Читать книгу Skurrile Geschichten - Franz-Wilfried Jansen - Страница 5

Augenblick

Оглавление

Der Augenblick war ein graues Haus. Eine weißhaarige Frau, in schwarzer Trauerkleidung, mit einer Gehbehinderung, in Tränen ertrinkend, über den seit zwei Stunden verstorbenen Sohn.

Das Haus war vermietet gewesen, als er ihren Sohn kennen lernte. Damals wie heute, Etage für Etage, an Menschen die Miete bezahlten, ansonsten eher lästig waren. Das graue Haus musste mit den Einnahmen finanziert werden. Es war das Geburtshaus des Familienvaters, der das Haus mitsamt dem blonden lockigen Sohn und der weinenden Frau, Anfang der Sechziger verlassen hatte. Das war nun das allerletzte, was ihr nach dem Tod des geschiedenen Ehemannes und dem, ihm vor zwei Stunden gefolgten, gemeinsamen Sohn, an Gemeinsamkeiten geblieben war. Einsam in ihrem durch gesessenen Sessel, vor einer Freundin und dem besten Freund ihres letzten Lebensinhalts, trauernd, rang sie nach Lebenssinn.

In dem grauen Wohnzimmer, des grauen Hauses, kreiste ein orange gelber Schmetterling.

Er sah aus wie die Falter auf den Zuordnungskarten der Intelligenztests, die Anfangs der Sechziger, in diesem Zimmer der Erziehungsberatungsstelle, den Probanden vorgelegt wurden. Dort war entschieden worden, über die erzieherischen Weichenstellungen von Achtjährigen. Die ratlosen Eltern erhofften sich die entscheidenden, Entscheidungen von einer kompetenten Stelle, um sich später keine Vorwürfe machen zu müssen, wenn etwas schief ging, im Leben ihrer Schutzbefohlenen. Welche weiterführende Schule besucht werden sollte, war da eher die am treffsichersten, auszuräumende Unsicherheit. Wer wollte schon verantworten, wenn die Tendenz zur Aggression, eine latente Lustlosigkeit zum Lernen oder Hyperaktivität, nicht rechtzeitig erkannt wurden? Solange noch Einflussnahme möglich war sollte die formbare Seele noch geschmiedet werden.

Während der einzige Sprössling des Hauses mit seiner verlassenen Mutter, das graue Haus hatten verlassen müssen, beriet im ehemaligen und wieder aktuellen Wohnzimmer, der Staat, wie die seelischen Belastungen von Trennungskindern aufzufangen seien.

Den Balkon der Mietwohnung, im gelben Klinkergebäude, hatte der Alleinerzogene, während der sturmfreien Diensttage der Mutter, im grauen Bundeswehrbunker, als Abschußrampe für nächtlche Bombardements, mit rohen Eiern auf frischpolierte Autodächer auserkoren. Zum Sonnen lud der architektonische Alibiluxus, ohnehin nicht ein. Der Verkehr lärmte zu laut, spritzte zu schmutzig und die Regentage waren zu viele.

Der übergroße und überlange Bundeswehrparka berührte die kniehohen braunen Schnürstiefel, als er mit seiner knallroten Mobylette durch das Kreisstädtchen knatterte. Die kräftigen blonden Locken, unter der zusammengeschnürten Kapuze reichten als Sturzhelm.

Die Mädchen, wie die Bierflaschen, der billige Drehverschluss Lambrusco, das Marihuana, die LSD Trips, die überlaute Rockmusik, alles fand in der Sozialwohnung mit der gelben Klinkerfassade statt. Manchmal wurde innen von der Mutter aufgeräumt. Hin und wieder von der Hausverwaltung die Fassade abgespritzt.

Als die Bundeswehr die lang ersehnte Rente bezahlte, kehrte die weinende Frau, mit den weißen Haaren wieder in ihr graues Haus zurück. Ihr Sohn hatte frühzeitig, im Verlauf einer Schlägerei mit einer Rockergang das Nasenbein gebrochen bekommen, und daraufhin seine Energie ins Schlagzeug spielen kanalisiert. Die kräftigen Hände trommelten so gut, dass mit zusätzlichen „Bullworker“ Trainingsstunden und den immer regelmäßiger und ausdauernder exerzierten Liegestütz Übungen, mit und ohne Damen, aus dem eher kräftigerer Wohlstandsbaby, ein knackiger „Ladykiller“ mutierte.

Die mütterliche Selektion des Freundeskreises, ergab einen Querschnitt aus Ärztehäusern, Pädagogenfamilien und den lokalen, Geschäftsleuten der Kreisstadt.

Man repräsentiert schließlich eine traditionsreiche Bauunternehmerfamilie mit anhängendem Immobilien Klan.

Neben dem Arztsohn, war er der Einzige, der ein fabrikneues Mofa bekam. Mit riesigen Außenspiegeln, an langen Chromstangen, den Chopperlenker noch stärker betonend, damit der „Easy Rider look“ unverwechselbar, deutlich wurde. Er machte am meisten her, wenn es im Zeitlupentempo, an den flanierenden „Bräuten“ vorbei zu „cruisen“ galt. Doch wegen des damals noch nicht vollends bekämpften Babyspeck, hatte er einen schweren Stand, wenn es auf Langstrecke nach Holland, zu Popfestivals und Drogenbeschaffungstour ging. Ordentlich, auf fünfundzwanzig km/h gedrosselt, gab der französische Motor nicht mehr her, als das Werk einjustiert hatte. Der Arztsohn hatte mit den drei handgeschalteten Gängen seiner Herkules schon mehr Spielraum. Die Puch des Lehrersohns blies ihre Abgase ungebremst durch den ausgeweideten Auspuff. Das Klangspektrum wurde beindruckender; mehr auch nicht. Mit der illegalen, holländischen Version einer italienischen Ciao, deren deutsches Versicherungskennzeichen, Sicherheit vorgaukelte, konnte ohnehin niemand mehr mithalten, wenn sie die „Gang“ mit 60 km/h stehen ließ

Selbst wenn der „Pilot“ des Italorenners unter Valium stand, machte das keinen merklichen Unterschied, bezüglich der „speed“.

Umgekehrt natürlich ebenso wenig, wenn die Untermotorisierten, den

Bemusterungspräparateschrank, der gesellschaftlich legitimierten Drogenhändler, mit der wohlklingenden Berufsbezeichnung Pharmaberater, beim Landarzt geplündert hatten und unter „Wachmachern“ ihre „Öfen“ heizten.

Aus Dänemark kamen die Pornos, in deutscher Sprache, als Kurzgeschichtensammlung, „Sprich damit ich dich Sehe“, formatgerecht in die Paperback Unterrichtsversion gebunden und während der Deutschstunde und in den Pausen, verschlungen.

Das Ärztepaar traf sich an einem Wochenende mit dem Künstlerpaar und die Praxis war zugänglich. Der Giftschrank enthielt alles vom Feinsten. Die Ampullen sägen, Desinfektionstücher, Kanülen und vor allem, reinstes Morphium. Die Gefahr, gepanschten Stoff zu erwischen war ausgeschlossen. Das Restrisiko, zum bevorstehenden Spaß, eine „overdose“ zu schießen, war man bereit zu verdrängen.

Die Beute fand bruchfesten Schutz in einer professionellen Metallkassette, die einer Geldbombe glich und überstand folglich die rumplige Anfahrt zum steinigen Vorplatz des Jugendclubs, ohne Bruch. Es sollte ein besonderes Wochenende werden. Wie die großen Musikstars, wollten die beiden Anführer in den Olymp der Drogenhierarchie aufsteigen. Sie prahlten in ihrer verbliebenen Unsicherheit gegenüber den Freunden und zeigten ihnen schließlich, die Schwester „Morphine“ Ampullen, im Schutz einer uneinsehbaren Nische des Innenhofs.

Mit achtzehn hatte er in der Dachkammer mit seiner Freundin aus Paris übernachten dürfen. Die aktuellen, frisch gewaschenen und gebügelten Jeanshemden des Sohnes, des grauen Hauses, durfte er tragen. Sie waren drahtig sportlich, unsterblich, die Freunde, zu der Zeit, als das Leben los ging. Die romanischen Fakultäten der Universitäten, Berlin, Marseille, Paris, wurden mit Immatrikulationsgesuchen aus der Mansardenstube anvisiert.

Das Haus der Entscheidungen hatte wieder einmal entschieden. Der Sohn des Hauses war ausgebrannt, müde,erschöpft, den Widrigkeiten, der überzogenen Erwartungen des traditionsreichen Hauses frühzeitig erlegen. Sie hatten sich noch drei Tage zuvor gesehen, die alten Freunde. Die Entscheidung zum Entzug, war wohl im falschen Haus, an der falschen Theke, zu spät getroffen worden. Von Cassis war immer wieder die Rede gewesen. Vom Paradies am Strand, nach der wilden Zeit. Doch die Zeit war wild geblieben; bis zum Schluss.

Die erfrischenden, sauberen Schaumkronen der transluzenten türkisen Wellen, sollten nur von einem braunen Augenpaar aufgesogen werden dürfen. Das strahlende hellblau des zweiten Seelenfensters, hatte sich schon lange vor dem letzten Schlag ihrer Lieder, verfinstert.

Er wollte seine Ruhe finden, die weder wir noch der Rest der Welt ihm bieten konnte. Er hatte alles gegeben. Obwohl die Frau in Schwarz noch mehr. Mehr Zeit, mehr Zuneigung, Hilfe, Aufmerksamkeit, Liebe wollte.

Auch dieses letzte Mal verweigerte er sich. Im Alkohol tauchte er ab und Versank sofort im schaumigen Strudel einer Unterwelt ohne Geld.

Er war einsam gestorben, so wie seine Mutter ein ganzes Leben durchgebracht hatte. Alleine, auf dem, von zwei Rottweilern verkratzten, edlen Blausteinfußboden, einer Wohnung, die Mutter und Tochter zwei Wochen zuvor verlassen hatten.

Sieben Jahre genoss er noch, das, was Familienglück hätte sein können. Nach einem verbrannten Leben in Rock & Roll, Frauen und Suff. Die letzte Frau, als Mutter seiner Tochter, hatte ihn seine Abhängigkeit jeden Tag spüren lassen. Die von seiner Sucht und dem sozialen Vexierbild ihres Zusammenlebens.

Die drei Trauernden im Wohnzimmer äußerten ihre Fassungslosigkeit; jeder auf seine Art. Die betagte Mutter schluchzte immer wieder die Frage nach dem Sinn ihres Weiterlebens durch die schmalen schmerzverzerrten Lippen, deren immer wieder neu aufgelegtes Rouge, schnell wieder verwischte, wenn sie unter Weinkrämpfen zusammengepresst wurden.

Die Freundin aus Kindertagen, hatte in den dreißig Jahren, die er sie nicht gesehen hatte, deutlich an Umfang gewonnen. Weite schwarze, teure Garderobe, versteckte den unweigerlichen Effekt eines wohlbehüteten Wohlstandslebens. Einzelkind, Rektorentochter, nun selbst Rektorin einer Grundschule, die ihrer Pension entgegensah und sich den nervigen Weg bis zum Ende, mit erlesenen, hochpreisigen Weinen glättete. Seit ihrer Geburt hatte sie sich mit einer Contergan bedingten Gehbehinderung zu arrangieren, die sie fast unmerklich, durch maßgefertigtes, elegantes Schuhwerk, kompensierte.

Schuldig fühlte sich und wiederholte dies ständig, stereotyp, keinen Azt gerufen zu haben , als er es ihr verboten hatte und sie es für nötig gehalten, zwei Stunden vor seinem Zusammenbruch, vor seiner Theke. Ihre kleinen roten glubschigen blauen Augen, blickten nach Verständnis und Vergebung heischend, von einem Augenpaar zum anderen.

Auf dem Rennrad, vorbei an den Feldern und Bächen der Kindheit, war dem Freund die sommerliche Schönheit seiner alten Heimat, nach langen Jahrzehnten wieder ins Bewußtsein gefahren. Er war verschwitzt, in seiner Euphorie über den knirschenden grauen Schotter, in die Garage seiner Kindheit gerollt. Die Dusche danach, mit dem Anruf der weinenden Frau, und ihrer kurzen klagenden Nachricht vom Tod ihres Sohnes, seines besten Freundes, war der Augenblick einer Häutung. Wie die abgelegten Hüllen der Klapperschlangen, auf den steinigen Pfaden von Glen Ellen, der Ranch Jack London´s, schuppten sich im Zeitraffer, die gemeinsamen Jahrzehnte, von seiner kollektiven Erinnerung. Obwohl er gerade erst das weiße Sommerhemd, mit den dunkelgrauen Perlmuttknöpfen, frisch gebügelt über den durchtrainierten braunen Körper gestreift hatte, fühlte er sich nackt und leer, blutlos blutend, eines vitalen Teils seiner Existenz beraubt.

Er hatte sich im luftigen Hemd, einem der Geschenke des Verstorbenen, ohne nachzudenken, zum grauen Haus fahren lassen. Der feuchte Körper, schien unter der Nachmittagshitze schon wieder zu dampfen, während neben dem schwarzen Hemd, dass er an der Côte d´Azur im Schrank auf ihn wartete, dieses zweite Lieblingshemd, auf seiner erhitzten Haut zum Totenhemd mutierte.

So saß er dann, strahlend frisch, ohne eine Träne, versteinert, wie ein Wesen aus einer anderen Welt, den an der Decke entlang kreisenden Schmetterling verfolgend, der im cineastischen Gegenschuss, die Szenerie im Wohnzimmer des grauen Hauses, mit den beiden gehbehinderten Frauen und dem verlorenen südfranzösischen Freund zu dokumentieren schien.

„Es ist nur ein Film. Es ist nur eine Show“, das leichtlebige Motto der beiden unbeschwerten Lebemänner hatte die Lebensschlange brutal von sich geworfen. Die Besetzungsliste musste neu beseelt werden. Die Desperadorolle wurde gestrichen. Der Protagonist sollte den Stein des Weisen suchen.

Skurrile Geschichten

Подняться наверх