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eine Stunde später

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Dr. Robert Beierlein, der Leiter der Schulinspektion, atmete tief durch. Der Anruf der Polizei vor einigen Minuten war von der Art, die ihn nach einem doppelten Cognac gelüsten ließen. Der war in seinem Büro natürlich nicht vorhanden. Also musste er sich bis zum Feierabend mit einem fiktiven Genuss begnügen. Und die Zeit bis zum Feierabend wäre ohnehin schon mit genügend Arbeit gefüllt gewesen - aber nun auf eine ganz andere Art und Weise, als er sie sich morgens beim Betreten seiner Behörde vorgestellt hatte.


Die Nachricht über den Tod eines seiner Schulinspektoren hatte mehreren Dingen schlagartig einen ganz anderen Verlauf gegeben. Zunächst hatte er mehrere organisatorische dicke Probleme vor sich. Berger war momentan in drei Schulinspektionen federführend, in vier weiteren war er Co-Inspektor. Das hieß, dass so schnell wie möglich sieben Schulen und insgesamt fünf Inspektorinnen und Inspektoren benachrichtigt werden mussten, mit denen Berger im Team eingesetzt war. Er konnte sich vorstellen, was das für eine Empörungslawine nach sich ziehen würde. Seine Behörde war mit Abstand die sensibelste im Bereich Schule des Bundeslandes. Sie hatten die meisten Klagen und Dienstaufsichtsbeschwerden zu bearbeiten und wurden in ihrem eigentlichen Arbeitsauftrag, die Schulen zu inspizieren, immer wieder behindert. Er selbst war an einem Punkt angekommen, an dem er weitgehend resigniert hatte. Vor vier Jahren hatte er mit großem Elan seinen neuen Job angetreten und war davon überzeugt, dass sich durch sein Mittun einiges an den Schulen ändern würde. Der Idealismus, mit Hilfe der Inspektion gute Schule machen zu können und Schule positiv zu verändern, beflügelte ihn und er war mit vielen innovativen Ideen an den Start gegangen, unterstützt von einem auserlesenen Team an Schulinspektoren, die einen mehrwöchigen Lehrgang absolvieren und sich am Schluss einer eigens konzipierten anspruchsvollen Prüfung stellen mussten. Nicht wenige waren schon im Voraus abgesprungen. Er war nahezu mit dem besten Team gestartet, das er sich vorstellen konnte. Fast alle aus seinem Inspektorenteam kamen aus der Schulleitung und somit aus der Praxis. Sie konnten sich vorstellen, was für eine Empörung durch die Schulen gehen würde, wenn sie als Außenstehende kommen und jeden Winkel der Schulen unter die Lupe nehmen würden. Sein Team war von den besten externen Trainern aus der Wirtschaft, bestehend aus Psychologen, Rhetorikern und weiteren fachkompetenten Coaches aus dem In- und Ausland, geschult worden. Sie waren auf alles vorbereitet worden und bereit, sich den Herausforderungen zu stellen, weil sie von der Sache überzeugt waren. Zumindest dachte Beierlein das. Was den Inspektoren aber an Gegenwind, um nicht zu sagen, Hass aus den Schulen entgegenwehte, ließ schon im ersten Jahr fünf von ihnen das Handtuch werfen. Sie hatten sich mit offenen und heimtückischen Angriffen herumzuschlagen – nicht zu vergessen die Stapel an schriftlichen Beschwerden, Dienstaufsichtsbeschwerden und sogar Klagen, die sich auf seinem Schreibtisch stapelten. Schnell wurden die Arbeitsbedingungen geändert, wonach die Inspektoren sich nach ihrer Ausbildung verpflichten mussten, mindestens fünf Jahre in der Schulinspektion zu arbeiten. Die Ausbildung war schließlich teuer und der Staat konnte sich keine unnötigen Ausgaben leisten. Das hatte allerdings leider zur Folge, dass weitere drei Inspektoren von Psychologen dienstunfähig geschrieben wurden – sie fielen ein Jahr lang vollkommen aus und danach hatten sie eine schrittweise Wiedereingliederung in ihren ursprünglichen Lehrberuf. Auch verloren für die Inspektion.

Übrig blieben hartgesottene Kollegen, die sich durch nichts beirren ließen. Die die Fragebögen, die aus den Schulen mit vernichtenden Urteilen über die Inspektion im Allgemeinen und die Inspektoren im Besonderen zurückkamen, nicht mal mehr lasen. Die gelassen wieder mal eine Dienstaufsichtsbeschwerde mit einem Formbrief abtaten und in ihrer Personalakte verschwinden ließen. Wie Berger eben.


Die Situation des Todes eines seiner Inspektoren und somit seines plötzlichen Totalausfalls hatte er seit Bestehen seiner Behörde noch nie. Er hatte es mit einigen Frühpensionierungen und leider auch freiwilligen Rücktritten zu tun gehabt. In den Fällen konnten die Inspektionen nach und nach abgewickelt werden, sodass seine Inspektoren ein geordnetes Feld hinterließen. Das war sogar bei seinen Burnoutfällen in gewissem Maß möglich. Aber jetzt ... er seufzte und sehnte sich heftig nach einem Cognac.


Gepaart mit der Trauer über den Tod Bergers war allerdings auch eine gewisse Erleichterung. Berger war sein schwierigster Inspektor gewesen. Das begann schon bei seinem Bewerbungsverfahren, denn seine Akte sprengte schon damals den Umfang eines üblichen Aktendeckels. Schon während seiner Tätigkeit als Rektor eines Gymnasiums hatte er massenhaft Beschwerdematerial angesammelt. Es liefen diverse Dienstaufsichtsbeschwerden und Disziplinarverfahren gegen ihn, die er mit Hilfe seines Anwalts und der Schulbehörde allesamt geschickt abgewimmelt hatte. Sogar ein Teil seines Kollegiums hatte eine Beschwerde gegen ihn gerichtet, weil er sie in einer Gesamtkonferenz vor der Schulöffentlichkeit als faul und inkompetent bezeichnet hatte. Einige hatten sich erfolgreich an andere Gymnasien versetzen lassen, als sie merkten, dass ihre Beschwerde keinen Erfolg hatte, weil Berger sich geschickt herauslavierte. Sie hatten lieber lange Fahrtwege in Kauf genommen als weiterhin unter Berger arbeiten zu müssen.


Beierlein hatte schon damals Bedenken, ob sich jemand wie Berger gut als Inspektor eignen würde. Andererseits waren die abgewimmelten Verfahren auch ein Zeichen dafür, dass sich Berger erfolgreich zur Wehr setzten konnte. Das war durchaus ein gutes Kriterium für sein neues Betätigungsfeld, denn ein starkes Rückgrat würde er dringend gebrauchen können. Er vermutete, dass Berger nicht nur die bessere Bezahlung bei seiner Bewerbung für den Inspektorenposten im Auge hatte, sondern dass es ihm durchaus gelegen kam, sich aus der Schule zurückzuziehen, um weiteren Problemen aus dem Weg zu gehen. „Die Karriereleiter hinaufgestolpert“ oder „hochgelobt“ nannten sie so was. Die Kollegen, Eltern und Schüler seines Gymnasiums weinten ihm keine einzige Träne nach – im Gegenteil, er bekam Dankesschreiben von ihnen. Er hatte in der Anfangsphase der Schulinspektion zugesehen, dass er Berger nicht in seiner Heimatregion einsetzte. Inzwischen waren sie personell so eng besetzt, dass er Zugeständnisse machen musste. Sonderbarerweise hatte Berger sogar darum gebeten, wohnortnah eingesetzt zu werden. Er hatte anscheinend ein absolut dickes Fell – oder war doch gestörter, als Beierlein dachte.


In seiner Alltagsarbeit erwies sich Berger als äußerst verlässlich und gewissenhaft. Alle Angriffe konnten ihm ebenfalls nichts anhaben. Nur er als sein Chef und die Justiziare seiner Behörde hatten, ebenso wie Bergers Anwalt, alle Hände voll zu tun. Das würde wegfallen, aber wen würden sie als Ersatz für Berger nehmen können? Die Luft wurde immer dünner. Fehlte nur noch, dass der Minister ihm einen Einlauf verpassen würde. Inzwischen hatte sich durch die ausgewerteten Evaluationen der schlechte Ruf seiner Behörde bis nach ganz oben herumgesprochen. Um genau zu sein, wartete Beierlein eigentlich fast jeden Tag darauf, dass sie, wie auch immer, abgewickelt wurden. Das Experiment Schulinspektion war nahezu gescheitert, wie in vielen anderen Bundes- und Nachbarländern. Bergers Tod würde das nicht gerade stoppen.


Beierlein seufzte wieder. Die Benachrichtigungen der involvierten Schulen und Inspektoren würde seine Mitarbeiterin übernehmen und die würde hoffentlich auch die hartnäckigen Nachfragen der Schulen und deren Beschimpfungen stoisch abwimmeln, wie es ihre Art war, und die Anrufer und schlimmstenfalls auch Besucher nicht zu ihm vordringen lassen, sodass er sich mit diesen Niederungen nicht zu beschäftigen brauchte. Vielleicht sollte er so langsam mal seine Tage bis zur Pensionierung zählen...

Sein letzter Cache

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