Читать книгу Vollmilchschokolade und Todesrosen - Franziska Dalinger - Страница 10

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2.

»Da bist du ja endlich, Miriam. Deck schon mal den Tisch, wir essen gleich.«

Ich verziehe das Gesicht und seufze. Da kommt man gerade hundemüde aus der Schule und muss gleich mithelfen. Na toll.

Missmutig knalle ich die Teller hin. Sechs Personen. Ich bin nicht nur mit einem Vater geschlagen, der meistens mittags zu Hause isst, mit einer Mutter, die uns unbedingt gesund ernähren will, sondern auch mit zwei Geschwistern, bei denen es sich mit Abstand um die nervigsten Blagen der Welt handelt. Silas ist neun und hat die dumme Angewohnheit, einen pausenlos vollzuquatschen. Für Tabita mit ihren elf Jahren bin ich leider nicht das große Vorbild – obwohl ich ab und zu versuche, sie dazu zu bringen, dass sie mir gehorcht. Sie denkt jedoch nicht daran. Sie beobachtet mich bloß sehr scharf und ist eine gnadenlose Petze.

Der einzige Lichtblick bei der täglichen Mittagsfolter ist Goliath, ich meine Michael, Papas Praktikant. Er ist lang und dünn, seine Beine passen kaum unter den Tisch, aber irgendwie ist er witzig. Da haben wir schon ganz andere Praktikanten erlebt. Michael kann man auch gut nachmachen. Ich bin inzwischen eine Expertin im Michael-Imitieren.

»Die Messer müssen so liegen, mit dem Scharfen nach innen«, sagt Tabita und vergewissert sich, dass ich auch alles richtig gemacht habe. »Und du hast die Servietten vergessen.«

»Na und? Sonst noch was?«, fahre ich sie an. Ich bin wirklich nicht in bester Stimmung. Der Vorfall nach der Schule geht mir nicht aus dem Kopf. Der kleine Harry oder wie er heißt. Tut er mir leid? Kim würde mit ihrer ätzendsten Stimme sagen: Ach, er tut dir leid, der arme Kleine ... Na so was ... Stimmt, Hendrik war der Name. Aber Harry Potter passt noch besser. Ich bin ganz gut im Erfinden von Spitznamen. Wer braune Haare hat und eine runde Brille, muss sich da echt nicht wundern.

»Na, Miriam, wie war dein Tag?«

Mein Vater poltert herein und wuschelt mir durchs Haar. Ich habe ihm schon tausend Mal gesagt, dass ich das nicht leiden kann, aber es ist zwecklos. Einfach jeder in unserer Familie beharrt auf seinen nervigen Angewohnheiten. Manchmal träume ich davon, Mandys Eltern würden mich adoptieren. Die sind wenigstens cool. Nicht so wie meine. Hände hoch – wer möchte gerne einen Pastor zum Vater? Im Angebot: der wunderbare, unvergleichliche Pastor Manfred Weynard! Zum Ersten, zum Zweiten, zum Dritten ... was, wirklich niemand? Die letzte Gelegenheit. Niemand? Ach.

Tja, niemand meldet sich. Ich hätte es auch nicht getan. Aber mich hat ja niemand gefragt, in was für eine Familie ich hineingeboren werden möchte.

»Hi, Miriam.« Michael duckt sich unter der Lampe hindurch. Ein gläsernes Schirmchen hat er bereits auf dem Gewissen. Ich find’s nicht schlimm. Die Lampe ist sowieso potthässlich gewesen, und er ist so süß, wenn ihm etwas peinlich ist. Dann wird er knallrot. Sogar sein Ziegenbärtchen fängt an zu glühen. Sehenswert. Gut, dass ich nicht die Einzige bin, der es so geht. (Aber schlecht, dass das Rotwerden nicht unbedingt aufhört, wenn man erwachsen ist. Das muss doch irgendwann besser werden!)

Wir setzen uns an den Tisch. Silas beginnt mit seinem Redeschwall, Tabita weist mit penetrant lauter Stimme daraufhin, dass ich die Messer falsch hingelegt habe. »Wir beten«, bestimmt mein Vater und spult sein Lieblings-Tischgebet herunter. »Komm, Herr Jesus, sei du unser Gast, und segne, was du uns gegeben hast. Amen.«

»Es heißt aber eigentlich: was du uns bescheret hast«, verbessert Tabita. »Und Onkel Johannes sagt immer: aus Gnaden. Was du uns aus Gnaden bescheret hast.«

»Onkel Johannes hat ein Motorrad«, weiß Silas und beglückt uns mit seinen Zukunftsplänen, in denen er ein Profi-Motorradfahrer ist. Papa und Michael setzen ein Gespräch fort, das sie im Büro begonnen haben – irgendwas mit dem Gottesdienst am nächsten Sonntag.

Ich konzentriere mich auf meinen Teller und versuche, den Geräuschpegel auszublenden, aber als ich irgendwann doch hochsehe, begegne ich dem Blick meiner Mutter. Sie lächelt.

»Na, Miriam, wie ist es mit der Englisch-Arbeit gelaufen?«

Ich zucke die Achseln. »Geht so.«

»Hattest du nicht geübt?«

»Let’s speak English together«, schlägt Michael vor. »What about an English – äh, Predigt, on Sunday?«

»Sermon«, meint Tabita. »Oh Mann, ich bin erst elf und ich kann besser Englisch als du.«

»Then you may help me.«

»Oh wie schrecklich«, stöhnt sie. »Du bist ein hoffnungsloser Fall, Michi.« Sie ist die Einzige, die ihn Michi nennt. Die meisten anderen finden wohl, dass ein Mann, der zwei Meter misst, auch einen eindrucksvollen Namen verdient.

Aus diesem Grund nenne ich ihn Goliath, wenn er nicht dabei ist.

»Ich kann auch Englisch«, ruft Silas dazwischen und beginnt, alles in seiner Reichweite zu benennen, wobei Tabita ihn ausdauernd verbessert.

Es nützt nichts, schneller zu essen als die anderen. Papa erwartet, dass wir sitzen bleiben, bis alle fertig sind. Danach werde ich dazu verdonnert, die Spülmaschine einzuräumen – warum eigentlich immer ich? Kann mir das jemand mal verraten? –, und dann ist es endlich vorbei.

Mehr oder weniger.

Nicht einmal in meinem Zimmer habe ich wirklich Ruhe. Silas hört Musik, Tabita übt Klarinette, und mein kleines Reich liegt natürlich genau dazwischen. Wieder einmal bereue ich, dass ich mir diesen Raum habe aufschwatzen lassen, nur weil er ein bisschen größer ist als die anderen. Ich hätte lieber die Kammer auf dem Dachboden nehmen sollen, die urgemütlich ist und weit weg vom Rest der Familie. Aber die hat jetzt meine Mutter und benutzt sie für ihr Mittagsschläfchen. Echt ungerecht ist das – schlafen kann man bei mir jedenfalls nicht. Es ist nur zu ertragen, wenn man sich Stöpsel in die Ohren steckt. Mama will nicht, dass ich die benutze – sie meint, man könnte davon schwerhörig werden. Ach ja, Mama mit ihrem Gesundheitsfimmel. Sie ist, wen wundert’s, natürlich auch gegen Handys. Wegen der Strahlung und so. Ich war die Letzte in der Klasse, die eins bekommen hat. Dafür habe ich eins, das wasserdicht ist und als Taschenlampe benutzt werden kann. Papa fragt mich manchmal, ob ich die Kerzen damit anzünden kann oder ob auch eine Nagelfeile dabei ist. Das findet er überaus witzig. Aber man kann mit meinem Handy tatsächlich auch telefonieren.

»Messie? Bist du da?«

»Klaro. – Was?«

Selbst meine Mutter kann nicht verhindern, dass ich mit meinen Freundinnen wichtige Gespräche führe – aber meine Geschwister leider schon. Nicht Handys sind schädlich. Kleine Brüder und Schwestern sind viel gefährlicher für die Gesundheit. Wegen dieser Blagen werde ich irgendwann noch einen Nervenzusammenbruch kriegen. Ich kann Mandy bei dem schrillen Gepiepse, das Tabita mit ihrer Klarinette veranstaltet, kaum verstehen.

»Was? Moment mal.« Ich hämmere gegen die Wand. »Ruhe da! – So, was ist?«

»Wir treffen uns gleich«, sagt Mandy. »Im Park.«

»Ich kann nicht«, gebe ich zu. »Muss noch Hausaufgaben machen.«

»Ich hab meine schon längst fertig.« Das liegt nicht etwa daran, dass sie superschlau ist, sondern dass sie sich ihre Hausaufgaben immer von Steffi machen lässt. Steffi ist die Schnellste von uns vieren, was das Lernen angeht. Kim macht sowieso nie etwas, aber Mandy ist schon einmal sitzengeblieben und will auf keinen Fall, dass das noch mal passiert. Sie will mit mir und Steffi aufs Gymnasium wechseln, nach diesem Schuljahr, und muss dafür einen ordentlichen Abschluss hinlegen.

Natürlich habe ich jetzt ein tierisch schlechtes Gefühl. Wenn Mandy einen dabei haben will, sagt man nicht nein. Man kann ruckzuck wieder unsichtbar werden, wenn man nicht aufpasst. Ich weiß das.

»Wartet ihr auf mich? Ich beeil mich.«

»Tja«, sagt Mandy nur, und das kann ein Ja sein oder ein Nein oder einfach nur: Find’s raus.

Für mich heißt das auf jeden Fall, dass ich mich wirklich beeilen muss.

Tabita hat aufgehört, selber Musik zu machen, doch gerade als ich Gott dafür danken will, dreht sie ihr Radio lauter.

Jetzt reicht es wirklich. Ich stürme aus meinem Zimmer, reiße ihre Tür auf und schreie: »Spinnst du?«

Meine Schwester liegt bäuchlings auf dem Bett und schiebt hastig ein Buch unters Kopfkissen. Als ob ich sie ertappt hätte.

»Kannst du nicht anklopfen? Das macht man eigentlich«, sagt sie mit ihrer Oberlehrerinnenstimme, die mich wie immer zur Weißglut treibt.

Ich schalte das Radio aus und wende mich ihr zu.

»Was liest du da?«

»Nichts. Geht dich nichts an.«

Ihre Nasenspitze beginnt zu glühen. Oh, ich erkenne ein schlechtes Gewissen.

»Was denn?«

Ich schnappe mir das Kissen, in das sie sofort ihre kleinen Hände krallt.

»Hau ab!«

»Das ist aber nicht nett, wie du mit mir sprichst«, sage ich. »Also wirklich, Tabita, wo bleibt deine Höflichkeit?«

Ich werfe mich über sie und ziehe sie von der Matratze auf den Boden, und dann, mit einem Hechtsprung, bin ich selbst auf dem Bett und schleudere das Kissen weg.

Darunter liegt ein ziemlich dickes Buch mit einem Cover in Pastelltönen und dem erstaunlichen Titel: »Das Geheimnis des Grafen.«

»Gib das her!«, kreischt sie.

»Das Geheimnis des Grafen?«, frage ich, immer noch überrascht. Mir wäre nie im Leben in den Sinn gekommen, dass meine kleine Schwester, die allseits korrekte Tabita, Bücher mit solchen Titeln liest. Ich schlage es auf und lese den ersten Satz, auf den mein Blick fällt, laut vor: »Mary schluchzte laut. Der Graf hielt ihr ein seidenes Tüchlein hin, in das sein Wappen und seine Initialen gestickt waren. ›Hier, bitte‹, flüsterte er, und als sie das Tuch nahm, berührten sich ihre Fingerspitzen. – Das ist ja süß.«

»Hör auf zu lachen«, faucht Tabita wütend.

»Du liest Liebesromane? Bist du nicht ein bisschen jung dafür?« Ich halte es hoch, als sie danach greifen will. »Wo hast du das überhaupt her?«

Tabita macht ein finsteres Gesicht.

Ich schlage die erste Seite auf und finde dort nicht etwa den Stempel einer Bücherei. Sondern in feiner Handschrift den Namen: Dorothea Illner. Mamas Mädchennamen.

»Das gehört Mama! Du klaust Mamas Buch?«

»Ich klau sie nicht! Ich – leih sie mir nur aus.«

Ich kann es nicht fassen. Kopfschüttelnd blättere ich weiter. »Sie? Dann gibt es also noch mehr davon? Das wievielte ist es denn? Wo hast du sie her? Aus ihrem Schlafzimmerschrank?«

Meine Schwester starrt mich grimmig an. »Du sagst kein Wort. Wehe!«

»Oh, hier!« Ich kann ein Kichern nicht unterdrücken. »Hier fahren sie mit einer Kutsche durch den Schnee. Wie romantisch! – Der Graf nahm ihre kleine, zarte Hand in seine. Mary wagte kaum, ihn anzusehen. – Warum nicht? Ist er so hässlich? – ›Ich bin von meiner Familie ausgestoßen worden‹, sagte er. ›Ich habe kein Geld. Alle diese Reichtümer gehören gar nicht mir.‹ ›Das macht mir nichts aus‹, hauchte sie.«

Ich kann gar nicht mehr aufhören zu lachen.

Tödlich beleidigt dreht Tabita sich weg.

»He«, sage ich. »Ich lache nicht über dich. Nur, das ist so – so schrecklich kitschig!«

Tabita setzt sich auf ihr Bett und nimmt ihr Kissen auf den Arm. »Na und!«

»Ist das überhaupt für dein Alter geeignet?«, frage ich. »Was machen die denn, außer Händchenhalten?«

Sie wird dunkelrot und sagt nichts.

Ich blättere mich durch den Roman, aber außer einem glühenden Kuss am Ende scheint nichts zu passieren. Kein Sex. Nur ein paar verschämte Küsschen zwischendurch, vor dem Mega-Wahnsinns-Schlussakkord-Kuss, bei dem Mary dahinschmilzt. Ich gebe meiner tomatenfarbigen Schwester das Buch zurück.

»Wirst du das Mama sagen?«, fragt sie kleinlaut.

»Nein«, sage ich. »Aber damit hab ich jetzt was bei dir gut, ja? Die Musik bleibt aus. Ich muss Hausaufgaben machen.«

Es ist immer von Vorteil, wenn man noch einen Trumpf übrig hat. Gerade bei Tabita, die ständig so tut, als sei sie der heiligste Mensch auf Erden.

Vollmilchschokolade und Todesrosen

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