedrückte Gras rann? Gis schauderte, als er sah, mit welcher Gleichgültigkeit Evroul den Toten untersuchte, seinen Dolch, seinen Gürtel, gar sein Hemd nahm.

"Die Stiefel sind dein." Als spräche er über das Wetter, so ruhig klang Evrouls Stimme, während sich Gis Magen krampfhaft zusammenzog, den fehlenden Inhalt gern in weitem Bogen verbreitet hätte. Nicht töten, die Worte saßen tief in seinem Inneren.

"Bitte", presste Gis durch die geschlossenen Zähne, worauf ihn Evroul fragend ansah.

"Gib mir auch den Dolch", setzte Gis entschlossen hinzu, ohne den Gesichtsausdruck seines Begleiters zu beachten. Er nahm die Waffe aus Evrouls Hand, dachte an alles, was ihm angetan wurde und an Kaya, die stolz auf ihn sein sollte. Dann rammte er den scharfen Stahl tief in die Brust des Fremden.

"Wir müssen sicher sein, dass er uns nicht verfolgt", sagte er dabei und sein Trotz, seine Entschlossenheit, sein Kampfeswille übertönte das Klagen, welches Adalbert dereinst in ihn gepflanzt hatte.

"Aus dir wird ein Krieger." Evroul wusste nicht, was er von Gis Aktion halten sollte, kannte er doch nicht die inneren Ängste des Jungen, sah er nur die vordergründige Leichtigkeit, mit welcher dieser zu töten wusste. Und noch etwas sah er. Gis verließ sich nicht auf den Schein, suchte vielmehr Sicherheit, absolute Gewissheit, war ihm in diesem Punkt so überaus ähnlich. Auch er hatte sich nicht darauf verlassen, dass des Reiters Genick zersplittert, sein Lebenslicht wirklich ausgeblasen war, hatte ihm vorsorglich die schlagende Ader des Halses eröffnet, ein Umstand, den er vor Gis lieber verbergen wollte, wusste er doch nicht, wie der trotz aller Schicksalsschläge umsorgt aufgewachsene Junge darauf reagieren würde. Nun wusste er es. Er erschrak über dieses Wissen, und er war gleichzeitig froh.

"Binde das Pferd zu Alitiksok. Es ist Zeit, unser Werk zu vollenden."

Gis hatte sich überwunden, hatte getötet, hatte dem Toten sogar die Stiefel ausgezogen. Er band sie auf Alitiksoks Rücken. An den Füßen wären sie nur hinderlich, falls er rasch davonlaufen musste.

Noch immer hörten sie Gegröle, aber es kam nur noch aus wenigen Kehlen. Die Musik war längst verstummt. Die Mehrzahl der Feierenden lag schlafend auf ihrem Lager oder irgendwo auf dem Festplatz, wenn sie es nicht bis in ihre Hütten geschafft hatten. Evroul fragte sich zwar noch immer, warum der Dörfler, für einen solchen hielt er den Toten, davongeritten war, ob ihm gar jemand folgen würde. Doch als dies nicht geschah, gab er das Zeichen zum Aufbruch. Auf dem Bauch kriechend, jede Deckung ausnutzend, immer wieder in die Dunkelheit spähend, kamen sie langsam aber stetig voran. Bald konnten sie den Festplatz übersehen. Das Wasser lief ihnen im Munde zusammen beim Geruch der unverzehrten Speisen. Es wäre ein Leichtes gewesen, sich die Taschen vollzustopfen und zu verschwinden. Evrouls Plan sah jedoch anders aus. Er wollte, dass sie sich selbst versorgen konnten. Dazu gehörten Waffen, am besten Bögen und Pfeile.

"Siehst du das lange Haus?", raunte er Gis zu. Dieser antwortete mit einem Nicken.

"Bei meiner Betteltour konnte ich einen Blick hineinwerfen. Du findest dort gut gemachte Bögen und auch einige Pfeile." Ein lautes Rufen unterbrach Evroul.

"Liebster", schrie eine verzweifelte weibliche Stimme.

"Kopf runter." Evroul hätte das nicht sagen müssen. Gis schmiegte sich bereits flach an die Erde. Sein Herz klopfte wie wild. Gleich entdecken sie uns, fürchtete er. Auch Evroul war zusammengezuckt, erinnerte sich nur zu gut daran, wie knapp er den Bewohnern des Sonnenhofs entkam. Minutenlang wagten die beiden Diebe kaum zu atmen. Mehr als diesen einen Ruf vernahmen sie allerdings nicht.

"Jetzt oder nie", sagte Evroul.

"Nur Bögen und Pfeile", setzte er hinzu. Gis umklammerte den Dolch und kroch los. Du sollst stolz auf mich sein, sagte er in Gedanken und glaubte Kayas Antwort zu hören. Ich bin stolz auf dich, meinte er zu vernehmen.

Gis erreichte das angegebene Haus. Bis zu Evroul waren es nur ein paar Dutzend Fuß. Im schnellen Schritt hätte er die Strecke in einem Augenblick bewältigt. Gis schien es allerdings, als sei er schon ewig unterwegs. Evroul winkte ihm, was wohl heißen sollte, beeile dich. Noch einmal lauschte Gis. Lautes Schnarchen drang aus dem stabil gebauten Haus. Die Tür stand offen.

"Jetzt oder nie", wiederholte er Evrouls Worte, richtete sich neben den grob behauenen Stämmen, aus denen die Wände gezimmert waren, auf und drückte sich ins Innere. Mit weit aufgerissenen Augen spähte er in die Dunkelheit. Ein wohl noch sehr junger Mann lag da. Sein Arm hing über eine bemalte Bank. Aus seinem Munde kamen die Schnarchlaute. Und über seinem Kopf, Gis vermochte das Glück kaum zu fassen, hingen drei Bögen nebst Köcher und Pfeilen. Ganz langsam, ganz leise tastete sich Gis vorwärts, fühlte vorsichtig mit den Zehen, bevor er den Fuß aufsetzte. Der Boden bestand aus trockener Erde. Plötzlich stieß Gis gegen etwas Weiches, gegen das unnatürlich abgestreckte Bein des Schlafenden, dem der Alkohol jedes Schmerzgefühl raubte. Vor Schreck ließ Gis den Dolch fallen, erstarrte zur Salzsäule, konnte keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen. Die im Hause untergebrachten Tiere wurden unruhig. Instinktiv, jedenfalls nicht vom freien Willen gesteuert, stieg Gis über den noch immer Schlafenden, griff sich zwei der Bögen und einen gut gefüllten Köcher und verschwand aus der beklemmenden Enge, als die er das Innere des Hauses empfand. Runter mit dir, deutete Evrouls Armbewegung an. Gis ließ sich fallen. Ohne diesen Hinweis wäre er einfach losgelaufen. So robbte er, so schnell er konnte, in Richtung seines Lehrers. Das Herz schlug ihm bis zum Halse, fürchtete er doch jeden Moment die Entdeckung. Doch es geschah nichts.

"Deckung", raunte Evroul. In diesem Moment bemerkte auch Gis, dass sich jemand von einem der mit zerborstenen Krügen übersäten Tische erhob und in seine Richtung torkelte. Der Dolch, wo ist der Dolch, fragte er sich mit rasch wachsender Unruhe. Er musste ihn verloren haben. Viel zu spät bemerkte Gis seinen Fehler. Er wollte schon aufspringen, dem Trunkenen die Kehle zudrücken, bevor dieser das mit der seinen tat, da fiel der Mann der Länge nach hin, blieb fast vor seinen Füßen liegen.

"Weiter", rief Evroul mit unterdrückter Stimme. Gis hingegen handelte, wie von einer fremden Macht getrieben, griff dem vor ihm Liegenden an den Gürtel, ertastete dort einen Dolch mit lederner Scheide, zog diesen, durchtrennte den Gürtel und nahm Scheide und Dolch an sich. Er wusste selbst nicht, wie er das alles schaffte, wusste nicht einmal, wie er auf den Gedanken kam, so zu handeln. Er hatte an Kaya gedacht. Sie lenkte seine Hand. Nie wurde ihm so klar wie in diesem Moment, dass sie eine Hexe war, dass er sich mit dunkelsten Mächten einließ. Und nie zuvor wurde ihm so klar, dass es kein Zurück gab.

"Wird ja Zeit", grummelte Evroul, als Gis neben ihm ankam, stolz sein Diebesgut, Bögen und Pfeile, präsentierte.

"Kannst du mit dem Bogen umgehen?", fragte er, nun schon mit deutlich zufriedenerer Stimme.

"Natürlich", antwortete Gis und zog zur Untermauerung seiner Behauptung die Bogensehne aus ihrem Beutel, spannte einen der beiden Bögen und legte einen Pfeil auf.

"Hervorragend", lobte Evroul. "Du wirst mich schützen, jedem einen Pfeil in die Brust jagen, der mir gefährlich wird. Ich sammle uns was zu essen, dann hau‘n wir ab."

Evroul stand langsam auf. Er war inzwischen sicher, dass ihm von den Dorfbewohnern keine Gefahr drohte.

"Gib mir den Dolch", sagte er dennoch. "Nur zur Vorsicht, kriegst ihn ja wieder."

Gis reichte ihm die eben gestohlene Waffe. Evroul warf einen verwunderten Blick darauf. Er hatte eine ganz andere Erinnerung.

"Hab ich getauscht", flüsterte Gis, was Evrouls Verwunderung nur anfachte. Die Zeit jedoch drängte und erlaubte keine Fragen. Mit wenigen einigermaßen schnellen Schritten erreichte Evroul die beladenen Tische, schnürte ein großes Bündel und lief in Richtung der Pferde, Gis zuwinkend, er möge ihm folgen. Rasch noch die Beute verstaut, dann ritten zwei glückliche Diebe in die Nacht, in den schützenden Wald, in eine ihnen rosig erscheinende Zukunft. Sie suchten sich einen versteckten Lagerplatz, bauten einen neuen Unterstand und ließen es sich gut gehen. Evroul sprach den Dolch nicht noch einmal an, ahnte Gis Missgeschick, bewunderte, wie er die Situation löste, wurde durch die gewonnenen Speisen seit langer Zeit wieder richtig satt und zufrieden. Auch Gis labte sich am Erntedankmahl und dachte nicht an die Zukunft. Hätte er gewusst, dass im gleichen Moment auf dem Sonnenhof ein junger Mann unter Mordverdacht festgenommen, aufgrund eindeutigen Beweises, man fand bei ihm den Dolch des Opfers, den Folterknechten des Herzogs übergeben und mit guter Aussicht auf den Tod am Galgen ins Verlies geworfen wurde, er hätte sich weit weniger wohl gefühlt.

Das Wetter meinte es gut mit den beiden Ausgestoßenen. Die Herbsttage blieben warm, der Regen fern. Sie konnten ernten, was die Natur ihnen reichlich bescherte, Früchte, Beeren, Wurzeln und fette Jagdbeute. Die Sonnenhofbögen, wie Evroul sie nannte, entsprachen nicht so ganz seinen Vorstellungen von dieser Waffe. Er hätte sich Eibenholz gewünscht. Die verbaute Esche war zwar leichter zu beschaffen, erfüllte jedoch weder vom Gewicht noch von den Wurfeigenschaften her den Anspruch an ein herausragendes Material. Dennoch waren es zwei annehmbare, in geübter Hand bis auf mittlere Entfernung treffsichere Stücke, die Gis erbeutet hatte. Und Gis erwies sich als guter Schütze, konnte seine Scheu, Lebewesen umzubringen, im Angesicht der Realität weitgehend unterdrücken. Evroul, nichts vom Problem seines kleinen Freundes ahnend, half ihm unbewusst bei dieser Entwicklung. Obwohl er selbst den Glauben an die Götterwelt verloren hatte, glaubte er doch an den Geist in einem jeden Ding, egal ob lebendig oder unbelebt. Und so dankte er jedem Vogel, jedem Hasen, jedem anderen Tier, dass es sein Leben gab, damit er weiterleben konnte, jedem Stein, der ihm Deckung bot und sah sich als Teil des großen Kreislaufs aus Wachsen und Vergehen, in dem der Stärkere vom Schwächeren nahm, manchmal auch dessen Leben, nie jedoch so viel, dass er die Existenz der anderen Art bedrohte. Viel hatte Evroul nachgedacht in den langen Nächten am Krankenlager der Unheilbaren, vielen Erzählungen gelauscht, gerade im Südlande von alten Lehrern und Philosophen gehört, deren Wissen nördlich der Alpen kaum verbreitet war. Er tat es aus Neugierde. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, damit einmal das Herz eines Sachsenkindes zu gewinnen. Und doch geschah genau dieses.

Als schließlich der Winter vor der Tür stand, hielt Evroul die Zeit für gekommen, in einer menschlichen Siedlung Unterschlupf zu finden. Unter entsprechender Kleidung sah man ihm den Aussatz nicht an. Und mit Gis Hilfe könnte er sein Handwerk wieder aufnehmen. Amuthon, die Siedlung im Mündungsbereich der Oamse, wie die Friesen den Fluss nannten, von dem die Alten meinten, sein Name sei Tamesis, das aufstrebende Hafenstädtchen im Lehen der Cobbonen, erkor er als Ziel. Dort wurde seine Kunst gebraucht, denn selbst nachdem man sie im Schlachtengetümmel von Norditi bezwang, blieben die Wikinger eine stete Gefahr, hieß es, die Truppen kampfbereit zu halten. Dort war Gis weit genug von seinen Peinigern entfernt und Evroul kannte man dort nicht. Alles was dieser von Amuthon wusste, sprach für diesen Zufluchtsort. Dort sollte es gut gelingen, die Winterkälte zu überstehen.

Ein Pfeil ist nur frei, wenn er fliegt

Подняться наверх