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Granit und Amygdala – von Nessa Altura

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r feiert gern. Feiert viel. Trinkt Bier, spielt Fußball. Er ist zwanzig und hat schon zwanzig Freundinnen gehabt, Minimum, wie er sagen würde. Er lacht laut. Er spricht wenig, aber wenn er getrunken hat, wird er aggressiv. Er kratzt sich im Schritt, sitzt breitbeinig auf Sofas. Oder auf dem Stuhl, den dreht er dann texasmäßig herum, damit er die Arme um die Lehne schlingen kann, als sei sie eine Tussi, die sich ihm entwinden will. Er isst gern Fish 'n' Chips mit offenem Mund, schmatzt. Er wiegt 120 Kilo, und wenn er geht, scheuern seine Oberschenkel mit einem widerlichen Laut gegeneinander. Er kennt eine begrenzte Anzahl von Witzen, die seine Freunde schon oft gehört haben, aber mögen. Oder zumindest so tun. Oder zu hacke sind, um zu protestieren.

Er ist nicht böse, aber man möchte ihm nicht begegnen, wenn es dunkel ist und man selbst allein oder er nicht mehr nüchtern.

Die Häuser sind aus grauem Stein, der Wind fetzt zu jeder Jahreszeit, das Gras ist grün, auch zu jeder Jahreszeit, die Luft riecht nach verbrannter fettiger Kohle oder nach Torf, hier draußen sind Kamine noch nicht verboten. Wales, da wo Männer früher ihr Geld in den Minen verdient haben und heute oft von der Stütze leben. William in Wales, weit weg vom Wunderbaren der Welt.

Aber genau hier geschieht etwas, das auf dieser Welt einmalig ist.

Ein früher Feierabend, es ist heiß, man war im Pub, schlendert anschließend herum. Jemand schlägt „Rollerfässchen“ vor, ein Spiel, ein Spaß. William rollt seine 120 Kilo übermütig den Hang hinunter, grölend, sein Kopf trifft auf einen kleinen runden Granitstein, der wie ein Fußball aus dem Gras ragt. Er fühlt nichts, keinen Schmerz, keinen Knacks, rollt weiter, bleibt liegen. Ihm ist schwindelig. Seine Freunde helfen ihm auf, bringen ihn nach Hause. Dort schläft er vier Tage am Stück. „Ein saftiger Rausch“, denken seine Eltern, wenn sie überhaupt etwas denken. Dann steht er auf, stolpert in die Stube, aber auf einmal stören ihn da Dinge, die ihm zuvor nicht aufgefallen sind.

Wie breitbeinig sein Vater im Salz-und-Pfeffer-Sonntagstweed zur Kirche geht. Wie schwer seine Schuhe klacken. Wie laut sein Bruder rülpst. Wie hässlich die fallenden Fischstückchen das Resopal sprenkeln, wenn man beim Essen spricht. Wie schrill die Frauen im Pub sind, wenn sie zu viel geladen haben. Wie schrecklich die Küsterin riecht. Und seine Mutter auch. Wie speckig die Möbel, wie abgenutzt die Sanitärinstallationen, wie ramponiert alle Häuser in seiner Straße sind.

Er bekommt Taubheitsgefühle in Armen und Beinen, die ihm Angst machen. Er geht zum Arzt, der tippt auf eine Infektion. Er bekommt Medikamente, aber die Sache geht nicht weg. Er fühlt sich schlecht. Seine Fremdheit in seiner eigenen Welt nimmt zu, er kann sich sich selbst – und anderen – nicht mehr erklären.

Tests. Weitere Tests. Er habe einen Schlaganfall gehabt, sagen die schließlich im Krankenhaus. Einen Schlaganfall, ausgelöst durch den Kontakt zwischen Kopf und Granit. Es ereigne sich da ein Schock. Es entstünde ein Sauerstoffmangel an einer Stelle in seinem Gehirn, deren Funktion sofort eine andere Stelle übernehme, sagen die Ärzte. Ein Areal sterbe ab, ein anderes beginne sich zu entwickeln. Amygdala nennen sie dieses Areal. Es bildeten sich darin neue Synapsen. Die Aufgabe der Amygdala sei es, Ereignisse mit Emotionen zu verknüpfen und diese zu speichern. Er sei jung, gottseidank. Er solle intensiv Physiotherapie machen; er könne froh sein, sagen die Ärzte, wenn er wieder so wird wie zuvor.

Aber das wird William nicht. Ihm ist sein Militärhaarschnitt peinlich, seine groben Manchesterhosen, sein fetter Bierbauch, sein undefiniertes Kinn. Er weiß nicht, wieso er die Abende mit seinen Freunden nicht mehr aushält, die nassen Küsse der kessen Bräute, die alkoholgeschwängerte Luft am Tresen. Die Fußballbegeisterung. Wie sie spucken, wenn sie nach draußen gehen, ins Gras – wie nur Fußballer spucken dürfen.

Er geht zu dem Stein am unteren Ende des Abhangs und fragt den Granit, was geschehen ist. Der antwortet nicht, aber William sieht den blauen Himmel, die dahinziehenden Wolken. Er entdeckt die vielen verschiedenen Grüntöne seiner Heimat und fragt sich, wieso ihm dieses ganz besondere Licht zuvor nicht aufgefallen ist.

Er denkt über den Ort Amygdala in seinem Kopf nach und findet das Wort schön. Es könnte der Name einer Frau sein, denkt er, und das macht ihn plötzlich traurig.

Irgendwann, es ist schon Herbst, geht ein Mann oben am Hang vorbei, ein Wanderer vielleicht oder ein Vogelbeobachter. William beobachtet den Vogelbeobachter. Beobachtet seinen Gang, seine Schultern und als er näherkommt, seine Hände. Der Mann hat ein kreisrundes Brillengestell auf der Nase und einen furchtsamen Blick; er ist noch nicht alt. Da entsteht in William ein sonderbares Gefühl – er möchte den Fremden beschützen. Er möchte aufstehen von seinem Stein und dem unbekannten Mann sagen, dass er, William, nicht so ist wie diese hier, diese Menschen im Dorf, diese Männer und Frauen in Kirche und Pub.

Wenn er nicht so ist wie diese hier, nicht so ist, wie er war – wie ist er dann? Sein Vater sieht ihn manchmal lange und nachdenklich an. Aber er sagt nichts; in diesen abgelegenen Orten in Wales spricht man nur wenig. Und nur, wenn es nötig ist. Der Vater weiß nicht, was nötig wäre. Aber einmal legt er William beide Hände auf die Schultern und lässt sie lange daliegen. Wie Bärenpranken liegen sie da, warm und schwer.

Seine Hände, seine Nase, seine Augen und sein Spiegelbild begreifen früher als sein Kopf, was los ist: Er schneidet sich ein Pony, er zupft sich die Brauen, er feilt sich die Nägel, er kauft sich Deo und körperbetonte Shirts, enge Hosen, feine Schuhe. Er hat abgenommen. Seine Mutter verspottet ihn, sein Bruder schämt sich für ihn.

Er ist das, was er selbst früher eine Schwuchtel genannt hätte.

Kann das sein? Fragt er sich, fragen sich alle.

Ja, sagen die Ärzte. Im Areal Amygdala ist so etwas möglich. Und sie erzählen von Fällen, in denen einer nach einem Schlaganfall plötzlich Mandarin sprach. Und ein anderer, der nicht rechnen konnte, plötzlich ein Mathegenie war. Und von einem Maurer aus Liverpool wissen sie, der nie einen Pinsel in der Hand gehabt hatte und auf einmal ein begnadeter Künstler war. Den Künstler trifft William, Liverpool ist nicht weit. Sie verstehen sich auf Anhieb. Sie brauchen sich ja nicht viel zu erklären. Sie staunen gemeinsam. Und lächeln scheu. Dann lachen sie. Zusammen. Es ist fast wie früher mit den Kumpels, denkt William. Und doch ganz anders.

Dafür diskutieren die Ärzte umso mehr, Gehirnforscher im In- und Ausland. Bisher ist der Fall einmalig, heißt es. Williams Mutter sagt nichts mehr, sie hat den Kontakt abgebrochen. Zu ihren Freundinnen sagt sie, der andere Sohn, der von vor dem Unfall, der sei ihr lieber gewesen. Diesen jetzt verabscheue sie. Auch der Bruder antwortet nicht länger; der Vater spricht sowieso nicht. Es gibt keine gemeinsamen Themen. William ist weggezogen, ans Meer. Ihm fehlt nichts von seinem Dorf.

Nur der Stein, den hätte er gerne mitgenommen, den Granit, der so salz-und-pfefferhaft ist wie sein Vater. Aber beide gehören hierher, sind fest verwachsen mit der walisischen Erde.

Die Autorin wurde inspiriert von einer wahren Geschichte, entnommen aus dem Artikel „Plötzlich schwul“ der Süddeutschen Zeitung vom 8. Juni 2014. Die Namen wurden geändert. Die Geschichte von Chris Birch, der plötzlich seine sexuelle Orientierung änderte, soll auch verfilmt werden.

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