Читать книгу Lustige, legendäre, skurrile und unvergessliche BEGEGNUNGEN zwischen Sokrates, Schopenhauer, Mephisto, Paganini, Hesse, Kafka und dem Zeitgeist - Franz Doppelbauer - Страница 7

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Kapitel 2

Twittero ergo sum

Essayistische Annäherung an den Zeitgeist

Von Sokrates, Jesus und anderen Denkern und Religionsgründern wissen wir, dass sie nie ein Wort aufgeschrieben haben. Ihnen war es wichtig, Erkenntnisse, Weisheiten, religiöse und ethische Grundkompetenzen – welch zeitgeistiger Begriff – durch Gespräche, Dialoge und Polyloge – wie der Philosoph Franz Martin Wimmer sagen würde –, durch Streitgespräche und mittels Bildersprache – Metaphern – den Schülern, Pharisäern und Freunden zu vermitteln.

Sie haben sich damals dem neuen Medium – der Schrift – verweigert, weil sie das Gespräch gesucht haben, da sie im Denken und Nach-Denken, auf der Suche nach der Wahrheit, einen lebendigen Prozess sahen, der sich weder in Steine meißeln noch auf Lettern fixieren lasse. Konrad Paul Liessmann fragt hypothetisch, ob sie sich wohl heute der modernen Massenmedien wie Smartphones und PC bedienen würden oder ebenso wie damals auf Marktplätzen wie der SCS nahe Wien, im SEP Einkaufspark Gmunden oder der VARENA Vöcklabruck, in der Getreidegasse in Salzburg oder am Speakers’ Corner beim Hyde Park in London mit den Interessierten disputierten; sie würden bestimmt nicht auf tausende Likes der Follower aus aller Welt warten und ihre Wichtigkeit auf diese Weise demonstrieren und zur Schau stellen, sondern face to face ihre Thesen begründen.

Leider wissen wir aus der Geschichte, dass solch freches Kritisieren und Hinterfragen mit dem Schierlingsbecher mit Gift, dem Kreuz, der Guillotine oder dem Nervengift Nowitschok endet. Sie alle waren auf der Suche nach Wahrheit.

„Am Anfang war das Wort (…). Alles ist durch das Wort geworden (Joh, 1–3), erst dann kamen die Zeichen und ganz zum Schluss die Schrift – auf der Zeitstrecke der menschlichen Entwicklung wenige Sekunden vor dem Jetzt. Durch die Kunst des geschickten Fragens und Hinterfragens – die Mäeutik – versuchte Sokrates, die im Gesprächspartner inhärenten, richtigen Antworten und Einsichten herauszufinden und – wenn nötig – ihm zu suggerieren, dass seine bisherigen Antworten falsch oder zu einfältig waren. Sein didaktisch neuer und einzigartiger Ansatz war, dass jemand selber erkannte, zu kurzsichtig gedacht zu haben oder gar im Unrecht zu sein. Oder bei Jesus, der seine Kritiker und Gegner – die Pharisäer – meist mit den eigenen unüberlegten Positionen konfrontierte, bei denen sie sich widersprachen. Sie mussten sich in Folge geschlagen geben und zogen beschämt von dannen.

Die Methode dieser beiden war pädagogisch klug und zielführend.

Man stelle sich vor, wir würden heute unseren sogenannten Besserwissern, Influencern, Bloggern und YouTubern, den Meinungsführern mit Millionen Followern, mit dieser Methode auf den Zahn fühlen, um die Wahrheit herauszufinden! Was bliebe da noch bestehen?

Wahrheit – was ist das? Wer kann schon behaupten, die Wahrheit zu kennen?

Philosophen suchten redlich nach der Wahrheit – oft unter vollem Einsatz der körperlichen und geistigen Kräfte. Ebenso Religionen mit ihren Offenbarungsschriften, geistlichen Oberhäuptern und Märtyrern. Gleichgültig, wer oder wie – auf jeden Fall aber bedarf es eines ehrlichen, langen, durch ständiges Hinterfragen begleiteten Suchens, das ein ganzes Leben andauern kann. Wer für sich diese Wahrheit, den Sinn seines Lebens, diese allumfassende kreative Kraft zur Gestaltung des eigenen, nicht immer ganz konfliktfreien, patscherten Lebens also gefunden hat, darf sich wahrlich glücklich schätzen. Wohlgemerkt: Hier ist die Entfaltung und Vertiefung des Bonum humanum gemeint, nicht die „Aus-Bildung“ als Mittel zur Qualifikation für den nicht unwichtigen Arbeitsprozess, was heute gemeinhin als Bildung verkauft und in Schulen gelehrt wird. Wer also meint, die Antwort auf diese Fragen sei eindimensional und einfach – von welcher politischen oder religiösen Seite auch immer, den würde Sokrates eines Besseren belehren.

Genau dazu neigt man heute in vielen Bereichen. Wer hätte je gedacht, dass am Beginn des 21. Jahrhunderts als Erklärung und Lösung des Flüchtlingsproblems, der Corona-Pandemie, der Frage nach Globalisierung, … Verschwörungstheorien wie im und aus dem Mittelalter hervorgezaubert werden, wo wir doch dachten, nie mehr zu der Zeit vor der Aufklärung zurückzukehren? Wir meinten, Toleranz gegenüber Andersdenkenden, Freiheit, Gleichheit der Geschlechter, … verinnerlicht zu haben. Es scheint wohl so zu sein, dass Ludwig Wittgensteins Worte „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“ mehr denn je gelten. Er sagt weiter, dass wir durch das Denken den Fallen entgehen, die uns die Sprache stellt. Die Enge und Borniertheit des Denkens, die Fallen durch Ressentiments und Vorurteile, die Grenzen durch den Nationalismus, den Fundamentalismus und den Radikalismus verengen anstatt erweitern die zeitgeistigen Einstellungen des so hoch gelobten Fortschritts des aufgeklärten, weltgewandten, weit gereisten Menschen. „Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel der Sprache“, sagt Wittgenstein. Der sich einerseits kosmopolitisch dünkende und daher durch Weltoffenheit und Toleranz auszeichnende Weltenbürger äußert sich andererseits ständig spießiger, wortkarger und gehässiger.

Die Summe genau solcher kurz und unbündig verfassten Tweets des amerikanischen Präsidenten Donald Trump beweist diese These hinreichend, gepaart mit einer recht unethischen und modernen Art, die Lüge für die als dumm verkaufte Öffentlichkeit salonfähig gemacht zu haben. Laut Patrick Gensig, Redakteur beim ARD-Faktenfinder, habe Trump in seiner vierjährigen Amtszeit nicht weniger als „22000 irreführende oder falsche Behauptungen verbreitet.“ Die Folgen sind für einen demokratisch denkenden Menschen in Amerika und Europa, aber auch in den Ländern, die zur sogenannten „Achse des Bösen“ gehören, katastrophal. Man erkennt die Lügen nicht mehr als solche; fast 50 Prozent der Amerikaner glauben diese Verdrehungen der Tatsachen mit Worten und unterstellen folglich den anderen Wahlbetrug. Wenn Wittgenstein – quasi den Menschen entschuldigend – sagt, dass „(…) die Probleme auf dem Missverständnis der Logik unserer Sprache beruhen“, dann muss man – so unglaublich bedeutend und richtig dieser Satz ist – leider konstatieren, dass bei Trump (man bedenke, dass er über 80 Millionen Follower auf seinem Twitter-Account hat) und der Menge seiner Anhänger Vorsatz und Absicht dahinter stehen. Die Lüge hat sich wahr gelogen, die Wirklichkeit formt sich nach ihrem Bilde. Man verweigert den Dialog und das für Sokrates in einer Demokratie so wichtige Reflektieren und Hinterfragen.

Amerika, quo vadis?

Man braucht aber nicht so weit in die Ferne schweifen, denn die Verdrehung der Wörter ist so nah.

Wer in den vergangenen Wochen und Monaten die Sitzungen des Österreichischen Parlamentes aufmerksam verfolgt hat, der kann nur fassungslos zusehen, wieviel Wortverdrehung, Sprachverrohung und hinterhältige, absichtlich gehässig herbeigeführte Sprachzerstörung geschieht – nicht aus Missverständnis, sondern in voller Absicht. Das alles im Namen von „lebendiger parteipolitischer Diskussion“, von „parlamentarischem Diskurs“. Hohn, Spott und Niedertracht kennzeichnen manche dieser Sitzungen in unserem sogenannten „Hohen Haus“. Vor lauter Schande über diese unsere gewählten Volksvertreter wäre es ethisch unvertretbar, Jugendlichen in dem Fach „Politische Bildung“ oder im Fach Deutsch unter dem Fachgebiet „Rhetorik“ Passagen von diesen Sitzungen zu zeigen, in denen – die Videoaufzeichnungen und Sitzungsprotokolle beweisen es – Kraftausdrücke wie „Sauerei“, „Sie sind wohl komplett verblödet“, „scheißegal“, „verarscht“, „betäubtes Faultier“, „Heuchelei“, „Lüge“, „jüngster Demenzpatient Österreichs“ (gemeint ist der Finanzminister), „Was das für Beidl sind“ usw. verwendet werden. Oder noch schlimmer: Ein Foto mit nachweislich gefälschtem Datum wird absichtlich von einer Parlamentarierin der FPÖ am Rednerpult dem Plenum gezeigt, um dem politischen Mitbewerber – in diesem Fall aber Hassobjekt – zu schaden. Nach sofortiger Aufdeckung dieser Lüge folgt weder eine Entschuldigung noch Einsicht und – was nur in Österreich durchgeht – kein Rücktritt. Geht’s noch? Die offen zur Schau gestellte Lüge und bösartige Unterstellung wird dem sachlichen, fairen, offenen, harten Dialog vorgezogen – des politischen Kleingeldes vor Wahlen wegen.

Tausende bemühte Lehrer unterrichten unzählige Schüler, welche Grundregeln des Zusammenlebens und des richtigen Dialoges und auch Grundwerte wie Anstand, würdevollen Umgang mit Andersdenkenden und Respekt in einem zivilisierten Land wie Österreich gelehrt und vorgelebt bekommen sollen. Dafür legen diese Lehrer den Amtseid ab; bei Zuwiderhandeln kommt es zu einem Disziplinarverfahren durch die Republik Österreich.

Ein Schüler irgendeiner österreichischen Schule würde mindestens ein „Wenig zufriedenstellend“ – wenn nicht sogar einen Schulverweis – bekommen, wenn er so mit Lehrern und Pädagogen spräche.

Quo vadis, Austria?

Gemessen daran scheint es ja geradezu harmlos zu sein, welche verbalen Ausdrucksweisen Jugendliche und auch zum Teil Erwachsene mit ihrer Zeitgenossenschaftsprosa in Mails und SMS pflegen.

Im Reich der „eingenetzten Wortfetzen“, wie das Daniel Glattauer zu nennen pflegt, üben E-Mailer an ihren Deutschlehrern Rache für die schikanösen, stilistisch perfekt zu schreibenden Aufsätze, hochsprachlichen Erörterungen und die Pflicht, schöne, ganze Sätze schreiben zu müssen. Die Revolte des Schreibens, zu formulieren, wie eben der Schnabel gewachsen ist, des emailisierten Wortfetzenkonstruierens ohne Prädikate, Adjektive und Konjunktionen mit anschließendem Emoji, dem Gefühlsausdruck mit Tränen, Herzerl oder dem Mittelfinger – oder wenn’s gut geht – einem grr, äh, gähn oder einem Smiley, diese Revolte des Verfassens dieses Silbenirrwitzes durch unsere jungen Alltagssprechkosmopoliten ist niemals – wie in den vorigen Beispielen geschildert – gegen jemanden gerichtet, höchstens gegen die bemühten, pflichtbewussten, sprachästhetischen und „eh ganz ok-en“ Deutschlehrer; sie sind ein Ausdruck ihres sozialen Umfeldes und altersadäquaten Formulierens. Das alles ist nicht gemeingefährlich; Anlass zur Sorge höchstens, wenn es – wie man doch zu hoffen wagt – darum geht, einmal einen gefühlvollen und emotionalen Liebesbrief oder eine Einladung zu einem Rendezvous zu schreiben. Was mehr zu denken gibt, ist die Tatsache, dass wir heute unter einem permanenten Erreichbarkeitsstress leiden, wobei die Begründungspflicht bei dem liegt, der einmal nicht abhebt. Diese von uns gar nicht mehr wegzudenkende Dauerpräsenz mit dem Smartphone hat uns unwillkürlich und unverhofft in ein Abhängigkeitsverhältnis manövriert, in dem vor langer, langer Zeit nur die Tag und Nacht unentwegt erreichbaren Dienstboten standen. Wir sind die modernen – längst obsolet geglaubten – Dienstboten des 21. Jahrhunderts geworden; permanent erreichbar für Dienstgeber, Partner, Kinder und Schüler im Homeschooling. Wem das zu viel wird, der läuft Gefahr, sich im Burnout wiederzufinden. Das ist für immer mehr Menschen der persönliche Preis für die neue Technokratie. Wenn René Descartes behauptet, dass nur der ein Mensch ist, der denke, so ist man heute nur wer, wenn man auf dem letzten Stand der Technik ist.

Twittero ergo sum.

Lustige, legendäre, skurrile und unvergessliche BEGEGNUNGEN zwischen Sokrates, Schopenhauer, Mephisto, Paganini, Hesse, Kafka und dem Zeitgeist

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