Читать книгу Vollmilchschokolade und Todesrosen - Franziska Dalinger - Страница 14

4.

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Leute, die man kennt, sehen immer irgendwie anders aus als die Leute, die einem fremd sind.

Wie ich das meine? Ich könnte zum Beispiel gar nicht sagen, ob meine Schwester Tabita hübsch ist. Weil ich sie täglich sehe. Oder wie mein eigenes Gesicht auf andere wirkt – keine Ahnung. Wenn ich es auf einem Foto sehen würde und für einen Moment vergessen könnte, wer das ist – ja, dann könnte ich vielleicht beurteilen, ob ich attraktiv bin oder nicht.

Manchmal versuche ich, mich mit fremden Augen zu sehen. Aber so richtig gelingt mir das nie. Mir fällt dann bloß auf, was peinlich ist. Es muss nur ein ganz kleiner Pickel sein, aber ich stelle mir vor, dass alle nur darauf starren.

Unsinn, ich weiß.

Aber so bin ich nun mal. Sobald ich jemanden kenne, ist er nicht mehr hübsch oder hässlich, sondern einfach nur normal. Außer Tom natürlich. Aber den kenne ich ja auch nicht richtig. Ich sehe ihn immer nur von weitem und er sieht gleichbleibend umwerfend aus. Im Vergleich mit Tom kommen mir alle anderen Jungs einfach nur langweilig und uninteressant vor.

Bis dieser recht große, blonde Junge über unseren Schulhof marschiert.

Wir sind eine große Schule und der Hof wird auch vom Gymnasium und der Hauptschule benutzt. Man kann gar nicht alle kennen, aber die meisten sind einem vom Sehen her vertraut. Da gibt es keinen Zweifel: Wir sind uns sofort alle einig, dass dieser Blonde neu ist.

»Den habe ich ja noch nie hier gesehen.« Kim zieht die Stirn kraus. »Gehört der zu uns oder zum Gymnasium?«

Wir sehen ihm nach, wie er sich durch die Massen an Schülern schiebt.

»Gymnasium«, meint Steffi und seufzt. »Bestimmt. Wir gehen immer leer aus.«

»Der ist sowieso zu alt, um noch auf die Realschule zu gehen«, finde ich. »Bestimmt ist er in der Oberstufe.«

»Mr. Right«, schmachtet Steffi. »Endlich mal einer, der groß genug ist für mich. Herrje, es geschehen noch Wunder. Ich danke dir, lieber Gott!«

»Ein paar Schuhnummern zu groß für dich«, sagt Kim, ohne irgendjemand Bestimmtes anzusprechen. Vermutlich meint sie mich. Wie gemein. Ob jemand von uns sein Typ ist, kann man ja nicht wissen. Wenn der Blonde zwei, drei Jahre älter ist als wir, sind wir ihm wahrscheinlich zu jung. Aber auch das ist schließlich bloß eine Vermutung.

»He!« Ich beschließe, mich zu wehren. Kim ist nicht immer die Netteste; wenn man nicht aufpasst, bekommt man von ihr so einiges ab. Verbal zurückschlagen ist gefährlich, denn sie hat recht wenig Humor. Doch wenn man alles einsteckt, verliert sie jeden Respekt vor einem und hört gar nicht mehr auf. »Wer sagt das? Du willst ihn wohl für dich, wie?«

»Ach Messie, an den traust du dich ja doch nicht heran«, meint sie.

»Du wirst ja sehen«, sage ich.

»So wie bei Tom?«

Dazu schweige ich. Trotz aller ihrer Sticheleien habe ich es immer noch nicht fertig gebracht, auch nur ein einziges Wort zu ihm zu sagen. Kein Wunder, dass Kim glaubt, ich wäre generell zu feige, um mit Jungs zu sprechen. Sie ist nicht dabei gewesen, als Steffi und ich herumgealbert haben. Kim würde mir das gar nicht zutrauen. Sie denkt pausenlos, ich wäre zu feige für alles und jedes. Das bin ich nicht! Nur bei Tom – das ist etwas anderes. Eine Abfuhr von Tom würde ich nicht so schnell verkraften. Bei Tom bekomme ich weiche Knie. Solange er nichts davon weiß, kann ich wenigstens ungestört von ihm träumen. Mandy hat mich zwar gewarnt, aber Träume sind hartnäckig und lassen sich nicht einfach abstellen.

Und manchmal sind Träume eben doch ein guter Ersatz für die harte Wirklichkeit, die einen unweigerlich einholen wird. Ich bin sechzehn und kein Kind mehr. Dass sie einem einreden, man könnte alle seine Träume verwirklichen, wenn man nur fest genug daran glaubt – tja, mit mir nicht.

Die Welt ist viel dunkler und geheimnisvoller als das. Und es gibt keine Macht, die einen auf einen Schlitten setzt und durch den Schnee zieht.

Manchmal stelle ich mir vor, wie das wäre. Man sitzt also auf dem Schlitten und Gott, eine Papafigur mit weißem Bart, eingehüllt in einen dicken Mantel mit Pelzkragen und einer russischen Pelzmütze, zieht einen durchs Leben.

Und wenn man während der Fahrt aufsteht, fällt man mit dem Gesicht in den Schnee. Weich.

Das ist das, was Papa sonntags predigt. Dass wir schon mal fallen, aber nie tiefer als in Gottes Hand.

Woher will er das wissen? Es klingt gut, aber wenn ich mir vorstelle, dass ich falle, ist da gar nichts. Nur kalter Schnee, als würde man von einer Horde johlender Jungs über den Schulhof gejagt und eingeseift.

Man weint. Und die Lehrer kümmert es nicht. Für die Lehrer ist man unsichtbar.

So ist das Leben.

Jedenfalls kommt es mir meistens so vor.

»Aber du hast ja himmlischen Beistand«, spottet Kim und grinst. Kim, die einen Kopf kleiner ist als ich und trotzdem so stark, dass sich kein Junge an sie herantraut. Bestimmt haben sie alle Angst davor, ihr Exfreund zu sein.

Außerdem kann man bei ihr für einen dummen Anmachspruch buchstäblich eins auf die Schnauze bekommen.

»Gilt das auch für mich?«, fragt Steffi lauernd. Sie ist ja, wie gesagt, besonders empfindlich, was Bemerkungen über ihr Äußeres angeht. »Glaubst du, ich brauche himmlischen Beistand?«

Kim lacht bloß. »Jetzt bin ich aber gespannt, wer schneller ist, Mädels.«

Kim tut immer so, als würde ihr überhaupt niemand gefallen, dabei weiß ich genau, dass das nicht stimmt. Sie hat mir einmal anvertraut, dass sie heimlich Schlager hört. Deutsche Liebeslieder, bei denen sie den Text mitsingt. Ich ziehe sie natürlich nicht damit auf. Sie kann boxen, das vergesse ich nie.

»In der Mensa könnt ihr euch ja auf ihn stürzen«, sagt Mandy trocken. Mandy, die in letzter Zeit auffällig wenig sagt. Geht es ihr nicht gut?

Manchmal denke ich, ich sollte nicht so genau hinsehen. Das Leben ist leichter, wenn man nicht so viel sieht. Wenn man Scheuklappen anlegt und einfach losmarschiert. Sonst kommt man nie irgendwo hin.

Die Pausenglocke ruft uns zurück ins Klassenzimmer, und ich habe den hübschen Neuen eigentlich schon wieder vergessen. Bis er in der Mensa plötzlich vor mir steht. Wie immer ist dort ein einziges Gedränge und Geschiebe. Der Lärm könnte von einem Rudel Löwen stammen, die in eine schmerzhafte Falle geraten sind. Zusätzlich, überlege ich, hat man ein Dutzend Affen in die Grube geworfen, die keine Lust haben, als Löwenfutter zu enden, aber auch nicht die steilen Wände hochkommen. Und als Gratis-Dreingabe noch ein paar an den Schwänzen zusammengebundene Katzen und Hunde.

So in etwa. Jedenfalls verursacht mir das Getöse Kopfschmerzen, und ich habe keine Lust, mich wie meine Freundinnen in der Schlange für Spaghetti Bolognese anzustellen. Da ich mir nur einen Salat genommen habe, suche ich schon nach einem Tisch mit vier freien Plätzen. Da hinten ist alles besetzt. Die Gänse-Clique labt sich an Salat ohne Öl. Typisch. Lisa-Marie sieht halb verhungert aus. Gut, ich werde zwar auch bloß einen Salat essen, aber wenigstens mit einer richtigen Soße. Ohne ist es nur Grünzeug und schmeckt nach nix. Aber ich habe auch nicht vor, Kalorienzählen und Diättipps zu meinem einzigen Gesprächsthema zu machen.

»Na, hast du dich verirrt?«, fragt Lisa-Marie höhnisch.

Zu denen setze ich mich bestimmt nicht. Ich drehe mich um und da taucht der Neue plötzlich auf. Aus der Nähe besehen ist er – und das kommt echt selten vor, glaube ich – sogar noch attraktiver. Und jünger. Viel älter als ich kann er eigentlich nicht sein. Seine Augen sind graublau. Oder doch eher blau?

Warum schaue ich ihn überhaupt an? Um es Steffi nachher zu erzählen? Um Kim zu beweisen, dass ich keine Angst habe? Ich habe sowieso nicht vor, ihn anzusprechen. Nicht im Traum.

Zu dumm, dass ich in Tom verliebt bin, denke ich. Der hier könnte mir auch gefallen.

»Miriam? Ich hab ja gleich gewusst, dass du es bist.«

Meint er mich? Hat er gesprochen, Mr. Traumprinz? Ich starre ihn an und merke, wie ich rot werde. Vor Schreck. Was fällt diesem Typen ein, mich zu kennen?

»Äh ...?«, mache ich hilflos und versuche, irgendetwas Bekanntes an ihm zu entdecken.

»Daniel«, stellt er sich freundlich vor und grinst. In seinen Wangen erscheinen kleine Grübchen. Ich starre ihn hingerissen und vermutlich reichlich blöde an und kapiere immer noch nichts. »Daniel Hartmann. Weißt du nicht mehr, wir waren im Kindergottesdienst in derselben Gruppe. Und haben uns nach Kräften geärgert.«

Ich forsche in meinem Gedächtnis nach einem Daniel, der mich vor vielen Jahren geärgert haben könnte, und finde einen blonden, verstrubbelten Zehnjährigen, der nicht stillsitzen konnte und die nervöse Kinderstundentante, die uns biblische Geschichten erzählen wollte, regelmäßig in den Wahnsinn trieb.

»Der Daniel? Du hast deine Kaugummis in meine Haare geklebt!«, stammele ich. »Du warst das? Ich meine, du bist das?«

»Daran erinnerst du dich noch?« Er lächelt. »Und ich habe gehofft, meine Schandtaten wären in Vergessenheit geraten.«

»Du hast immer am meisten Bibelverse auswendig gekonnt und die Belohnung gekriegt – die ich haben wollte!«

Dieses Lächeln. Wie kann aus einem unausstehlichen Bengel so etwas werden – wie das da? Ich bin damals wirklich froh gewesen, als seine Familie weggezogen ist, und habe ihn keine Sekunde vermisst.

»Wenigstens konnte ich sie wirklich auswendig. Du hast dir den Vers in die Hand geschrieben und abgelesen.«

Er ist es wirklich. Ich kenne ihn von früher. Und – es ist merkwürdig, aber ich habe ja erzählt, wie es mit mir und Gesichtern funktioniert – sobald ich weiß, dass ich ihn kenne, ist er auf einmal gar nicht mehr so attraktiv. Er ist immer noch blond und groß und an seinem Lächeln hat sich nichts geändert. Aber schlagartig hört er auf, sexy zu sein.

So ist das bei mir. Manchmal habe ich Angst, was passiert, wenn ich Tom jemals besser kennenlerne. Werde ich dann auch aufhören, ihn attraktiv zu finden, und er wird ganz normal und durchschnittlich auf mich wirken?

»Also dann, wir sehen uns«, sagt Daniel und verschwindet in der Menge.

Mit ihren Tabletts in den Händen erscheinen meine Freundinnen. Sie sehen an mir hoch und runter, als hätte ich mich in der Zwischenzeit in ein Gespenst oder sonst etwas Unheimliches verwandelt.

»Du baggerst Mr. Hübsch und Blond an?«, fragt Kim fassungslos.

»Ich dachte, du bist unsterblich in Tom verliebt«, rügt Steffi streng.

»Bitteschön, du kannst ihn haben«, sage ich. »Er heißt Daniel.«

»Hast du ihn auch nach seiner Handynummer gefragt?«

Ich könnte es ihnen erzählen. Dass ich ihn von früher kenne. Dass er mich angesprochen hat und nicht ich ihn. Aber eigentlich gefällt es mir ziemlich gut, wenn sie mich für mutiger halten, als ich bin. Manchmal finde ich es ganz schön schwer, mit ihnen mitzuhalten. Da muss ich ja nicht herausposaunen, dass dieser Daniel mir vor ein paar Jahren Kaugummi in die Haare geklebt hat. Meine Mutter hat es herausschneiden müssen und es hat zig Monate gedauert, bis die Strähne nachgewachsen ist.

»Bitteschön«, wiederhole ich, während ich mich zu einem Tisch durchschiebe, an dem gerade ein paar Plätze frei werden, »tu dir keinen Zwang an.«

In der Klasse spricht Steffi von nichts anderem als dem schönen Blonden. Sie geht einem geradezu auf die Nerven damit und kritzelt seinen Namen auf die Tischplatte, mit tausend Kringeln und Herzchen und so. DANIEL. Ich könnte ihr seinen Nachnamen verraten, mache ich aber nicht.

Herzchen. Kringel. Herzchen. Kringel. Schleife.

»Muss das sein?«, fragt Mandy genervt.

Ich entdecke einen Radiergummi auf dem Boden und bringe ihn sofort zum Einsatz, obwohl Steffi mitleiderregend seufzt. Aber Herzchen auf dem Tisch? Ich bin ja durchaus romantisch veranlagt, aber das geht zu weit. Obwohl ich es vielleicht auch übertreibe, was Tom angeht – meine Gedichtmappe ist ebenfalls von oben bis unten verziert -, lasse ich die anderen wenigstens nicht mitleiden. So etwas würde ich nie tun.

Der Lehrer vorne erzählt irgendwas und ich schweife in Gedanken ab und ertappe mich dabei, dass ich ein Gesicht auf den Heftrand zeichne. Allerdings kann ich nicht besonders gut zeichnen und man erkennt nicht, wer es sein soll.

Ein Glück.

Nach einem anstrengenden Sportprogramm will ich nach Hause fahren und muss feststellen, dass meine Reifen platt sind. Lernt dieser miese kleine Hendrik denn gar nichts? Und dabei habe ich ihn heute und gestern und überhaupt seit wer weiß wie vielen Tagen verschont! Weil ich es vergessen habe. Vielleicht auch, weil ich es vergessen wollte. Das habe ich jetzt davon!

»Ich habe eine Pumpe«, sagt Steffi. Aber die nützt mir nichts. Der Reifen ist zerstochen. Auch das noch. Wie kann er es wagen! Mir bleibt nichts anderes übrig, als zu schieben. Hundemüde und viel zu spät komme ich zu Hause an und lande wie immer in einem Tollhaus, wo sämtliche Geschwister herumschreien und Lärm machen. Es hört sich an, als wären es zehn Kinder und nicht zwei.

Ich überlege, ob ich Tabita mit ein paar dezenten Andeutungen über ihre Lesegewohnheiten erschrecken soll, entscheide mich aber dagegen. Das spare ich mir lieber für eine Situation auf, in der es nützlicher ist. Ich verkrümele mich in mein Zimmer, doch der Hunger treibt mich in die Küche. Der Salat ist wohl doch etwas wenig gewesen. Ich habe mir vorgenommen, etwas abzunehmen, um vielleicht so Gnade vor Toms Augen zu finden. Nur ein oder zwei Kilo, mehr nicht.

Meine Mutter putzt gerade das Küchenfenster und singt dabei. Ich kann mir eigentlich keinen Grund vorstellen, warum man beim Putzen singen sollte. Außer vielleicht, man ist verliebt. Aber bitte, sie und Papa sind seit achtzehn Jahren oder so verheiratet. Ihre Ehe ist quasi volljährig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass mir nach einer solchen Ewigkeit noch zum Singen zumute wäre.

»Ach, Miriam«, sagt sie. »Du erinnerst dich doch noch an die Hartmanns aus unserer Gemeinde? Die sind wieder da.«

Erzähl mir was, was ich noch nicht weiß.

»Ach«, meine ich.

»Du weißt doch noch, dieser Junge mit dem Kaugummi?«

»Wie könnte ich das jemals vergessen«, knurre ich, während ich den Kühlschrank nach einer essbaren Jogurtsorte durchsuche. Blaubeere? Pfirsich-Maracuja? Gibt es keinen Schokoladenjogurt? Ich beschließe, mir einen Toast zu machen.

»Also, die sind wieder zurück. Dietmar wurde versetzt. Die Firma hat den anderen Standort wieder dichtgemacht.«

»Aha«, sage ich.

»Die Tochter macht zurzeit ein Freiwilliges Soziales Jahr, frag mich nicht wo.«

Als wenn ich das vorgehabt hätte.

»Und der Junge ... Mist, jetzt habe ich vergessen, wie er heißt.«

»Daniel«, werfe ich hilfsbereit ein.

»Stimmt. Daniel. Den wirst du ja dann heute Abend im Life and Hope treffen. Du gehst doch hin?«

»Ich bin so müde. Ich hab echt keine Lust auf so eine langweilige Jugendgruppe. Ich wollte mich eigentlich mit Mandy und den anderen Mädels treffen.«

»Langweilige Jugendgruppe?« Sie zieht die Brauen hoch. »Du überraschst mich, Miriam. Das wird bestimmt spannend.«

Meine Mutter kann sich nicht vorstellen, wie man eine kirchliche Jugendgruppe langweilig finden könnte. Dass Goliath, der Englisch-Checker, die Gruppe »Life and Hope« genannt hat, ändert nichts daran, dass man herumhockt, zu Gitarrengeklimpere öde Lieder singt und sich eine staubtrockene Bibelarbeit anhören muss.

Es ist mir schon mehrmals gelungen, nicht hinzugehen, indem ich Müdigkeit und schulische Überarbeitung vorgeschützt habe. Doch bei einem Pastor als Vater wird von einem erwartet, dass man dabei ist, und wenn ich keinen Ärger haben will, kann ich die Life and Hope-Folter nicht zu oft ausfallen lassen.

Manchmal überlege ich, wie es wohl ankommen würde, wenn ich hingehe und zu allem und jedem meine ehrliche Meinung sagen würde. Nicht nur irgendwas, weil es grad passt. Sondern wirklich das, was mir auf der Seele brennt.

Woher wollt ihr wissen, dass es Gott wirklich gibt? Und wenn, dass er so ist, wie ihr ihn euch vorstellt? Glaubt ihr wirklich, er ist der Weihnachtsmann, der eure Gebete um gutes Wetter erhört, und dass ihr mit göttlicher Hilfe eine Zwei schreibt?

Wie das ankommen würde? Nicht so gut. Also lasse ich es. Manchmal stauen sich die frechen Fragen, die ich ungesagt herunterschlucke, so an, dass ich mir wie ein Staudamm vorkomme, der jede Sekunde bersten könnte.

WOHER WISST IHR DAS?

Ich frage es nicht. Denn dann kämen alle anderen Fragen sofort hinterher. Etwas Schlimmeres kann gar nicht passieren.

Fragen-Hochwasser. Eine richtige Fragen-Überschwemmung. Und alle ihre vorgefertigten Antworten würden weggeschwemmt werden.

Habe ich Angst davor?

Vielleicht habe ich ja auch bloß Mitleid.

Ich streiche mir dick Sandwich-Creme auf mein Toastbrot und versuche, mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass ich meine alte Kindergottesdienst-Bekanntschaft möglicherweise heute dort treffe. Ändert das etwas?

»Ich habe Mandy versprochen ...«, fange ich an, aber auf die Schnelle fällt mir nicht ein, was ich ihr versprochen haben könnte.

Meine Mutter wringt ihren Putzlappen aus.

»Das kannst du auch ein anderes Mal. Der kleine Daniel freut sich bestimmt, ein bekanntes Gesicht zu sehen.«

Der kleine Daniel? Sie hat ja keine Ahnung, wie er jetzt aussieht. Einen Kopf größer als ich! Und dabei ist er erst – sechzehn? Siebzehn? Ich bin mir nicht sicher. Ist er ein Jahr älter als ich? Oder nur ein paar Monate? Für meine Mutter ist er immer noch der kleine Junge, der so frech gegrinst hat. Wenn ich mich recht erinnere, hat er die Kinderstundentante – wie hieß sie doch noch? – dazu gebracht, mit ihrer Mitarbeit in der Gemeinde aufzuhören. Als die Familie Hartmann die Stadt verlassen hat, ist sie mit einem Seufzer der Erleichterung wieder eingestiegen.

Es wird einige Leute geben, die sich über seine Verwandlung wundern werden. Das darf ich eigentlich auf keinen Fall verpassen. Außerdem will ich Goliath noch fragen, ob er mein Fahrrad reparieren kann.

Du drängst dich an mir vorbei. Ich spüre deine spitzen Ellbogen in meiner Seite.

Immer musst du dich vordrängeln.

Du stiehlst. Und du merkst es nicht einmal. Oder freust du dich über deine Beute?

Wenn du dir nimmst, was mir gehört?

Ich kann kaum atmen, wenn ich dich sehe. Aber du bemerkst das natürlich nicht.

Dreht sich irgendetwas in deinem Kopf mal nicht um dich? Na klar, ich bin ja auch unsichtbar. Wie kann ich auch erwarten, dass du etwas mitbekommst davon, was in anderen Leuten vor sich geht!

Webhexe, Blogeintrag vom 19. August

Vollmilchschokolade und Todesrosen

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