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1. Kapitel. Mobil!

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Von St. Marien schlug die Turmuhr 4 Uhr morgens. Die Augustsonne kam hoch, und das Licht der elektrischen Lampen verblasste im Kontor. Helmuth Stahl schob den Sessel zurück und ging langsam an das offene Fenster.

Der Ausschnitt der gegenüberliegenden Dächer ließ ein gutes Stück Himmel frei, und in diesem atlasblauen Morgenhimmel standen scharf und nah die beiden Doppeltürme des Domes.

Hell und klar zeigten die großen, goldenen Zeiger der Turmuhr die Stunde. Auf den beiden Turmspitzen spielten die goldenen Wetterfahnen im leichten Winde, drehten so gleichmäßig ab und schwenkten ein, als wenn sie eine wohleinexerzierte Infanterierotte wären, und die zackigen Fahnenspitzen grüßten wie zwei funkelnde Morgensterne den Hinaufschauenden.

Durch das offene Fenster schlug die frische Morgenkühle in den Raum hinein, und von der Gasse wurde das anschwellende Summen des Marktes, auf dem die Händler ihre Stände aufbauten, hinaufgetragen.

Stahl kehrte an seinen Arbeitsplatz zurück.

Vor ihm lagen die Geheimbücher der Firma über die letzte Geschäftsbilanz, die mit dem 1. Juli befriedigend abschloss. Vor ihm stand die Kasse und vor ihm lagen geschlossen die letzten Briefe, die ein Mann schreibt, wenn er in den Krieg geht.

Stahl stützte das Kinn auf die Faust und sann.

Es geht heute in den Krieg. Das bisherige bürgerliche Leben ist abgeschlossen, und ein neues Konto wird eröffnet. Was wird dieses neue Konto an Eintragungen aufweisen? Abgeschlossen ist das bürgerliche Konto des Kaufmannslebens. Jetzt gibt es kein Festangebot für die Zukunft. Freibleibend, dieses kaufmännische Wort hat einen neuen, geheimnisvollen Sinn erhalten. Heute Mittag wird die Verladung des Infanterieregiments Altmark beginnen. Und dabei ist auch seine Maschinengewehrkompanie, und noch früher wird mit einem Sonderauftrag der Leutnant Stahl, also er selbst, mit seinen Waffenmeistergehilfen dem Regiment voraus nach Westen, nach Essen zu Krupp fahren. Helmuth Stahl schlug die Bücher zu. Legte sie und die Briefe in das Geheimfach des doppeltürigen Geldschrankes, schloss das Hauptschloss mit dem Steckschlüssel, richtete die beiden Drehschlösser und legte den altertümlichen Sicherungsriegel vor.

Als er das gewichtige Schlüsselbund abzog, sah er auf den mattglänzenden Stahlplatten des Schrankes sein Spiegelbild. Sah die langen, braunen Reitstiefel, die weiten Reitbeinkleider, den Uniformrock und dachte an den Gegensatz von Kaufmann und Soldat und daran, dass drei Kaufmannsgenerationen der Familie Stahl diesen alten Geldschrank geöffnet und geschlossen hatten.

Würde eine vierte Generation ihn dereinst benützen? Würde es das letzte Mal sein, dass er ihn selbst schloss?

Stahl füllte mit einem tiefen, langen Atemzug die Brust und umfasste mit einem Blick sein altes Privatkontor.

Vaters Bild, Fabrikbilder, Geschäfts- und Ehrendiplome und das große Doppelpult, an dem sie alle gesessen. Auch seine alte Mutter.

Und nun wird von morgen ab wiederum die kluge alte Frau dort sitzen und ihr gegenüber die junge Frau Stahl, seine Frau, Gerta. Und wieder, wie schon einmal, wird die Leitung der Firma in Frauenhänden liegen.

Herrgott im Himmel, schütze sie. Schütze sie und die Kinder!

In der Kehle kam ihm etwas hoch. Nicht weich werden. Noch einmal sah er ringsum und ging dann ruhigen Schrittes hinaus.

Er schritt langsam die Treppen hinunter durch die langen Gänge der Drogen- und Lagerböden bis zum Erdgeschoss in die Maschinenräume und in den großen Destilliersaal, wo die beiden großen Viertausender aufgestellt waren, um Kräuter und Öle zu destillieren. Dieser Raum mit seinen Apparaten war sein Stolz. Er hatte ihn selbst entworfen nach den Vorbildern der großen elsässischen Brennereien.

Stahl klopfte mit dem Knöchel gegen die blitzende, kupferne Rundung. Die Brennblasen waren voll beschickt und für die Arbeit fertig.

Der frische Duft der Pfefferminze erfüllte die Fabrik, begleitet, gewürzt von jenem eigentümlich starken Drogenaroma, ohne das sich Stahl Haus und Hof, Fabrik und Apotheke von Kindheit an nicht denken konnte.

Bilder der Jugend, Bilder der Vergangenheit stiegen auf.

Herrgott, wie schnell die Folge der Jahre.

Hatte Kaufmannslehre, frohe Studentenjahre, fremde Stellungen im Inland und Ausland, Reisetätigkeit und dann die sieben Jahre nach des Vaters und des Bruders Tod, und harte Aufbauarbeit, bis die Firma wieder oben war. Nach diesen schweren Jahren sollten nun schönere kommen. So hatten er und Frau Gerta geplant. Neben der Berufsarbeit wieder mehr Sport und Bücher, Reisen und Berg- und Skifahrten. Ja, so hatten sie gedacht, ferienfroh im schönen Egern am Tegernsee, bergfroh in den Ötztalern, wo sie das Telegramm erreicht hatte: „Drohender Kriegszustand !“

Die wenigen Tage nach der Rückkehr waren vorbeigerast. Mobilmachung. Beschleunigter Abschluss der Jahresbilanz der Firma und die Beratungen: Wie stellen wir uns auf die Zukunft ein, wenn alle kriegsdienstpflichtigen Männer der Firma ins Feld gehen?

„Sollen denn alle meine vier Jungens ins Feld gehen! Können wir nicht einen für die Firma dabehalten?“

„Nein, Mutter“, hatte Helmuth Stahl auch für seine Brüder mit geantwortet, „wir wissen, wie schwer ihr Frauen daran tragt, aber von uns kann keiner zurückbleiben, wenn der Kaiser ruft. Mutter, wir sind nun einmal Altmärker. Stahls haben schon unter den Brandenburgern und Hohenzollern gefochten. Wir haben Altmärkerblut in uns. Wir sind nicht nur Potsdamer Wachtparade und Sommerleutnants. Wir müssen mit. Und, Mutter, wir sind ja Weihnachten spätestens wieder zurück.“

Das alles war gestern Abend, als die alte Frau Doktor Stahl in ihrer Wohnung die Familie noch einmal versammelt hatte, noch einmal durchgesprochen worden. Dann hatte sich Stahl von Frau Gerta auf eine kurze Stunde beurlaubt, um seine letzten Sachen oben im Büro zu ordnen.

Daraus waren Stunden geworden, unbemerkt, bis die alte Uhr von St. Marien ihn gemahnt hatte. —

Durch den Fabrikraum hallten Schritte. Das alte Faktotum Meister Jakobs trat auf Stahl zu.

„Na, Jakobs, so früh schon auf? Sie sollten noch in den Federn liegen. Wenn wir weg sind, wartet aus euch viel Arbeit und auf Ihre Schulter, lieber Jakobs, wird ein schwerer Sack von Mühe gelegt — Und Verzollung sicher Brutto für Netto.“

„Ich weiß, Herr Helmuth — entschuldigen — Herr Leutnant heißt es ja jetzt. Aber haben Sie keine Sorge. Ich verlasse die Damen nicht. Wir werden schon alles in Schuss halten, bis Sie wiederkommen.“

Stahl fasste des Alten Schulter.

„Ich weiß es, lieber Jakobs. Wir bleiben zusammen, auch wenn wir räumlich getrennt sind“ — Stahl musste lachen — „nun haben Sie ja reichlich Gelegenheit, Ihren Altmärker Dickschädel als Fabrikleiter für die Firma einzusetzen. — Ich will jetzt hinaufgehen und noch zwei Stunden schlafen. Ich habe über den Büchern die Zeit vergessen. Wir sehen uns wohl noch, wenn nachher die Reise losgeht. Und wenn es auch dieses Mal auf eine ernste Tour geht — ich denke doch, dass wir in einigen Monaten zurück sein werden.“ „Jawoll, Herr Leutnant, ich meine auch, Sie werden schon wiederkommen. Aber mancher wird nicht wiederkommen, und ob es so schnell geht, das weiß man nicht. Wir wollen es hoffen.“

Als Stahl oben im Vorderhaus seine Wohnung erreichte, war er nicht im Geringsten müde, sondern eher überwach. Er überlegte, ob es noch Zweck hätte, das Bett aufzusuchen. Dann aber sagte er sich, dass wohl die nächsten Tage viel Arbeit und wenig Schlaf bringen würden, und entkleidete sich in seinem Turnzimmer im Vorraum.

Leise ging er durch das Kinderzimmer und spürte den feinen, leichten Atem seiner beiden Töchter, als er sich über die kleinen Schläfer beugte. Dann trat er in das gemeinschaftliche Schlafzimmer.

Die Lampe am Bett seiner Frau brannte. Frau Gerta war eingeschlafen und das Buch, in dem sie gelesen, war ihren Händen entglitten. Stahl sah auf die Schlafende, dann hob er das Buch auf, das offen am Boden lag.

Es zeigte die letzte Seite von „Kim“, und Stahls Blick fiel auf die Schlussworte: „Er kreuzte die Hände auf seinem Schoß und lächelte, wie ein Mensch lächeln mag, der Erlösung gewonnen hat für sich und die, die er liebt.“

Das Wort berührte ihn seltsam.

Reglos stand er lange und sann darüber nach.

Dann löschte er das Licht. —

M.G.K.

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