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Ternier, im Herbst 1555

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Ich wusste nicht, wie viel Befriedigung das Werk des Henkers verschafft. Erstmals in meinem Leben kann ich mir vorstellen, dass Scharfrichter ihr Handwerk aus wahrer Überzeugung verrichten; dass sie nach vollbrachtem Tagewerk zufrieden heimkehren, sich das Essen gut munden lassen und sich dann sorglos zur Ruhe begeben. Mit einem Gefühl der Erleichterung, ja sogar Befreiung sehe ich der Hinrichtung zu, die sich unmittelbar vor meinen Augen vollzieht. Das Feuer tut sein Werk: Die Blätter rollen sich auf, die Wörter krümmen sich, die Buchstaben flehen darum, noch ein letztes Mal gelesen zu werden. Das Papier verfärbt sich, wird braun, dann schwarz, dann glühend orange und zerfällt schließlich zu Asche. Ich bin der Inquisitor, der den eigenen Hass verurteilt, der Henker, der die eigene Unruhe hinrichtet.

Bei jedem neuen Stapel, den ich in die Lohen werfe, scheint es, als würde das Feuer erlöschen, aber schon bald züngeln die Flammen wieder unter dem Papier hervor, schießen in die Höhe, reißen die Arme empor und setzen ihren ekstatischen Tanz fort. Die aufsteigenden Rauchschwaden sind meine Sorgen, die ich fahren lasse, damit sie meine Seele nicht länger peinigen. Um das Feuer zu nähren, hole ich etwas Holz aus dem Wintervorrat im Schuppen. Wir haben ja genug.

Das Leben birgt zahllose Geheimnisse. Dankbar stelle ich fest, dass ich wenigstens eines dieser Mysterien enthüllt habe. Vielleicht ist das unsere Aufgabe auf Erden: Dass es uns Menschen gelingt, zumindest ein Rätsel zu lösen, und mag es auch noch so klein sein. An dem Tag, da ein Mensch das letzte Geheimnis zu lüften vermag, wird diese Welt vollendet sein. Diesen Tag werde ich nicht mehr erleben. Aber ich hoffe, dass Gott das Opfer annimmt, das ich heute bringe, und dass er mir noch ein wenig Zeit lässt, damit ich meinen Erfolg genießen kann.

Ob ich es schaffe, alles an einem Tag zu verbrennen? In meinem Studierzimmer liegt noch ein riesiger Papierberg. Ich beuge mich nach vorn, um mich am Feuer zu wärmen. Einige Flammen lachen mich an. Auch das wusste ich nicht: dass Flammen lachen können.

Göttliches Feuer

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