Читать книгу Der Teufel in der Parade - Franz vom Seefeldt - Страница 11
Sternschwuppen
ОглавлениеBei der Hitze und der hohen Luftfeuchtigkeit perlen die Schweißtropfen jetzt von allen nur so von der Stirn. Wolfgang reicht allen von der Sonnenmilch, die er gerade in der Apotheke erstanden hat. Wir sollen gut geschützt den Tag überleben. Schutzfaktor 50. Höher geht es fast gar nicht.
Der Zug lässt heute besonders lange auf sich warten. Hin und wieder fragen wir Björn, der mit seinen 1,92 m aus der Menge herausragt, ob er schon etwas von der Parade sehe. Dann schaut er von seinem Handy hoch. Er sendet immer noch eine SMS nach der anderen an seinen Jan. Er blickt den Ku´damm entlang und schüttelt verneinend den Kopf. »Aber da kommt eine Mutter mit einem Kinderwagen und einem kleinen Jungen. Macht der einmal Platz!«, bittet er uns.
Die Frau, die ihre Haare mit einem Kopftuch und den Körper mit viel zu viel Stoff verhüllt hat, schiebt sich und ihre Familie dankbar durch das Spalier, das wir ihr auf dem Grünstreifen bereitet haben. Der kleine, schwarzhaarige Junge trottet hinterher und lächelt so herzallerliebst, dass jeder ihn sofort adoptieren möchte.
Ein Seufzen geht durch unsere Reihe.
»Unserem Kind würde ich auch so ein niedliches T-Shirt anziehen«, flüstert Kathleen mir zu, »der aufgedruckte Papagei auf dem Skateboard ist genauso süß wie der Junge selbst.«
Der Kinderwagen ist schon fast in der Joachimsthaler Straße in Richtung Zoo verschwunden, da dreht sich der kleine Mann noch einmal um, winkt und lächelt uns schelmisch zu.
»Was für ein niedliches Kind!«
Auch Wolfgang ist von dem Knirps fasziniert.
»Vielleicht ist es in Wirklichkeit der Satansbraten in Person!«, gibt Thomas zu bedenken.
»Definitiv nicht!« Da sind sich die anderen einig.
Engel oder Teufel? Gut oder Böse? Diese Frage ist meiner Meinung nach eigentlich albern, ideologisch verbrämt und so was von 1968er. Alles enthält sowohl positive als auch negative Eigenschaften in sich. Außerdem bewertet jeder das anders. Für Wolfgang wären die Kapitalisten böse, für mich kommen manche Vorstandsvorsitzende von börsenorientierten Unternehmen Superhelden gleich. Für einige ist der weiße Mann der gute Mann und der Schwarze der böse, bei anderen ist es genau umgekehrt und den meisten ist die Hautfarbe egal. Geht es dann um den Geschlechtsverkehr, ändern sich die Bewertungen erneut – wegen der angeblich enormen Schwanzlänge, die man den Männern mit dunklem Teint andichtet.
Kathleen bekommt ihren Einsatz: »Urinieren im Sitzen ist gut, im Stehen böse.«
Ich halte dagegen: »Es kommt nur darauf an, ob du dein bestes Stück beim Pissen mit der linken oder der rechten Hand hältst.«
Wolfgang und Thomas schauen mich völlig verdutzt an.
»Ist euch das noch nie aufgefallen? Einige Araber benutzen beim Wasseerlassen stets die linke Hand.«
Wolfgang: »Wo hast du das denn her?«
Ich: »Tut doch nicht so. Als ob ihr nicht auf den öffentlichen Toiletten mal zum Nebenmann geschaut habt.«
Die anderen kreischen: »Niemals. Dafür kommt man doch in die Hölle!«
Björn fragt völlig naiv: »Gibt es denn einen Grund, warum man beim Pinkeln seinen Penis nicht mit der rechten Hand halten sollte?«
Wolfgang vermutet: »Wahrscheinlich steht das in irgendeiner Schrift eines Propheten oder Heiligen oder Hadith oder sonstwo und jetzt gibt es genügend, die sich daran halten.«
Thomas etwas ungläubig: »Du meinst doch nicht ernsthaft, dass ein Gott sich mit solchen Fragen abgibt. Da geht es doch immer um das Große und Ganze.«
Wolfgang: »Natürlich nicht, solche Regeln werden von Menschen aufgestellt. Wenn das dann noch im Namen des Glaubens geschieht, dürfte es sich dann doch eher um reine Gotteslästerei handeln.«
Thomas kichert in sich hinein. Keiner weiß, woran der schon wieder denkt.
Wolfgang dann weiter: »Aber lustig wäre das schon. Das elfte Gebot: Deinen Schwanz darfst du nur in die linke Hand nehmen, weil der ist böse – sehr, sehr böse.«
Ich: »Und das, wo ich doch so ein positives Verhältnis zu meinem Glied habe. Beim Wichsen werde ich jetzt erst recht nur noch die böse Hand nehmen!«
Wolfgang: »Du bist ja auch schon selbst jenseits von Gut und Böse.«
»Hauptsache, ihr wascht euch danach die Hände!«, beendet Iris ihren kleinen Gesundheitsschlaf auf dem Rasen. »Außerdem: gepinkelt wird ab sofort nur noch im Sitzen. Ist das klar? Dass frau das den Kindern immer wieder sagen muss …«
»Ja, Mutti!«
In der Schwarz-Weiß-Welt hat alles seinen festgelegten Platz und das heißt für die erste Reihe: Ein Geißenpeter trägt die Krachlederne, denn ein Mann hat die Hosen an. Heidi ist sittsam im Dirndl. Eine anständige Frau trägt halt Rock, steht in der Küche und versorgt die Kinder. Der Mann geht täglich zur Arbeit und kommt auch abends wieder nach Hause – mit dem verdienten Geld! Eine allein erziehende Mutter, die für den Lebensunterhalt sorgen musste, galt bei Soziologen noch als eindeutiges Zeichen der Armut der Unterklasse. Auch in der Wissenschaft gibt es immer Professoren, die nicht die Wahrheit suchen, sondern nur eine Ideologie, und sei es eine, die die Geschlechtertrennung propagiert.
Der Aschenbecher war voll von Zigarettenstummeln. Auf dem niedrigen Wohnzimmertisch standen die Flasche Korn und das Bier. Großvater war aus dem Dachgeschoßzimmer runtergekommen. Auf dem Schwarz-Weiß-Fernseher flimmerte das ZDF-Magazin. Erst die Beatles mit den weibisch langen Haaren, dann Studenten, die auf die Straße gegangen waren, und nicht genug zu verurteilen, diese verräterische Ostpolitik dieses sozialdemokratischen Kanzlers, der dafür noch zu allem Überfluss den Friedensnobelpreis erhielt, da war diese Sendung für Wolfgangs Opa und den Vater ein Lichtblick. Unverschämt, dass die Kommunisten und all die anderen Störenfriede den Moderator, diesen Löwenthal, als reaktionär diffamierten. Er sagte doch nur die Wahrheit.
Mutter stellte Salzgebäck auf den Tisch.
Ein Mann hat die Frau zu begehren und die Frau dabei dem Mann willig ergeben zu sein. Der Mann ist mutig, stark und voller Willenskraft, weint nie, kann abstrakt denken, während das Weib mütterlich, schwach, aber dafür mit hoher sozialer Kompetenz ausgestattet ist.
Der Großvater hatte beide Weltkriege erlebt. Er redete nicht darüber. Aber der Krieg namens Emanzipation, den die Frauen da entfacht haben, war für ihn schlimmer als die beiden wirklichen Katastrophen. In Wolfgang, der gerade pubertierte, rumorte es gewaltig. Er hoffte schon damals auf die Gleichberechtigung aller Menschen. Aber seine Meinung war, so lange seine Füße unter dem elterlichen Wohnzimmertisch waren, nicht gefragt. Wenn die Erwachsenen reden, haben die Kinder zu schweigen. Die Litaneien seines Großvaters und seines Vaters waren zu erdulden, denn die Großen hatten immer Recht:
Der Ehegatte darf seinem angetrauten Weibe schon einmal erlauben, Auto zu fahren, aber nur dann, wenn sie ihn bitten muss, den Wagen in die Parklücke zu fahren … Dann weiß der Mann noch, was ein Mann ist … da herrschen klare Verhältnisse … Ein solches Weltbild gibt Halt und mag einem den Weg weisen. Vor allem einfach denkende Menschen werden durch dieses nicht überfordert, und alles, was dem widerspricht, ist des Teufels, wo immer der darin stecken mag. Notfalls muss man sich die Welt nach seinem Bild zurechtbiegen, auch wenn das mehr als totalitär ist. Was nicht diesem Diktat entspricht, gehört ausgemerzt oder zumindest zur Halbwelt, in dem die Dämonen hausen. So wie in der Landvilla dieses ewigen Junggesellen, dem reichen Schnösel. Man munkelt, dort gebe es ein richtiges Sodom. Männer laufen dort nur in Unterhosen herum, während sie sich besaufen. Ein anderes Mal lädt er zu einem Bal des Têtes ein, bei dem die Herren sogar splitternackt, nur mit einer Gesichtsmaske verkleidet, Bambule machen, und sich – ein noch größerer Skandal – dabei fotographieren lassen. Allesamt nur dekadente Teufel, mit denen Wolfgangs Familie nichts zu tun haben will. Vor denen muss man die Kinder schützen.
Die Lebenswirklichkeit ist der schlimmste Feind dieses Ordnungsbildes – all die Männer, die ihren Gefühlen freien Lauf lassen wollen, oder Freude daran haben, mit einem Kinderwagen durch die Straßen zu ziehen. Was für eine Selbsterniedrigung des doch eigentlich starken Geschlechts! Die stellen doch das klare Bild des Mannes infrage. Ist das nicht ein unwürdiges, feminines Verhalten? Und ganz schlimm sind diese Schwulen. Machen die nicht Liebe wie eine Frau zu einem Mann? Schwule müssen immer verweiblichte Männer sein. Nur daran erkennt man sie.
Sex mit einem Schwulen ist allenfalls noch denkbar, wenn man den warmen Bruder wie einen Mann von hinten rannimmt, oder? Dann ist man ja zumindest selber nicht schwul. Und außerdem: Wo kämen wir denn hin, wenn Männer nicht nur die Frauen, sondern Männer lieben würden? Oder noch schlimmer: sich als Dame von Welt verkleiden würden? Ja, wo kämen wir dann hin?
Na klar, in die dunklen, verruchten Spelunken der Halbwelt, wo Travestiekünstler große Film- oder Schlagerstars imitierten.
Orte verschämter Frivolität, an die sich der biedere Familienvater erst gar nicht traut. Nischen, in denen offen schwul lebende Menschen wenigstens eine Einkommensmöglichkeit hatten, auch wenn nicht die gesellschaftliche Anerkennung. Orte, an denen nicht das Entweder-Oder herrscht, sondern das Sowohl-als-Auch. Orte, an denen es auch zu Zeiten des Schwarz-Weiß-Fernsehens schon recht bunt zuging. Orte am Nachthimmel, an denen regenbogenfarbene Sterne leuchteten.
Wolfgang verließ früh das elterliche Haus, um eine Buchhändlerlehre zu machen. Sein Großvater meinte zwar, zu viel lesen schadet, aber da war es ihm schon egal. Den Eltern und dem Großvater hat er, der ansonsten doch so viel redet, nie erzählt, dass er homosexuell veranlagt ist. Warum auch, wenn die schon mit der Frauenemanzipation so große Probleme hatten. Sollten die doch ihr verschrobenes Weltbild behalten.
Die Schwarz-Weiß-Dämonen wurden seitdem gewaltig gepiesackt: Die Pornowelle samt sämtlicher Oswalt-Kolle-Filme und Schulmädchenreporte, eine damals noch progressive Alice Schwarzer, Rosa von Praunheim … all das und noch viel mehr mussten zur Schadenfreude Wolfgangs Vater und Opa seitdem ertragen.
Das Cabaret Chez Nous verließ in den 1970er die Unterwelt und fing an, durch die Stadthallen der Provinz zu tingeln. Noch immer hing etwas Verruchtheit ihrer Show an, aber davon ging die Welt wirklich nicht mehr unter.
Mary und Gordy bewiesen Anfang der 1980er, dass Travestie die Massen ansprechen kann, vor allen Dingen, wenn so viel mehr dahintersteckte – und zwar an Talent und Professionalität. Nach dem Tod ihres Bühnenpartners behielt Mary ihre große Popularität auch bei einem Publikum, das nicht gerade unter dem Verdacht stand, schwul zu sein. Nur Spötter behaupten, TV-Werbung für Marmelade machen zu dürfen wäre der Höhepunkt ihrer Karriere gewesen.
Lilo Wanders kam Anfang der 1990er via Bildschirm in die deutschen Wohnzimmer. Am Anfang übertragen aus Schmidts Tivoli in Hamburg. Das war dem Bayerischen Rundfunk noch zu schrill und blendete sich aus dem Programm. Später wusste unsere Lilo dann im Fernsehen schon offen und bundesweit über Sex zu reden.
Und jetzt und wahrhaftig: Die einzigartige Tatjana T. posiert bei strahlendem Sonnenschein heute auf dem Catwalk. In einem leuchtenden Fummel in der roten Farbe der Liebe mit einem riesigen weißen Stöckelschuh auf schwarzer Perücke ist sie heute die Königin der Pumps und schwebt über den Ku´damm in Richtung Savigny-Platz. Ein eindeutiges Zeichen, dass der Zug sich noch immer nicht in Bewegung gesetzt hat, denn eine Tatjana T. wird doch nicht zu spät kommen.
Iris und Kathleen sind ganz aus dem Häuschen. Sie wollen, dass jemand sie mit dem Medienstar fotografiert. Thomas ist willig und hantiert umständlich mit Kathleens Digitalkamera herum. Tatjana ist auch willig und posiert mit den beiden Lesben. Es entsteht ein bemerkenswertes Bild: Zwei Frauen von heute in Jeans, Tops und Kurzhaarfrisuren fern jeglichen Glamours und im Kontrast die über zwei Meter große Drag Queen in einer Verkleidung, die ein reines Produkt der Phantasie ist und nichts mit dem Selbstverständnis einer Frau, wie sie die beiden Lesben verkörpern, gemein hat.
Für die klassischen Travestie-Künstler wird es immer schwerer. Ihnen haftet schon nicht mal mehr der Duft des Verbotenen an. Einige Drag Queens sollen schon so tief gesunken sein, dass sie von der Gesellschaft völlig respektiert als anerkannte Stadtführerinnen ihr Geld verdienen. Es wird noch der Tag kommen, an der die erste Tunte Kanzlerin wird und mit den Händen andauernd Angela-Merkel-Erinnerungs-Rauten bildet. Der einzige Unterschied zum Vorbild wird sein, dass die Blazer, die sie trägt, in wesentlich grelleren Farben leuchten.
Und dann fehlt es auch noch an genügend Vorbildern an realen Frauen, die parodiert und imitiert werden könnten. Ein Zarah-Leander-Double will heute niemand mehr sehen. Hatte Wolfgangs Großvater am Ende doch recht: mit der Gleichberechtigung der Frau geht die Welt unter – auch wenn nur die des verklemmten Travestie-Cabarets der Nachkriegszeit? Das wäre ja nicht so schlecht.
*
»Das wäre gut!«
Im Hotelzimmer liegen diverse Kleider, Kostüme, Hosenanzüge, Blusen und Röcke über das Bett verstreut. Wie immer ist sie mit einem völlig überdimensionierten Koffer gereist, um für jede denkbare Gelegenheit das passende Outfit dabei zu haben.
Sie betrachtet sich im Spiegel. Das dunkelblaue, ärmelfreie Kleid aus Seide, welches oben am Hals geschlossen ist, glänzt und funkelt wie der Nachthimmel. In einem Shanghai von 1930 hätte sie damit sämtliche Männer dazu gebracht, vor ihr auf den Knien herumzuwinseln. Mit dem orientalischen Vater, dem sie im Frühstücksraum begegnet war, hätte sie damit ein Tableau très exotique abgeben können, wie Europa es so heute nicht mehr kennt. Schließlich hatte sein Oberhemd fast die gleiche Farbe.
»Aber als Tageskleid ist es viel zu elegant«, seufzt sie, zieht es aus und legt es sanft zurück in den Koffer.
Am liebsten würde sie heute das lavendelfarbene Sommerkleid aus Leinen tragen, das sie in einer kleinen Boutique an der Riviera gekauft hat. Der Stoff ist gerade bei der Hitze besonders angenehm, auch wenn er leicht knittert und auf Dauer nur eine blasse Farbe verträgt. In ihm sieht sie immer wie ein schwedisches Mädchen aus der Werbung aus, das sich Blumenkränze bindet und den ganzen Tag barfuß über den Rasen läuft. Aber im Geschäftsleben geht das Kleid überhaupt nicht, sodass sie es erst gar nicht mitgenommen hat.
Während sie im Winter in der Kleidung die tierischen Materialien wie Schafswolle oder Leder bevorzugt, ist der Sommer die Zeit der pflanzlichen Fasern wie Baumwolle, Hanf und Flachs, sozusagen die vegetarische Modephase im Jahr.
Eine Ausnahme bildet die Seide, die fleißige Spinnen für ihre Kokons produziert haben, und die sowohl im Sommer als auch im Winter immer eine Augenweide sind.
Wenn man sich gar nicht entscheiden kann, bleiben noch die Textilien aus künstlichen, oft mit Erdöl produzierten Fasern, die wenigstens die Fähigkeit zur Farbintensivität haben und leicht zu pflegen sind.
Auf ihrem Kalender stehen für heute nur zwei Termine, die sie als Freizeitmaklerin vereinbart hat. Bei beiden handelt es sich um Wohnungsbesichtigungen. Bekannte aus dem niederen Adel wollen ihre Appartements veräußern, sind sich jedoch über die Höhe des Verkaufspreises unschlüssig. Da ist ihr Rat gefragt. Den Rest des Tages will sie sich spontan treiben lassen.
Sie geht ihre Kleidung noch einmal unter den Prämissen durch, dass erstens die Temperatur die 32 °C heute übersteigen
wird und zweitens sie etwas tragen sollte, das sowohl ihrer Arbeit Seriosität verleiht, aber auch im anschließenden Müßiggang nicht overdressed wirkt.
Am Ende entscheidet sie sich für ein weißes Chiffonkleid mit roten Punkten im Stile der Hollywood-Ikonen der 1950er Jahre, zu der sie flache, bequeme Schuhe tragen kann.
Jetzt fehlen nur noch die Accessoires …
… und spätestens dann wird jeder erkennen, dass es sich bei ihr um eine Frau von Welt handelt.
*
Auf der anderen Straßenseite des Ku´damms gestikuliert gerade eine Drag Queen mit riesiger Hakennase wild umher, die wie eine Langzeitarbeitslose aus Neukölln daherkommt. Wenn ich ihr Handzeichenballett richtig deute, will sie, dass man ihr endlich eine Zigarette anbieten möge.
Ein Wesen mit riesigem Strohhut, der das Gesicht so sehr verschattet, dass man es nicht erkennt, kreischt auf und stürmt über die Fahrbahn zu ihr hin. Das ärmellose Etwas, das sie trägt, ist so trostlos und schlecht geschnitten, wie man es sonst nur von einigen Öko-Muttis kennt, die im Naturkostladen immer ihr Bio-Brot kaufen. Überhaupt von einem Kleid zu sprechen, ist schon sehr wohlwollend. Sack wäre wohl treffender. Die Schnüre eines hellblauen Bikini-Oberteils sind neben den Kleidträgern zu erkennen.
Irgendwo müssen die unechten Brüste ja versteckt worden sein. Um den muskulösen Hals schmiegt sich – bei der Hitze völlig überflüssig – ein Schal, der vermutlich selbst gebatikt wurde. Die Tucke läuft barfuß und hat auch noch vergessen, die schon aus der Ferne sichtbaren Haare auf den Waden und den riesigen Fußrücken abzurasieren!
Aus der Krempe des Huts zaubert sie eine Schachtel mit Glimmstängeln heraus. Der Weihrauch für ihre Party. Die Hartz-IV-Empfängerin versucht die gnadenvolle Spenderin zu umarmen, aber die Kopfbedeckung macht dies unmöglich. Wie kann man nur so viel Stroh auf dem Schädel haben!
Jetzt nimmt dieses Modell von Öko-Tussi ihren Hut ab, und – oh mein Grundgütiger – ich glaub es nicht: es ist Ronny! Die Peinlichkeit in Person!
»Ihr dürft mich heute ruhig Ronja nennen, die Bandentochter, die den Männern den Schlaf raubt.«
Mein liebster Unsymph und seine neue Begleitung haben sich zu uns gesellt.
»Ist das Outfit nicht umwerfend? Und so praktisch. Keine drückenden Pumps …«
Keiner will so richtig zustimmen.
In dem Fummel wölbt sich zudem seine Wampe hervor. Mir war bis jetzt noch gar nicht aufgefallen, dass Ronny in die Breite gegangen ist …
… und dass gerade der sich als Frau verkleidet, will mir auch nicht in den Kopf, obwohl das nach der Aktion bei der Feuerwehr auch wieder nicht so abwegig ist.
»Und für diese Verkleidung hast du so lange gebraucht?«, nölt Wolfgang.
»Das ging schnell. Aber ein Schließfach im Bahnhof für die Plastiktüten mit meiner Herrenausstattung zu finden, oh Gott, das hat ewig gedauert. Ewig!«
Die zierliche, zigarettensüchtige Drag Queen mit der Hakennase, die heute auf Hartz-IV-Empfängerin macht und sich für den Tag den Namen Edita Puff gegeben hat, entpuppt sich als ein leitender Beamter in einem der Berliner Bezirksrathäuser. Ronny kennt ihn normalerweise als Herrn Schröder, der ihn manchmal dienstlich anruft, wenn es um schwierige Umweltfragen bei Bauprojekten geht. Herr Schröder ist während der Arbeit ein sehr korrekter und fast unnahbarer Mann, der stets in Anzug und Krawatte zur Arbeit erscheint. Die Vorgänge, die auf seinem Tisch landen, werden penibel und zügig abgearbeitet. Privatgespräche während der Dienstzeit lässt er nicht zu, da diese unproduktiv und damit dem Arbeitgeber, also der öffentlichen Hand, Geld kosten. Dabei traut sich sowieso niemand, ihn etwas Persönliches zu fragen. Aber wenn er sich in eine Frau verwandelt, dann wird er zur Nutte, die einfach nur die Sau rauslassen will, wenn nur ein Schwein mit entsprechendem Rüssel in die Nähe käme. Mit einer herzlichen Offenheit will sie uns jetzt kennenlernen. Artig geben Thomas, Wolfgang, Iris, Kathleen und ich die Hand.
Und Björn? Sein Gedanken sind nicht mehr bei uns. Sterne lassen ihn wegschweifen. Tätowierte Sterne, die er gerade anhimmelt.
Das Tattoo besteht aus sieben jeweils fünfzackigen Sternen. Ein etwas größerer, der sich oben auf der linken Schulter befindet, wird mit einer dickeren Außenlinie und in der Sterneninnenfläche mit einer gleichlaufenden, dünneren Innenlinie gezeichnet. Das kräuselnde Brusthaar auf dem nackten Oberkörper reicht bis an den einen Zacken heran. Zwei weitere Sterne führen eine gedachte Linie zum Schulterblatt. Die Himmelskörper werden lediglich durch Strahlen wiedergegeben, die von einer nicht gezeichneten Innenfläche abgehen. Auf dem Schulterblatt finden sich dann noch vier weitere Sterne, die zusammen ein Parallelogramm bilden und durch die Anzahl und Dicke der Linie auf unterschiedlichste Weise dargestellt werden.
Der Träger der Tätowierung ist anderthalb Kopf kleiner als Björn und steht direkt vor ihm, mit kurz geschorenen Haaren, Sonnenbrille, Dreitagebart und eben dem Sternenbild des Kleinen Bären auf der Haut.
Das Handy verschwindet im Rucksack und ist samt Jan schnell vergessen.
Den anderen fällt das gar nicht auf, so sind sie von Ronja und Edita fasziniert.
Nur wenige beachten auch das Baudenkmal aus der Wiederaufbauzeit. Zu Unrecht! Es steht an der Ecke Kurfürstendamm / Joachimstaler Straße. In seinem Rumpf befindet sich ein Kiosk, darüber als Brust und Kopf die seit der Einführung von Ampeln verwaiste Verkehrskanzel – eine Kabine und Aussichtsposten nicht unähnlich denen der Lebensretter in den Seebädern an Nord- und Ostsee. Die beiden Körperteile werden von einem Wetterdach getrennt, das noch sehr weit bis über die Eingänge zur U-Bahn und zu einer Toilettenanlage hinausschwebt. Luftig und leicht wie eine Feder will der Beton daherkommen. Elegant wie ein männlicher Pfau, der sein Schwanzgefieder langsam auffächert, ohne jedoch sein volles Rad zu schlagen …
Aus dem U-Bahn-Schacht unter dem Betongefieder entschlüpfen immer mehr bunte Paradiesvögel. Als Engel verkleidete Schönlinge und tatsächlich: selbst ein Teufel in Chaps und mit roten Hörnen ist dazwischen!
Ich komme noch immer nicht drüber hinweg, dass Ronny sich als Frau verkleidet. Gerade er. Er wird mir zwar dadurch
nicht sympathischer, aber immerhin etwas erträglicher. Aber nur ein klein wenig!
Dafür fängt Wolfgang einen neuen seiner mir unerträglichen Fortbildungskurse an. Als Antiquar hat er genügend Zeit, in tausenden von Büchern zu stöbern. Das angelesene Wissen macht ihn zur leiblichen Fassung von Google und Wikipedia. Mit der gleichen Zuverlässigkeit, also nicht immer hundertprozentig fundiert, aber immer parat, etwas sagen zu müssen, will er auf alles eine ausführliche Antwort geben, selbst dann, wenn überhaupt kein Suchwort eingegeben wurde. Plötzlich und unaufgefordert verbreitet er dann seine Thesen und hört nicht mehr auf. Er meint dann, etwas für unsere Bildung tun zu müssen. Das ist dann aber so lästig wie Spams oder manch Werbebanner auf einer Homepage, zumal fast alles, was er referiert, längst bekannt ist. Wenn ich Informationen benötige, kann ich auch selbst recherchieren. Dafür brauche ich Wolfgang nicht. Überall gibt es Cafés, in denen man ins Internet gehen kann. Ronny hat sogar schon ein Smartphone. Da soll man das World-Wide-Web bald immer mit sich herumtragen können.
Transvestitismus – das ist das Stichwort, über das Wolfgang uns jetzt belehren will.
Ronja stöhnt auf: »Ich bin keine Transe!«
Edita ergänzt: »Ein Transvestit hat den Zwang, sich in den Klamotten des anderen Geschlechts einzuhüllen. Von einem Zwang kann bei uns ja wohl wirklich keine Rede sein!«
Wolfgang: »Aber erregt es euch nicht sexuell?«
Ronja schon etwas genervt: »Nein, Frauenkleidung ist kein Fetisch von uns.«
Edita drückt auf die Repeat-Taste. »Um dir auch eine weitere blödsinnige Frage zu ersparen: Wir fühlen uns durchaus als Männer sehr wohl und sind auch keine Transsexuelle.« Sie hat dies wohl schon oft, viel zu oft erklären müssen.
Ronja: »Wir haben nur Spaß am Verkleiden. Mal in eine andere Rolle schlüpfen. Wow. Das ist Travestie – nicht mehr und nicht weniger.«
Dann fragt Edita Wolfgang: »Hast du dich noch nie verkleidet? Auch nicht als Kind als Indianer oder Cowboy? Nein, dann wird es aber höchste Zeit.«
Leider bleibt die Kindheit unseres Antiquars in diesem Punkt im Dunklen, obwohl die mich mehr interessieren würde. Wir erfahren nur, dass es dort, wo er aufgewachsen ist, keinen Karneval gibt, aber da legt er mit seinen geistigen Ergüssen erst richtig los.
Wir müssen uns anhören, dass der Begriff Transvestitismus von dem großen Sexualforscher Magnus Hirschfeld Anfang des 20. Jahrhunderts geschaffen wurde, und dass die UNO diese Veranlagung als Krankheit eingestuft hätte …
Der Exkurs will kein Ende nehmen. Jetzt versucht selbst Kathleen seinem Sermon eine andere Richtung zu geben: »Jeans-Hosen sind aber für Frauen erlaubt – oder ist das auch schon wieder Männerkleidung und kein Zeichen für einen Tausch der Geschlechterrollen?«
Iris macht sich auch offensichtlich lustig: »… und was ist, wenn ich einen Schotten-Rock trage? Ist ja nur den Herren vorbehalten, oder nicht? Leide ich dann auch schon unter Transsexualismus?«
Wolfgang korrigiert: »… nur, wenn du dich dauernd auch als Mann fühlst. Nur die, die es lieben und erregt, in den Kleidern des anderen Geschlechts herumzulaufen, sind Transvestiten«
Kathleen: »Wie funktioniert eigentlich Transvestitismus bei Naturvölkern, die nackt durch den Urwald stapfen – oder im Nudistencamp?«
Mein Denken klinkt sich hier aus. Mir fällt stattdessen der kleine Junge wieder ein, der vorhin unseren Weg mit seiner merkwürdig verhüllten Mutter kreuzte.
Vor meinen Augen ziehen dann plötzlich sämtliche Super-Muttis unserer kleinen Stadt vorbei, die sämtlich wie Ronja Kleidersäcke tragen.
Der missionarische Eifer, mit denen sie ihren Nachwuchs nur noch mit biologisch einwandfreiem Obst und Gemüse vom Ökobauern füttern, denn für das Kind muss es immer nur das Beste sein. Gummibärchen bleiben tabu. Die sind nur Gift.
Natürlich stiefelt sie als weibliche Inkarnation des Knecht Ruprechts zu jedem Elternabend in der Schule, um den Lehrer zu fragen, ob der auch schön artig war. Der Lehrer wohlgemerkt, nicht ihr kleiner Satansbraten.
Ansonsten ist Super-Mutti ausgelastet. Immer muss sie sich um ihren Sprössling sorgen, dass er rechtzeitig zum Kindergarten, zur Schule, zum Sport am Nachmittag oder zum Musizieren kommt. Sicherheitshalber fährt sie ihn durch die Gegend, denn da weiß sie, dass er überall heil ankommt.
Mit dem unerschütterlichen Glauben einer amerikanischen Tea-Party-Anhängerin wird der Alkohol verteufelt. Und der Tee muss ungesüßt sein. Das versteht sich doch von selbst.
Kathleen schaut mich mit dieser Mischung aus schüchternem Bitten und provokanter Aufforderung an.
Dieser intensive Blick mit den immer größer werdenden Augen wie die eines Kindes vor dem Weihnachtsbaum.
Jetzt lächelt sie mich schon wieder so fragend an. Umwerfend zwar und genauso, wie manch ein Mann damit einen anderen flach legt, aber Kathleen ist und bleibt eine Lesbe.
Was soll das?
Plötzlich ist es mir dann doch klar, was sie von mir will.
Aber ich Sex mit einer Frau? Für den Nachwuchs von Super-Muttis? Niemals!
»Übrigens, als Samenspender stehe ich nicht zur Verfügung. Ich bin aus dem Rennen«, kommt es aus mir heraus.
Kathleen schnippisch: »Dich hätte ich sowieso nicht gefragt.«
Hätte sie doch!
»Die Welt besteht nicht nur aus dem Gegensatz von Mann und Frau.«
Wolfgangs Stimme dringt zurück in mein Bewußtsein:
»Die Welt ist nicht Schwarz-Weiß!«
Er ist immer noch bei seinem Vortrag, und er ist sauer, weil ich ihm nicht zuhöre. »Dem Herrn ist ja alles egal!
Der trödelt auch nur den ganzen Tag herum. Auf der Jagd von einem One-Night-Stand zum nächsten. Du bist so etwas von oberflächlich. Es geht immer nur um dich. Alle nennen dich ja deshalb auch nur das I c h«, geht es gegen mich.
Ich bin kein Kind, und er ist nicht mein Vater. Der meint, mich erziehen zu müssen. In seinem Alter sollte er mehr Contenance bewahren.
Da werde ich mich lieber davonschleichen, ehe wir noch richtig aneinandergeraten. Die Party heute will ich mir nicht vermiesen lassen, auch nicht von einem in die Jahr gekommenen Buchhändler. Aus der Schule bin ich lange raus. Ich brauche keine Lehrer mehr.
»Ach, hol dich doch der Teufel!«, fluche ich noch in seine Richtung, ehe ich die nächstbeste Chance nutze, den polnischen Abgang zu machen.
Dabei wünsche ich mir eigentlich nur, dass Wolfgang an diesem Tag mal seine Klappe hält.
Vielleicht gibt es ja dafür einen Zaubertrank oder so etwas ähnliches.
Vielleicht muss der aber einfach nur mal wieder so richtig durchgevögelt werden.
Vielleicht braucht er auch beides.
Hol ihn doch der Teufel.