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Kapitel 3

Niki Lauda trifft Günther Anders

Technik – Segen oder Fluch

„Wenn Ihr mich sucht,

sucht mich in Euren Herzen.

Habe ich dort eine Bleibe gefunden,

werde ich immer bei euch sein.“

Diese Worte, welche angeblich von Rainer Maria Rilke stammen sollen, stechen einem ins Auge, wenn man das Kondolenzbuch aufschlägt, nachdem es am 26. Mai 1991 zu einem folgenschweren Flugzeugabsturz der Boeing 767 „Mozart“ über Thailand gekommen war. Ein technisches Gebrechen war die Ursache – die Schubumkehr setzte zehn Minuten nach dem Start in Bangkok plötzlich unerwartet ein. Die erfahrenen Piloten Thomas John Welch (CA) und Josef Thurner (FO) hatten keine Chance, den furchtbaren Unfall zu verhindern. „Verdammt!“, war laut Voice Recorder das letzte Wort des Flugkapitäns.

Verdammt viele Menschen kamen dabei ums Leben – ein Ereignis, das der Eigentümer der damaligen Fluglinie Niki Lauda später mit „Mein Rennunfall war nichts gegen das, was ich dort gesehen habe. (…) Die Ursache für den Absturz war ein Konstruktionsfehler.“ kommentierte.

Etwa neun Jahre später, am 11. November 2000, starben in Kaprun bei einer Brandkatastrophe in der Gletscherbahn 155 Menschen. Die Ursache für das Inferno waren der überhitzte Heizlüfter und auslaufendes Hydrauliköl.

Aufgrund dieser beiden Ereignisse – und man könnte noch unzählige weitere aufzählen, seit es technische Erfindungen und Errungenschaften gibt, welche allen sehr nahe gehen – drängen sich bohrende Fragen nach dem Sinn, den Gefahren, dem stetigen Fortschritt der Menschheit und der Angst vor technischen Katastrophen auf.

Zwei der hervorragendsten Persönlichkeiten, welche unterschiedlicher nicht denken könnten, sollen im Folgenden die beiden Positionen auf den Punkt bringen und dem Leser zeigen, was wir aus der Vergangenheit lernen könnten bzw. auf welche Zukunft wir zusteuern.

Die beiden Proponenten sollen vollkommen frei und unzensuriert, also wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, diskutieren und streiten dürfen; wir, die wir dem surrealen, aber nicht weltfremden Disput folgen werden, sind Zeugen eines einmaligen und epochalen Ereignisses, das vielleicht – aber eben nur vielleicht – die Welt verändern kann.

Der eine ist Niki Lauda, den vorzustellen sich erübrigt, weil ihn alle als Formel-1-Legende, später als Airliner und schließlich als Berater eines Formel-1-Teams kennen. Bei allen Tätigkeiten, die er mit Leidenschaft und Herzblut, mit Emotion und nahezu perfekter Sachkenntnis und Akribie erledigt, preist er stets den Fortschritt in der und durch die Technik als Segen für die Menschheit.

Der andere heißt Anders, Günther Anders. In seiner Vita heißt es, dass er ursprünglich den Namen Günther Stern hat. Als sein Vorgesetzter sagt, es schicke sich nicht, in Zeiten wie diesen – dem Nationalsozialismus – den jüdischen Namen Stern zu tragen, meint er: „Dann nennen Sie mich doch irgendwie anders!“. Ein neuer Stern ist geboren. Er lebt von 1902 bis 1992, ist Philosoph, Kritiker und Publizist, sein Vater William Stern war Psychologe und gilt als Erfinder des Intelligenzquotienten. Anders wird in Breslau geboren, wächst in einer bürgerlichen, gebildeten jüdischen Familie auf, studiert Kunstgeschichte und Philosophie bei Husserl und Heidegger in Freiburg und Marburg, wo er seine erste Frau Hannah Arendt kennen und lieben lernt. Er emigriert 1933 nach Paris. Nach der Trennung von seiner Frau flieht er in die USA, wo er Kontakte zu Adorno, Marcuse, Thomas Mann und Bertolt Brecht pflegt. Die Konstruktion und der Abwurf der Atombombe beschäftigten ihn dermaßen, dass er sein philosophisches Hauptwerk „Die Antiquiertheit des Menschen“ schreibt, in dem er über die durch die Atombombe möglich gewordene Ausrottung der gesamten Menschheit und die damit einhergehende, vom Menschen selbst inszenierte Apokalypse schreibt. Später verfasst er unter anderem Bücher wie „Mensch ohne Welt“, „Lieben gestern“ und „Hiroshima ist überall“. Er stirbt 1992 in Wien. Nun aber genug der Vorstellung, er möge doch seine bewegenden Erkenntnisse selber vortragen und in der „Defensio“, dem Streitgespräch, mit Niki Lauda verteidigen.

Als Treffpunkt für diese Disputation wurde der DC-Tower in Wien nahe der UNO-City in Kaisermühlen, um genau zu sein, die Lounge Rooftop Bar in diesem 220 Meter hohen Gebäude, welches am 26. Februar 2014 eröffnet wurde, ausgewählt. Die Aussicht von da oben ist überwältigend, man sieht unter sich die Reichsbrücke, die in dieser Erzählung noch eine wesentliche Rolle spielen wird, mit der U 1, welche von der Lassallestraße auf der einen Seite in die Wagramer Straße auf der anderen Seite reicht. Ferdinand Lassalle, den Hegels Ideen faszinierten, war einer der Gründerväter der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, welcher zu Lebzeiten heftige Auseinandersetzungen mit Karl Marx und Friedrich Engels hatte. Vielleicht geht es auf die Fürsprache Lassalles zurück, dass in dem seit Jahrzehnten sozialistisch regierten Wien mit Bürgermeistern von Weltrang wie Helmut Zilk, Michael Häupl bis Michael Ludwig Parteien wie die ÖVP mit dem türkisen Gernot Blümel „keine Chance nicht“ haben, wie der Kaisermühlener zu sagen pflegt. Da hilft auch die Fürsprache des heiligen Franz von Assisi nichts, der in der katholischen Kirche beim Mexikoplatz vis-à-vis vom DC-Tower verehrt wird.

Diese einmalige Location wurde vermutlich auch deswegen ausgewählt, weil in Zeiten von Corona wenigstens die Erinnerung und der Blick auf einige Bars und Orte wie die Donauinsel, die Sansibar, Rumba & Mambo und die CopaBeach gut tun. Dieser – zugegeben – jedes Touristenherz zum Höherschlagen bewegende Platz über den Dächern Wiens wurde also Schauplatz dieses Gesprächs. Während Anders – wie auch anders zu erwarten – zu Fuß von Hernals kommt, fährt Niki Lauda vom Schreiberweg im 19. Bezirk mit seinem silbernen Mercedes GT R vor und parkt anstatt, wie es sich gehört, in der Parkgarage unmittelbar vor der modernen schwarzen Donaucity-Kirche. Wie fast immer trägt er seine rote Parmalat-Kappe mit dem goldenen Lorbeerkranz auf dem schwarzen Hintergrund, ein blau kariertes Hemd, einen braunen Pullover, Jeans mit offenen Knöpfen und braune Timberland Schuhe. Hastig steigt er aus dem Silberpfeil, die Tür eilig hinter sich zuschlagend, und schon drückt er den Knopf beim Lift, um in den 60. Stock zu fahren und kurz darauf an dem Tisch, an dem Anders wartet, Platz zu nehmen.

Freundlich lächelnd nickt man sich zu.

Lauda: Ich habe sehr viel von Ihnen gelesen, Herr Anders. Wenngleich wir ganz verschiedener Meinung sind, wie ich vermute, ist es mir eine große Ehre, Sie hier treffen zu dürfen.

Anders: Und ich habe sehr viel von Ihnen gehört. Ich habe nie so richtig verstanden, warum Sie – wie Sie selber sagen – so viel „im Kreis fahren“. Bewundert habe ich an Ihnen, dass Sie nach nur 42 Tagen nach Ihrem Rennunfall vom 1. August 1976 am Nürburgring – Sie bezeichnen dieses Flammeninferno als „Barbecue“, was nicht einer gewissen Selbstironie entbehrt – Ihr fulminantes Comeback gegeben haben. Hatten Sie keine Angst, ich meine, ein Längslenker hätte wieder brechen und das Auto erneut in die Leitschienen krachen lassen können?

Lauda: Nein, niemals, ich vertraue voll auf die Technik. Man macht einen Fehler nur einmal, daraus hat man zu lernen und auf diese Weise lernt man dazu. Das ist das Geheimnis der Weiterentwicklung – in der Technik und der gesamten Menschheit. Mache einen Fehler nie zweimal – das gilt für alles. Die ganze Evolution und Ethik basieren auf diesem Grundsatz. Die Technik im Allgemeinen und die Formel 1 im Speziellen sind heute komplett sicher geworden, das ist doch total logisch. Warum? Weil jeder überleben will!

Anders: Das Überleben hätten sich aber auch die vielen Menschen in Ihrer abgestürzten Boeing über Bangkok verdient! Schon vergessen? Und die vielen unschuldig Verstorbenen bei den anderen Flugzeugabstürzen, Schiffskatastrophen, Brückeneinstürzen wie in Genua, auf den Autobahnen und so weiter.

Lauda: Das waren für mich die schwersten und entsetzlichsten Stunden und Tage damals. Ich wollte, sie lebten noch. Aber eines ist auch ganz klar: Nachher ist keine einzige Boeing 767-300 mehr abgestürzt – bis heute. Warum? Man hat die gesamte Technik gecheckt, überarbeitet und verbessert. Sie haben recht, der Preis für den Fortschritt ist hoch, aber es gibt keine andere Möglichkeit für diese kleine Welt der Zirkusaffen als Trial and Error. Ich bin mir absolut sicher, es ist nicht einfach, perfekt zu sein, aber irgendeiner muss es sein. Ich meine, wenn jeder perfekt ist, perfekt plant, perfekt arbeitet, perfekt kontrolliert, dann schaute die Welt ganz anders aus. Menschliche Schlamperei, menschliche Ungenauigkeit straft die Technik sofort und hart. Wir fahren über unsere Verhältnisse und viel zu schnell und dazu noch alkoholisiert auf den Straßen, wir warten aus Kostengründen die Flugzeuge und Autos zu wenig, wir übersehen Risse bei Brücken, wir achten zu wenig auf die Statik, wir sparen beim Bau von Gebäuden – immer sind wir es, die versagen, und darum versagt logischerweise die Technik. Ich frage Sie: Hat da die Technik Schuld? Heute werden bei der Herstellung von Geräten Fehler eingebaut, damit sie bald wieder ersetzt werden müssen – Gott sei Dank hat man diese Obsoleszenz durchschaut; alles nur des Mammons und der Verkaufsmaximierung wegen. Hat da die Technik Schuld?, frage ich Sie. Oder die Abstürze der Boeing 320 Max 8: Ganz logisch, man hat sich zu wenig lang und zu wenig genau mit der Programmierung des Bordcomputers beschäftigt. Es mussten deswegen leider zwei dieser Maschinen abstürzen. Immer sind die Menschen selber verantwortlich, wenn etwas schiefläuft, die Technik selber ist ausschließlich ein Segen für uns alle. Warum? Wir löschen von der Luft aus die immer zahlreicher werdenden Waldbrände, wir können mittels Gentechnik den Hunger in der Welt reduzieren, sofern die gierigen Menschen auch zum Teilen bereit sind, genetische Defekte und Krankheiten können in der Embryogenese diagnostiziert und zum Teil operativ behoben werden, viele Leiden und Schmerzen werden durch großartige Medikamente minimiert, Seuchen und Viruserkrankungen können – bei allem Leid, das Covid hervorgerufen hat – nach nur einjähriger Forschung mittels Impfstoff eingedämmt werden. Durch neue Technologien im Straßenverkehr, im Haushalt, in der Industrie und im Umweltschutz kann der Alltag erleichtert werden, wir haben daher mehr Freizeit, mehr Zeit für Familie, Kinder und Hobbys. In der Kommunikationstechnologie wird die Welt zu einem globalen Dorf, ein Mail wird in Sekundenschnelle rund um die halbe Welt gesendet, dank Zoom und Teams ersparen wir uns die für die Umwelt so belastenden Geschäftsreisen und konferieren zu jeder Tages- und Nachtzeit mit Menschen auf anderen Kontinenten, was in Zeiten von Pandemien hilfreich ist, wie wir in der letzten Zeit sehen. Die Welt wird sicherer und daher lebenswerter – viele Sicherheitssysteme aus dem Rennsport und der Weltraumtechnik haben Einzug in den Alltag gefunden, die Welt wird gesünder, sofern wir die wissenschaftlichen Erkenntnisse berücksichtigen und umsetzen, die Welt wird klüger, jeder vermag beinahe an jedem Ort der Welt und fast zu jedem Zeitpunkt das gespeicherte Wissen aus so ziemlich allen Wissensgebieten abzurufen, die Welt wird informierter und wir erweitern unseren geistigen Horizont, indem wir bei fast jedem Ereignis weltweit beinahe in Echtzeit via TV und Internet dabei sein können. Es wird vielleicht nicht mehr lange dauern und wir sitzen nicht mehr am Computer, sondern ein Chip wird implantiert und mit dem Gehirn und den Organen verbunden sein – eine Vision von Wearable Computers, Things that Think, die Welt wird kultureller, indem wir Konzerte, Theatervorstellungen und vieles mehr aus Sydney, New York oder Kapstadt in Zeiten von Ausgangsbeschränkungen oder Krankheit ins Wohnzimmer streamen – das, mein lieber Herr Anders, wird die Welt zum Angenehmeren und auch Besseren verändern.

Anders: Zum Angenehmeren vielleicht, aber auch zum Besseren?

Lauda: Doch, auch zum Besseren. Denken Sie nur an die künstliche Intelligenz. Maschinen werden dermaßen perfekt und fehlerfrei funktionieren, dass Menschen – und geben wir es doch zu, besonders die Armen – die entmenschlichende, monotone Drecksarbeit nicht mehr verrichten müssen. Es wird aufgrund der intelligenten autonomen Systeme viel weniger Unfälle geben, Autopiloten steuern Fahrzeuge wie Tesla völlig sicher durch die Straßen. Humanoide Roboter werden alte und kranke Menschen pflegen, sie werden sie trösten und streicheln, mit ihnen kuscheln und alle Begehren befriedigen. Oder sehen Sie das demographische Problem der Überalterung in den westlichen Ländern nicht? Roboter können, ohne einen Menschen zu gefährden, riesige, in den Kriegen verminte Gebiete wieder urbar machen oder durch Reaktorkatastrophen verseuchte, verstrahlte und unzugängliche Gebäude und Gebiete „betreten“ und den radioaktiven Müll entsorgen.

Anders: Sie vergessen bei all der Fortschrittseuphorie die wichtig­sten Faktoren, nämlich das Verantwortungsbewusstsein, die geistige und körperliche Konstitution und das Zeitmanagement des Menschen. Viele Ältere können diesen Entwicklungen nicht mehr folgen, viele haben Probleme und Stress, mit dieser für sie neuen Technologie umzugehen, sodass sie – beruflich und privat – ins Burnout schlittern, viele verlagern ihre früher persönlichen Kontakte ausschließlich in Social Media mit Kurzpostings und Likes. Das führt zu Vereinsamung und gesellschaftlicher Isolierung. Diese Medienrevolution führt zu Manipulation und Entpersönlichung. Man bestellt online auf Kosten unserer heimischen Arbeitskräfte unter Ausnützung der Mitarbeiter bei Online-Riesen, sie zahlen kaum Steuern und achten bei den prekären Arbeitsverhältnissen zu wenig auf das Arbeitsrecht der Mitarbeiter. Instagrammer manipulieren die Jugendlichen, der Fernsehapparat und der PC werden zum negativen Familientisch, sie werden das neue Familienzentrum; der Hausaltar, auf den stumm gestarrt wird, wo früher noch miteinander gesprochen wurde. Der Mensch geht seiner Sprache und Freiheit verlustig, wird stumm, passivisiert und zum Hörigen, zum Voyeur, zum Konsumenten einer von Medienkonzernen für ihre Zwecke aufbereiteten geschönten Wirklichkeit. Denken Sie an die Zeit von Berlusconi in Italien und Trump in den USA. Hier wird Politik gemacht, die Wahrheit zurechtgezimmert und millionenfach ausgestrahlt bzw. gepostet, so lange, bis die Lüge als Wahrheit geglaubt wird – wenn eine Wahlniederlage in dem Land mit vermeintlich hohem demokratischen Standard als Sieg gefeiert und als Folge von Wahlbetrug verkauft wird und Millionen Menschen dafür auf die Straßen gehen, da sie diesen Unsinn glauben.

Lauda: Sie verteufeln die Medien, aber haben nicht gerade Sie erlebt, dass durch die Medien engagierte kritische Menschen aufgerüttelt wurden und sich solidarisierten? Hat nicht gerade der Vietnamkrieg zu Demonstrationen und öffentlichen Protesten geführt, die schließlich zur Beendigung dieses langen, sinnlosen Krieges beigetragen haben? Oder wurden nicht in jüngster Zeit korrupte Systeme und Machthaber gestürzt – denken Sie an den Niedergang des DDR-Regimes und in Folge den Fall der Berliner Mauer. Die Medien sind zur wichtigsten Macht im Staat aufgestiegen – ob uns das gefällt oder nicht. Sie kontrollieren und hinterfragen die Mächtigen, sie decken Missstände auf. Sie organisieren aber auch Spenden- und Hilfsprojekte wie Nachbar in Not oder Licht ins Dunkel.

Anders: Ja, das stimmt, aber warum sind denn diese Menschheitstragödien überhaupt entstanden?

Warum gibt es dermaßen viele Flüchtlinge, die unserer Hilfe bedürfen? Warum wird es, wenn die Klimaveränderung weiter fortschreitet und der Meeresspiegel aufgrund der Polschmelze laut den Berechnungen der Wissenschaftler mehrere Meter ansteigen wird, in einigen Jahrzehnten zwei Milliarden Klimaflüchtlinge geben? Sind es nicht gerade die von Ihnen so hoch gelobten technischen Errungenschaften, welche in Kriegen und bei der Ausbeutung der Ressourcen schreckliche Schäden bei Mensch und Umwelt anrichten? In dem Maß nämlich, wie das in den letzten sieben Milliarden Jahren nicht der Fall war. Sehen Sie die Konsequenzen nicht?

Blicken Sie doch ins 20. Jahrhundert zurück. Ich sehe die globale Bedrohung der gesamten Menschheit. Mein Pessimismus leitet sich einerseits von der Vernichtungspolitik der Nazis ab. Diese haben mit ihrer Barbarei unter anderem in Auschwitz durch fabrikmäßige und industrielle Vernichtung von Millionen von Menschen das Monster im Menschen geweckt und das Monströse ermöglicht. Dabei haben Menschen wie Adolf Eichmann und viele weitere den Prozess der massenhaften Tötung organisiert. Sie taten es, weil man ihnen den Befehl dazu gab, den sie, ohne diesen kritisch zu hinterfragen, ausführten. Am Schreibtisch – weit weg von den Opfern – wurden die Transporte in die Lager organisiert. Der Arbeiter – eine Beleidigung dieses ehrenwerten Begriffes in diesem Zusammenhang – hat seine „Pflicht“ getan, weil – wie meine erste Ehefrau Hannah Arendt festgestellt und Stanley Milgram in seinen wissenschaftlichen Studien und Experimenten ab 1961 in New Haven bewiesen hat – die Opfer und die Täter bei der technischen Ausführung entkoppelt und weit voneinander entfernt waren. Diese Verbrechen nicht nur gegen die Menschlichkeit, sondern auch gegen die Menschheit per se können mit der „Banalität des Bösen“ erklärt, aber niemals entschuldigt werden. Der Mensch wächst gleichsam schön langsam in das Böse hinein, er schaltet schön langsam sein kritisches Denken aus, er gehorcht der Masse, die zur willfährigen Herde geworden ist. Das sadistisch Monströse am Holocaust war, dass Eichmann als Prototyp des biederen, geistig abgestumpften Beamten, der Karriere machen wollte, als an sich bedeutungsloser und angepasster Mensch im Grunde aus Pflichterfüllung gehandelt hat.

Ich bin andererseits auch deswegen so pessimistisch, weil ich gegenwärtig eine vollkommen unkritische Haltung gegenüber der scheinbaren Allmacht alles Technischen gegenüber konstatiere. Hauptsache Fortschritt, oberste Priorität hat der Wohlstand und ohne diesen gibt es keinen Fortschritt. Dabei werden die Gefahren nicht bedacht. Die Technik wird zum Subjekt, der Mensch wird zum Objekt degradiert. Wachstum auf Teufel komm raus. Herr Lauda, Ihre Sicht der Fehlerlosigkeit der Technik, Ihr Glaube an die Allmacht der Technik und in weiterer Folge an den sterilen und sauberen Krieg mit Kollateralschäden, aber mit unendlich viel Leid, diese Technik, die Sie vorhin in Ihrer Suada gelobt haben, führt aber zur Ohnmacht des Menschen, weil er in Wahrheit überflüssig wird, liquidiert wird. Die Technik macht alles, richtet alles, berechnet und optimiert alles, erzeugt alles, sie ist omnipotent, sie ist frei, ihr wird alles zugetraut. Unser Vertrauen in sie ist grenzenlos. Das hat folgerichtig die Konsequenz, dass der Mensch unfrei, unterlegen, ein Mängel-Wesen, fehleranfällig und somit überflüssig wird. Er hat sich den Bedürfnissen der Technik unterzuordnen. Tut er das nicht, kommt es zu „menschlichem Versagen“. Wehe, wenn der Lockführer aus psychischen Problemen, Liebeskummer oder seelischen Sorgen anstatt auf den Computer in der Lokomotive auf sein Smartphone blickt und seiner im Sterben liegenden Mutter eine SMS schreibt. Das führt zur Katastrophe durch „menschliches Versagen“. Hätte man doch keinen Menschen in die Lok gesetzt, wäre das Unheil ausgeblieben. Herr Lauda, blicken wir da nicht in eine trostlose, menschen- und arbeiterleere, entmenschlichte Zukunft? Ihre Perfektion in der Technik übersteigt in der Tat die kognitiven und emotionalen Fähigkeiten des Menschen. Finden Sie sich hier wieder? Welche Aussichten haben da unsere Kinder und Enkelkinder? Sie kennen doch Max Frischs „Homo Faber“, Carl Zuckmayers „Des Teufels General“ und Friedrich Dürrenmatts „Die Physiker“? Sie alle und viele andere haben diese Gefahren vorausgesagt.

Der zweite Grund für meinen Pessimismus ist noch viel dramatischer. Ich bin der Überzeugung, dass wir und unsere Nachfahren in der unwiderruflich letzten Epoche in der Geschichte der Menschheit angekommen sind. Ich begründe das damit, dass mit dem 6. August 1945 jenes Zeitalter begonnen hat, in dem wir Menschen mit den technischen Hilfsmitteln an jedem Ort der Welt in jedem Augenblick unsere ganze so wunderbare, einmalige und großartige Welt in ein Inferno wie in Hiroshima verwandeln können – und das nicht nur einmal. Dann war es das wohl für immer und ewig. Dieser letzte und endgültige Akt der Selbstzerstörung kann – ich sage „kann“, nicht „muss“ – bevorstehen. Wenn eine Handvoll Piloten emotionslos auf einen Knopf drückt, ohne den Verbrennenden, Verkochenden, Sterbenden im Atompilz in die Augen sehen zu müssen, wenn Täter und Opfer so sehr getrennt werden, wenn man die von den Tätern verbrannt hinterlassene Erde, die Todesschreie der Kinder, das sich Wehren der Tiere und die unwiederbringliche Natur nicht mehr sehen, hören, spüren und erleben muss, dann fürchte ich, wiederholt sich die Geschichte von Eichmann einerseits und die vom Abwurf der Atombomben durch die Amerikaner auf die Japaner andererseits. Wenn durch diese von Ihnen so hoch gepriesene Technik einige irregeführte Männer ohne Gewissen und Hoffnung die Möglichkeit haben, einen solchen apokalyptischen Wahnsinn zu inszenieren, in dem in Bruchteilen einer Sekunde Millionen Menschen ausgelöscht werden, dann ist es zu spät, wenn Oppenheimer resümierend und schuldbewusst erkennt: „Wir haben durch den Abwurf der Atombombe die Sünde kennengelernt.“

Lauda: Soviel ich weiß, hatten Sie Briefkontakt mit dem Hiroshimapiloten Claude Eatherly. Hat Sie dieser Mann sehr beeinflusst?

Anders: Ja, sehr! Wenn die Zukunft also einem solchen modernen Massenmord gehört, dann wäre es doch endlich an der Zeit, die Technik zu hinterfragen und die möglichen Folgen nicht naiv und blind zu banalisieren.

Lauda: Das alles klingt zwar verständlich, ist aber furchtbar pessimistisch. Sie sind Wissenschaftler, Ethiker und sehen wie ich die Dinge logisch und nüchtern. Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma, einen Lösungsansatz? Ich war in allem, was ich tat, sehr erfolgreich, weil ich nie aufhörte, lösungsorientiert zu sein. Wir werden doch auch diese Herausforderung meistern? Oder ist es zu spät?

Anders: Meine Antworten klingen vielleicht pathetisch und naiv für Sie, aber es gibt – frei nach Augustinus – keine Zukunft, wenn es keine Hoffnung gibt, Zukunft ist Erwartung und wenn es keine Erwartung gibt, gibt es keine Zukunft. Was erwarten wir uns?

Wie wär’s, radikal pazifistisch und ethisch unseren Kindern und Enkelkindern zuliebe auf Gewaltanwendung komplett zu verzichten, auf Waffenlobbyisten nicht zu hören, auf Spekulationen mit Aktien der Waffenindustrie zu verzichten, sich bei Wahlen nicht von solchen Firmen sponsern zu lassen?

Wie wär’s, endlich aus der zum Teil mörderischen und ausbeuterischen Geschichte zu lernen und einzusehen, dass dieser Weg ein Irrweg war? Stehen Länder nach dem Krieg etwa besser da als vorher? Österreich nach 1918? Deutschland nach 1945? Syrien jetzt?

Wie wärs, endlich radikal auf das Herz zu hören, auf die Erkenntnisse der Ethik von Sokrates über die Urchristen, von Mahatma Gandhi über Nelson Mandela und Desmond Tutu bis hin zu Martin Luther King und Václav Havel?

Nach diesem langen Monolog war es in der Bar auf einmal ganz still geworden.

Kein Wort, keine Bewegung.

Die Blicke sind durch das Fenster ins Freie gerichtet.

Plötzlich ein Knistern, ein Knarren, ein Kreischen.

Ein aus dem Nichts kommendes Donnern und Dröhnen.

In eben diesem denk- und merkwürdigen Augenblick kracht und knarrt es in unmittelbarer Nähe.

Die Reichsbrücke mitsamt den sich darauf befindlichen Bussen und Fahrzeugen stürzt in die schöne blaue Donau und versinkt in den Wellen wie einst die Brücke am Tay.

Sprachlos und blass stehen die beiden in seltener Eintracht nebeneinander und blicken sich verwundert und fragend in die Augen.

Lustige, legendäre, skurrile und unvergessliche BEGEGNUNGEN zwischen Sokrates, Schopenhauer, Mephisto, Paganini, Hesse, Kafka und dem Zeitgeist

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