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Ida
ОглавлениеFranziska Hochwald
Abstürzen für Anfänger
Eigentlich wollte ich ja mit einem Porsche 911 Cabrio hier hoch fahren, so richtig mit Stil. Hätte den Wagen vielleicht vormerken sollen beim Mietwagenservice. Hätte hätte Fahrradkette. Um mal gleich zu Anfang mit blöden Sprüchen und stillosem Klamauk um mich zu werfen. Heute ist mein letzter Tag. Oder meine letzte Nacht. Und da gibt es keinen Stil, kein gutes Benehmen und keine Sorge, dass irgend jemand meine Ausdrucksweise billig finden könnte. Heute Abend gibt es nur mich und meine beste Zuhörerin, also immer noch nur mich. Wenn ich den Großen Zensor in mir ignoriere, wird das eine gute Nacht.
Ich hab dann einen Opel Corsa genommen. Das fand ich passend. Mittelmäßig wie alles. Wenn ich tot sein will, dann kann ich das ja genauso mittelmäßig angehen, wie ich gelebt habe. Bin zum Edeka gefahren, Whisky kaufen. Wenn es kein 911er ist, dann brauche ich auch keinen Glenmorangie 18, dann tut es auch der Famous Grouse blended, davon kriegt man zwar einen üblen Schädel, aber heute nacht muss mich das nicht mehr interessieren. Einen Schädel spürt man schließlich nicht mehr, wenn man tot ist.
So gesehen ist der Platz hier oben am Grünen Felsen fast zu ausgesucht. Mein Auto steht bei der Gaststätte in St. Johann, und ich sitze hier mit dem Blick vom Albtrauf runter über das ganze Land. Vielleicht sollte ich mir für diese letzte Nacht einen mittelmäßigeren Platz suchen, das wäre konsequent. Das Dach einer Fabrikhalle? Zu viel Industrieromantik. Ein Parkhaus? Dito und beides nicht hoch genug. Die Aichtalbrücke? Schon besser, aber vielleicht kommt dann irgend ein Depp angefahren, der mir in einem Anfall von Empathie den Abend versaut.
Also bleib ich hier, auf meiner Bank am Grünen Felsen. Nur ich, meine Wolldecke aus Kreta, die Flasche Scotch und ein billiger Tabak.
Im Wald hinten raschelt es, es ist windig und viel zu kalt für eine Sommernacht, aber egal. Heute ist mein fünfzigster Geburtstag, und ich finde, wenn man 50 Jahre lang darauf gewartet hat, dass man tot ist, und nichts passiert, dann wird es Zeit nachzuhelfen.
Ich packe meine Sachen aus. Den Whisky nehme ich auf den Schoß und den Tabak lege ich neben mich auf die Bank. Dann noch das iPhone und die Bluetooth Box daneben. Erst mal Musik. Vielleicht Jack White, mit Alone In My Home. I’m becoming a ghost singt er. Ist auch eine Lösung, Songs machen, in denen man sich in einen Zombie verwandelt, zusammen mit den ganzen anderen Dämonen, die so zu Besuch sind. Der Blick über das Land ist auch eher gespenstisch, so im Mondlicht. Man kann keine Einzelheiten erkennen, aber hier oben, wo die Landschaft jäh abbricht, wirkt der Himmel größer als im Stuttgarter Kessel.
Ich gehe vor zur Felskante und schaue runter. Sind das acht, zehn, fünfzehn Meter? Das lässt sich schwer sagen. Felsen, ein paar Sträucher und dann wird es diffus. Auf alle Fälle ist es aber tief genug.
Arschkalt ist es. Arsch. Kalt. Siebzehn Jahre lang habe ich mich bemüht eine gute Mutter zu sein und keine Ausdrücke zu sagen. Mein Sohn Paul – auch so ein mittelmäßig populärer Name, wie konnte ich nur? –, der nennt Mädchen grundsätzlich nur Bitches, und meine Tochter Lena zeigt allen den verbalen Mittelfinger, die ihr nicht passen. Welchen Sinn macht es da, auf Wörter wie Arsch oder Scheiße zu verzichten, wenn alles eh nur noch fick dich ist?
Es sind meine Kinder. Und ja, natürlich haben sie einen Vater, das ist biologisch nun mal nicht anders zu haben. Aber über den will ich jetzt nicht nachdenken. Denke nicht an einen rosa Elefanten. Der Große Zensor zählt die billigen Sprüche mit. Zwei.
Es war ein ganz hinreißender Geburtstag heute. Meine Kinder sagten beim Frühstück: Alles Gute Mom. Dann hatte ich jede Menge Zeit, einen Artikel für die Grüne Woche fertig zu schreiben. Und genug zu tun, um nicht an meinen früheren Job zu denken bei einer wirklich guten Tageszeitung im Feuilleton. Es gibt erstaunlich viele rosa Elefanten in meinem Leben. Eigentlich denke ich ununterbrochen an das, was ich mir vornehme auszublenden. Ich denke, was ich nicht denken will. Schönes Koan für Zen-Buddhisten. Also nicht denken. Also über Mülltrennung in der Grünen Woche schreiben, Mittagessen für die Kinder hinstellen, drei Wäschen machen, 40 bunt, 40 hell und Bettwäsche.
Wenn ich mir den Tag heute noch mal durch den Kopf gehen lasse, muss ich erst mal den Famous Grouse aufmachen. Der erste Schluck ist warm und freundlich. Mother’s little helper würden die Stones singen. Mütter kommen eigentlich nicht vor in der Popmusik. Außer wenn sie frustriert sind, sich zudröhnen, oder als Mutter von einer gewissen Sylvia, die den Sänger von Dr. Hook am Telefon abwimmelt. Drogen und Verbote. Die Drogen sind okay. Aber ich verbiete mir nichts mehr.
Heute Nacht denke ich. Ich denke alles, was kommt. Heute gibt es nichts mehr, was ich nicht denken darf. Keine Tabus mehr. Keine selbstgebastelten Richter, die meine Gedanken bewerten, die den Großteil davon verurteilen und nur die kleinen, harmlosen und ungefährlichen freilassen. Heute ist Revolution, das System wird abgeschafft, Freiheit für alle Gedanken. Heute ist mein 50. Geburtstag.
Der Große Zensor lacht sich einen.
Mein Mann kam heute eine Stunde früher von der Arbeit. Mit einem Gutschein für ein Wochenende zu zweit – gekauft im Internet bei Secret Escapes, da gibt es die nobleren Locations zum Billigpreis. Ist ja auch völlig egal, was er dafür bezahlt hat, denn wir werden nicht hingehen. Wir würden im Übrigen auch nicht gehen, wenn ich mich anders entschieden hätte, wenn ich jetzt nicht ernst machen würde. Wir würden auf keinen Fall gehen, denn ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als mit ihm in einem Hotel das Wochenende zu verbringen.
Wir würden irgendwo rumsitzen, im Wellnessbereich oder so.
Ich würde sagen:
Ich hab da kürzlich was Interessantes gelesen.
Er würde sagen:
Aha. Ich habe letzte Woche sechs zu zwei gegen Helmut gewonnen.
Ich würde sagen:
Aha.
Dann würden wir ein Fünf Gänge Menü abdrücken, das sich auf der Zunge anfühlt wie Plastik mit Geschmacksverstärker. Und dann würden wir in dem extra-breiten Hotel-Doppelbett liegen. Eine tolle Gelegenheit für ihn, sich meiner zu bedienen. Daheim geht das nicht, da schlafe ich schon seit Längerem im Gästezimmer. Und ich würde mir sagen, dass es ja auch egal ist, aber es wäre besser gewesen mehr zu trinken. Und noch besser wäre es gewesen, wenn ich mir mal wieder eine größere Dosis Codein-Tabletten besorgt hätte. In meiner Jugend haben die gut geholfen. Gegen alles.
Er würde an mir rumschrauben, nach all den Jahren hat er immer noch keine Ahnung von der weiblichen Anatomie, und es ist ihm auch nicht wichtig. Er würde das so lange machen, wie er es für angemessen hält und ich ihn lasse. Und dann würde er sich auf mich wälzen und mit geschlossenen Augen abrackern. Masturbation am weiblichen Objekt nenne ich das. Wenn er die Augen aufmachen würde beim Beischlaf, würde er mich sehen. Wenn ich die Augen zumachen würde, würde ich fühlen, was er so in mir treibt. Also sehe ich ihm dabei zu, wie er mir nicht dabei zusieht und denke an guten Sex, auch wenn das nichts hilft.
Irgendwann wäre er fertig, wahrscheinlich ziemlich schnell, weil er ja wenig Gelegenheit hat. Soweit ich weiß zumindest. Er würde ich liebe dich sagen und sich wegdrehen. Und ich würde warten, bis er eingeschlafen ist. Und dann den zweiten Teil des Abends begehen, Masturbation ohne männliches Objekt.
Er ist glaube ich körperlich sowieso anderweitig ausgelastet. Er scheint es nicht wirklich zu brauchen. Montags fitten gehen und donnerstags in die Sauna, nach dem Tennisspielen mit Helmut und den anderen Kollegen. Die nehmen ihre Frauen manchmal mit. Ich bleibe immer weg. Ich bin eine Vollniete im Tennis. Und öffentliche Sauna geht für mich gar nicht. Zu heiß. Zu viele korrodierende Leiber. Ist schon okay für die, die da hingehen, aber ich muss mir das nicht ansehen. Die wenigen Männer, die in der Sauna gute Körper zur Schau stellen, sind in der Regel schwul oder so schwer narzisstisch gestört, dass es meinen Stolz verletzt sie auch nur anzuschauen.
Und mal ehrlich, mein Körper ist für eine Fünfzigjährige schon noch ganz okay, aber mehr auch nicht. Zwei Geburten hinterlassen nun mal ihre Spuren, und das mit dem Stillen auch. War mir egal. Wenn man tot sein will, legt man nicht so großen Wert aufs Schönsein.
Wenn man tot ist, hat man keinen Körper mehr und das ganze Hin und Her und Hoffen und Enttäuschtwerden kann man vergessen. Ich freu mich drauf.
Ich bin eine typische Popsong-Mutter, eine Ansammlung verpasster Gelegenheiten. Das Schlechte an verpassten Gelegenheiten ist, dass man sich vorstellt, wie großartig es gewesen wäre, auch wenn es sich vielleicht als der letzte Dreck herausgestellt hätte, wenn man es versucht hätte. Das Gute daran ist: In meiner Fantasie habe ich perfekte Erlebnisse abgespeichert, denn als Was-wäre-wenns waren sie perfekt. Auch wenn ich sie nie erlebt habe.
There is no way to happiness, sagte mir einmal ein indischer Guru. There is no way to happiness, happiness is the way. Das ist doch mal eine klare Ansage. Da ich nicht happy bin und es keinen anderen Weg gibt, wäre es absurd mich weiter abzurackern. Dann kann ich auch gleich heute Nacht zum Ausgang vorrücken, bevor die Biologie den Zeitpunkt bestimmt.
Letzte Woche war es dann soweit, dass ich endgültig keine Lust mehr hatte auf alles, was passiert und nicht passiert. Ich bin daheim abgehauen und habe mich in irgendeine Pension für Handwerker auf Montage eingemietet. Bis jetzt war das immer gut. Wahrscheinlich, weil ich alleine war. Wenn ich alleine bin, ist eigentlich immer alles in Ordnung. Oder zumindest ziemlich passabel. Wieso konnte ich nicht als tibetischer Yogi geboren werden und mein Leben in einer abgelegenen Schlucht fristen? Nun, sagt mein Großer Zensor, weil niemand als tibetischer Yogi geboren wird. Man muss es selber machen. Man kommt nicht als Einsiedler auf die Welt, man muss Entbehrungen auf sich nehmen und Mut zum Extremen haben. Okayokay. Ich habe keinen Mut. Ich bin zu mittelmäßig für ein Yogi-Dasein. Ich bin ein Wochenend-Yogi. Nicht für Jahrzehnte in einer Höhle, nicht im Himalaya, sondern drei Tage in einem versifften Einzelzimmer im Schwarzwald. Teppichboden siebzigerjahre-Braun. Vorhänge cremefarbenes Polyester. Cremefarben deshalb, weil sie noch aus der Zeit stammen, als jeder sein Hotelzimmer vollqualmen durfte, wie er wollte.
Hier oben auf dem Grünen Felsen gibt es keine Anti-Raucher-Verordnungen. Ich dreh mir noch eine.
Und weil ich den kurzen Rest meines Lebens ehrlich zu mir sein will: Alleinsein ist nur gut, wenn ich es mir aussuchen kann. Wenn nur ich entscheide, ob ich den Abend in diesem versifften Einzelzimmer verbringen will oder unverbindlich ein Bier unten in der Gaststube bestellen und den anderen Gästen zuhören. Und Leute treffen, die ich nie wieder sehen würde. Aber dieses Mal war es anders. Dieses Mal machte nicht einmal mehr die Vorstellung Spaß, wie es gewesen wäre. Vielleicht hätte ich ihn einfach nicht zulassen dürfen, diesen Tagtraum. Die Idee, dass hier draußen am Ende der Welt durch Zufall einfach jemand auftauchen könnte, der mich begeistert. Wie blöd kann man sein? Erstens gibt es diesen Jemand, der für mich passen könnte, ziemlich sicher nicht, und zweitens nicht hier. NICHT HIER! Und trotzdem habe ich mir diese irrwitzige Vorstellung nicht verboten. Ich habe geträumt. Ich habe mir zugesehen, wie die Wirklichkeit mit meinem Traum umgeht und beschlossen, dass es jetzt mal gut ist. Mit allem. Ende Gelände (das sage ich nur, um dem Großen Zensor die Gelegenheit für einen weiteren Strich auf der Banalitätenliste zu geben).
Der Stammtisch in der Gaststube war voll besetzt. Man unterhielt sich angeregt über die Sorgen und Nöte der Freiwilligen Feuerwehr. Ich setzte mich an den Nebentisch, bestellte ein Bier und langweilte mich nicht einmal so sehr, weil es doch erstaunlich ist, welche im Wortsinn brennenden Probleme die Feuerwehr eines Schwarzwalddörfchens haben kann. Vermutungen werden ausgetauscht über Vetternwirtschaft, zweifelhafte Genehmigungsverfahren und gekaufte Gemeinderäte. Verschwörungstheorien und infernohafte Brandszenarien wurden entwickelt und alle waren mit großer Leidenschaft dabei.
Ich mag es, anderen beim Leben zuzuschauen und zu hören, was sie zu sagen haben. Meistens ist es eine win-win-Situation, weil die anderen sich freuen, dass jemand wissen will, wer sie sind, und ich ein paar Anregungen für mein Kopfkino bekomme. Und wer weiß, dachte ich an diesem Abend ganz ungeschützt und naiv, wer weiß, vielleicht treffe ich ja heute den, der mein Leben verändert. Ich schaute also von meinem Ecktisch rüber zum Tresen und da saß dieser Typ – keine Ahnung wo der herkam – und brabbelte in einer Art Englisch vor sich hin. Vielleicht auch Schottisch. Seine Haare standen am Hinterkopf ab, er sah aus wie ein ziemlich heruntergekommener Kakadu, auch ungefähr genauso exotisch. Aber Kakadus riechen nicht nach Alk und Kotze. Warum wurde der in dem Laden überhaupt bedient? Ich wette, er hatte keinen Cent dabei. Da drehte er sich um und schaute in meine Richtung.
Dreck. Die Kunst der klandestinen Observation habe ich auch schon mal besser beherrscht. Er beäugte mich. Verquollenes, fleckiges Gesicht, das nach Alkohol und allen möglichen chemischen Substanzen aussah. Das musste eine Menge Zeug sein, das er sich in den letzten Jahren reingetan hat. Er rutschte von seinem Barhocker und nahm Kurs auf meinen Tisch. Nein, Widerstand war zwecklos. Er sprach kein Deutsch und verstand auch keines, zumindest tat er so. Er ließ sich schwer auf den Stuhl neben mir fallen, und der Luftzug seiner Bewegungen trieb den Dunst von Alkohol, den Zersetzungsprodukten auf seiner Körperoberfläche und eingetrockneter Pisse zu mir rüber.
Er winkte der Wirtin und sie schob ihm noch einen Whisky hin. Warum machte die das? Mir war schon klar, wir waren im Schwarzwald und nicht in der City von Irgendwo, aber ich denke doch, dass eine Wirtin überall ein sauberes Gespür dafür haben muss, welcher Gast für den Abend genug hat. Sie warf mir einen undefinierbaren Blick zu, vielleicht Mitleid für was auch immer, vielleicht auch Sadismus.
Wenn ich nur meine Fähigkeit, Englisch zu verstehen, einfach abschalten hätte können, oder wenigstens dialektresistent wäre. Aber mein Gehirn funktionierte einfach weiter, gegen meinen Willen. Ich saß da wie angenagelt und hörte ihm zu. Er lallte über Berlin, die Stadt aller Städte.
Ich antwortete ihm, dass das hier nicht Berlin sei, sondern der Black Forest. Warum machte ich das? Warum hielt ich nicht einfach die Klappe und verzog mich? Muss meine schwäbische Dressur sein. Erst austrinken. Dann zahlen. Dann gehen. Das ist das heilige Gesetz. Ich nippte an meinem schalen Bier, während mir der Typ versicherte, das hier sei Berlin, er sei extra hierher getrampt. Und er sei dazu da, die Stadt zu retten. Er sei mit diesem Auftrag gekommen, weil wir Deutschen hätten ja keine Ahnung, was da wirklich los wäre.
Don‘t you see, the Russians are coming. They take over Berlin. News are fake. I am here to save you all. Don‘t you see? All fake!
Der war wohl in den letzten Tagen des zweiten Weltkriegs hängen geblieben. Er hatte viel zu sagen darüber, was wir alles falsch machten und dass das böse enden würde. Dann fing er an zu weinen. Berlin war egal. Er schaltete um auf seine schwere Kindheit und das ganze erwartbare Zeug. Können nicht die ganzen Abgestürzten mal was anderes anführen zur Rechtfertigung ihrer Lage, als immer wieder eine schwere Kindheit?
Das war der Tiefpunkt meines Lebens aus zweiter Hand. Nicht mal mehr die ausgeliehenen Existenzen machen mehr Spaß. Sie bedrängen mich. Wie der Ärmel dieses Kerls, der meinem immer näher kam, und der Geruch, der sich nicht an Grenzen von Anstand und guter Erziehung hielt. Ich geriet in Besorgnis. Wenn ich mich jetzt schon auf Anstand und gute Erziehung berief, dann musste es ernst sein. Der Typ nahm sich einen Stapel Servietten aus dem Tischhalter und rotzte los, ein Teil ging tatsächlich in die Serviette, der Rest in seinen Whisky und sonstwohin.
Dann starrte er mich an, ließ seine tabakverfärbten Zähne sehen und neigte sich zu mir herüber. Whiskydunst, Kippen und Pisse. Gleich würde er mich anfassen. Wie fertig musste ich aussehen, dass er auf so eine Idee kommen konnte?
Ich löste mich aus meiner Erstarrung und stand auf, um aufs Klo zu gehen. Mir war schlecht und ich stellte fest, dass ich wohl auch ein Arschloch war wie alle anderen Menschen auch. Warum sollte er auch nicht versuchen mich anzubaggern? Auf meine Art und Weise war ich ebenso weit abgestürzt wie er. Gegen diese Tatsache half auch Arroganz nichts. Unten ist unten. Ich fand die Tür mit der Aufschrift „Damen“ und hätte gerne einen Edding gehabt, um den Text zu Schlampen, Bitches oder in ein neutrales W zu ändern, denn alles Damenhafte in mir, wenn es je etwas davon gegeben hatte, war an dem Abend gestorben.
Die Mädels von der Freiwilligen Feuerwehr waren offenbar auch nicht mehr so zielsicher an dem Abend, und eine hatte ganz offensichtlich ihre Tage, die Klobrille sah entsprechend aus.
Glücklicherweise war ich nüchtern genug, um meine Blase einigermaßen leer zu kriegen ohne irgendwas zu berühren. Zu meinem Unglück war ich aber auch nüchtern genug, um den Abend Revue passieren zu lassen, dort in der Klokabine.
Die Bilanz war niederschmetternd: Ich hatte mir meinen persönlichen Traumprinz gewünscht für diesen Abend. Okay, hier am Ende der Welt war das zugegebenermaßen ein bisschen ambitioniert. Aber trotzdem. Wenn ich mir anschaute, was da geliefert worden war, gab es nur eine logische Schlussfolgerung: Ich war am Ende. Was ich nie wahrhaben wollte, war an diesem Abend mit brutaler Klarheit in mein Bewusstsein getreten, und seitdem ist es da und geht nicht mehr weg. Es lässt sich in zwei Sätzen zusammenfassen: Die Welt bietet mir nicht nur Langeweile oder vorhersehbare Kleinbürgerlichkeit. Sie bietet mir eine volle Ladung Absturz. Auf dem Klo hatte ich noch gehofft, dass es wieder vorbeigehen würde. Aber ich lag die ganze Nacht in meinem muffigen Zimmer wach und dachte nur eins:
Das mache ich nicht mehr mit.
Ida, verpiss dich, sagte der Große Zensor. Es gibt nichts mehr, was du von deinem Leben erwarten kannst, außer Ekel, nicht mal mehr die Second Hand Leben funktionieren für dich, du bist fertig.
An dem Abend beschloss ich, meinen fünfzigsten Geburtstag auf diese ganz besondere Weise zu feiern. Ich gebe zu, eine kleine Hintertür hatte ich mir offen gelassen. Hätte ja sein können, dass mir noch etwas begegnet, was mich umstimmt. War nicht so. Also sitze ich hier.
Ich nehme einen Schluck und höre den Eichelhähern zu, die sich hinten im Wald gegenseitig vorkrächzen, was für tolle Typen sie sind. Die Wildgans auf meiner Whiskyflasche sagt nichts dazu, ich nehme noch einen Schluck.
Ich weiß nicht, was anders war an diesem Abend. Vielleicht, weil nicht einmal der Große Zensor sich noch anständig benahm. Es reicht ja wohl, wenn der Rest der Welt mich mies behandelt. Jedenfalls war das der Moment, in dem ich aufgab. Die einzigen Pläne, die ich seit diesem Abend vor einer Woche noch geschmiedet habe, waren die, wie ich meinen letzten Abend verbringen würde.
Ich drehe mir eine. Ist ein gutes Gefühl, wenn man rauchen kann und dabei nicht darüber nachdenken muss, was das in zehn Jahren mit meiner Lunge machen würde.
Ich finde ja, die Bilder auf den Tabakpäckchen sind das Ungesündeste am Rauchen. Das ist Voodoo, das sollte als suggestive Körperverletzung geahndet werden. Ich wollte mir ja immer mal ein eigenes Tabakpäckchen zum Nachfüllen basteln, mit lauter positiven Symbolen drauf und so. Aber das hätte ja bedeutet, dass ich mich im Rauchen einrichte, und das wollte ich mir auch nicht eingestehen. Also rauche ich weiter und sehe mir weiß geschminkte Männer an, die vor einer Heizung zusammenbrechen und von ihren Gattinnen beweint werden. Oder Krebsgeschwüre auf Zungen. Oder Raucherbeine und was es sonst noch so gibt. Man kann Wegsehen üben bei diesen Verpackungen. Aber offensichtlich hat das bei mir nicht wirklich geklappt.
Ich ziehe an meiner Zigarette und denke über Sex nach. Wenn ich gewusst hätte, dass das so ungefähr das Wichtigste im Leben ist, hätte ich wahrscheinlich einiges anders gemacht. Oder auch nicht, Klappe, Großer Zensor, wahrscheinlich sogar nicht.
Guter Sex könnte mich heute Nacht vielleicht von meinem Vorhaben abbringen. Aber ich habe keine Ahnung, ob ich überhaupt noch weiß, wie das geht. Außerdem werde ich langsam zu betrunken für alles außer hier sitzen und mir selbst zuhören.
Wann hat das eigentlich angefangen, dass ich tot sein will? Es war schon so, bevor Paul geboren wurde, das kann ich sicher sagen. Denn als er auf der Welt war, dachte ich: Ich will tot sein, aber für ihn wäre es besser, wenn ich noch eine Weile im Spiel bliebe. Tot zu sein war kein intensiver Wunsch, eher so etwas wie eine friedvolle, entspannte Alternative zum Leben. Und da es nicht wirklich drängte, gab ich mein Bestes und hielt durch.
Jetzt ist Paul siebzehn. Offenbar hat er meine Einstellung zum Leben mit der Muttermilch aufgesogen, denn nichts an ihm überzeugt mich davon, dass er nicht tot sein will. Er hat die Schule geschmissen, kifft sich die Birne weg und woher er das Geld dafür hat, will ich gar nicht wissen. Unsere Kommunikation ist spärlich und einseitig. Konkret gesprochen: Ich schreie ihn morgens an, er soll endlich aufstehen, was er nicht tut, und ich whatsappe ihn abends an, er soll heimkommen, was er auch nicht tut.
Das einzige, was ich von ihm mitbekomme, sind seine Klamotten im Wäschekorb, wenn er alle paar Wochen eine Schicht vom Fußboden seines Zimmers abträgt, weil er einen Gürtel sucht oder so. Also dafür hat es sich nicht gelohnt.
Und Lena? Die entwickelt sich zielsicher zu der Sorte Mädchen, die mir in der Grundschule das Leben vermiest haben. Wichtig ist für sie, ob sie hübsch ist (ja, ist sie), dass ihr bester Freund reich ist (ja, ist er) und dass sie zur Klassensprecherin gewählt wird (ja, wird sie). Lena ist der eindeutige Beweis dafür, dass Genetik zur Vorhersage von Eigenschaften stark überschätzt wird, denn was dieses Mädchen mit mir zu tun haben soll, ist mir schleierhaft. Und nein, sie wurde nicht im Krankenhaus vertauscht, da habe ich aufgepasst.
Kurz und gut, Paul kommt auch mit mir nicht zurecht und Lena kommt auch ohne mich bestens zurecht. Insofern kann der Große Zensor aufhören auf die Tränendrüse zu drücken, für meine Kinder ist es das kleinste oder gar kein Problem, wenn ich weg bin. Sie können sich zudem auf jede Menge emotionale Boni von allen freuen, wenn sie dann als Halbwaisen ihr bemitleidenswertes Dasein fristen. Vielleicht hätte ich noch eine Lebensversicherung abschließen sollen. Aber die Finanzen sind auch nicht mehr mein Problem.
Es ist gut darüber nachzudenken, wie viele Dinge bald nicht mehr mein Problem sein werden.
Die gestreifte Kreta-Decke mitzunehmen war eine kluge Entscheidung. Es ist zwar Sommer, aber da oben auf dem Grünen Felsen ist immer Wind. Es war schon kalt, als ich hier angekommen bin, und seit die Sonne untergegangen ist, hat sich die Luft noch weiter abgekühlt. Ein eiskalter Abgang mitten im Sommer, würde ich sagen.
Ich habe mir immer vorgemacht, dass hier auf der Erde das Gesetz der Schwerkraft gilt. Aber eigentlich weiß ich es besser. In meinen Träumen gab es kein Gesetz der Schwerkraft. Denn überall, wo ich lief, um zu entkommen, brach der Boden unter mir weg. Überall, wo das Stahlmonster mit seiner ganzen Masse entlang stampfte, blieb er stabil. Der Traum endete jedes Mal damit, dass ich einbrach. Und abstürzte, durch so eine Art Kanal ohne Gullideckel. Und starb. Und mich unten in einer Hölle wiederfand, die aussah wie eine düstere Kirche mit gotischen Bögen und beunruhigenden Bildern von grausamen Handlungen auf den Glasscheiben.
Als ich größer wurde, trieb noch eine Menge anderes Pack durch mein Bewusstsein, bevor das Monster kam. Zwei als altes Ehepaar getarnte Aliens kamen regelmäßig vorbei. Sie wollte, dass ich mitkomme. Er sagte gar nichts. Ich auch nicht, aber ich hatte Angst.
Erst in der Pubertät fand ich ein Mittel dagegen: Bier. Bier half gegen das Allermeiste. Bier war die perfekte Selbstmedikation, sedierend, ausgleichend, geselligkeitsfördernd. Meine neuen Freunde in der Bahnhofskneipe hatten gar keinen Job oder arbeiteten auf dem Bau. Ihre Witze waren billig, aber wenn ich mit ihnen zusammen war, fühlte ich mich gut. Es gab nichts, was ich hätte tun müssen, damit sie mich okay fanden. In ihrem Bierdunst waren sie indifferent genug, dass ich nichts falsch machen konnte.
Unser Nachbar damals war das, was man einen Rocker nennt, auch wenn er keiner Rockerclique angehörte. Eines Abends fragte er mich in der Kneipe: Willst du mit mir schlafen? Ich sagte: Nö, aber du könntest mich heimfahren. Hat er gemacht. War eigentlich ganz lustig so.
Damals hat mein Großer Zensor ordentlich eins auf die Zwölf gekriegt. In meinem sehr entschiedenen Ich-will-tot-sein-Modus hatte er gar nichts mehr zu melden. Ich will jetzt mal nicht über bewusstseinserweiternde Rauchwaren nachdenken. Und auch nicht über das, was danach kam, über meinen Freund mit den durchlöcherten Armvenen. Aber leider ist auch er ein rosa Elefant und das Bild von ihm hält sich hartnäckig vor meinem inneren Auge, wie er in meinem Zimmer im Stuttgarter Westen sitzt und Ziggy Stardust mitsingt.
Ich habe mir sagen lassen, er hatte Aids und ist in einer Tübinger Ausnüchterungszelle an seiner Kotze erstickt. Warum muss der Typ, mit dem ich mich damals am meisten verbunden fühlte, ausgerechnet ein aidskranker Fixer sein? Warum kann sich in meinem Leben nicht auch mal ein regenbogenglitzerndes Traumbild aus nem Frauenroman zeigen, so ein Prinz, oder ein junger, einsamer, gut aussehender Arzt oder so?
Keine Ahnung. Wenn ich so darüber nachdenke, muss ich zugeben, dass mein Leben ohne Zensor auch nicht wirklich vergnüglich war. Schade, ich dachte schon, ich könnte alles auf ihn schieben.
Der nächste Schluck schmeckt komisch. Ich dachte immer, Halluzinationen kriegt man nur von Ouzo. Ich hatte mich extra für Whisky entschieden, weil sich da einbilden kann, noch komplett klar im Kopf zu sein, auch wenn man schon nicht mehr gehen kann.
Aber ich bin mir fast sicher, dass da hinten im Dunkeln was ist. Ich hätte nicht an das Kettenmonster denken sollen. Dreck, nicht einmal heute Abend kann ich aufhören zu denken, dass ich was nicht denken soll. Dabei hatte ich es mir so fest vorgenommen.
Einen kurzen Moment bin ich fast froh, als ich hinten im Wald Motorengeräusche höre. Aber nur einen kurzen Moment, denn froh sein gehört nicht zum Programm heute. Sagen wir mal erleichtert. Und auch die Erleichterung hält nur wenige Millisekunden an. Vielleicht wäre das Monster die bessere Gesellschaft im Vergleich zu den Jungs, die jetzt mit ihren Mopeds über den Waldweg cruisen. Können die nicht gepflegt auf einem Rewe-Parkplatz abhängen wie andere Versager auch?
Etwas Ähnliches scheinen sie über mich zu denken. Sie steigen von ihren Maschinen ab und beäugen mich misstrauisch.
„He, Alte“, sagt der eine. „Das ist unser Platz.“
Ich sage gar nichts und schaue an ihnen vorbei. An diesem letzten Abend kann nicht mehr viel schiefgehen. Das hier ist mein Revier.
Der Typ kommt näher.
„Hau schon ab.“
Er zögert. Ich starre auf die Schlüsselkette an seiner Jeans. Peinlich sowas. Wenn er älter wäre, hätte er wahrscheinlich so ein Gürteltäschchen für sein Handy. Schlüsselkette als Nerd-Accessoir für Jungspießer, die cool sein wollen und es niemals hinkriegen werden.
Ich verschränke die Arme.
„Heute ist mein letzter Abend, und den lasse ich mir von dir nicht versauen.“
Er schaut ein bisschen irritiert, aber offensichtlich kommt die Information nicht richtig bei ihm an. Er macht eine Kopfbewegung, die mich von meiner Bank vertreiben soll und knurrt:
„Jetzt mach schon“.
„Ich mache noch früh genug den Abgang, und jetzt hör auf zu nerven.“
Ich denke mir, dass ich mir ein weniger abgedroschenes Abschiedsgespräch gewünscht hätte. Aber die perfekten Abschiede gibt es eben nicht bei mir. Ich werde langsam ernstlich sauer, weil so hatte ich mir das nicht vorgestellt.
Ich erinnere mich an früher, als ich meiner verratzten Lederjacke durch die Stadt gezogen bin und mich gefährlich gefühlt habe. Hat gewirkt, warum weiß ich auch nicht. Ich bin nie ernsthaft angegangen worden. Wenn einer was versucht hat bei mir, bin ich sofort komplett ausgerastet, und die Wirkung war jedes Mal durchschlagend.
Der Typ und seine Lakaien stehen jetzt direkt vor mir. Ich hatte gedacht, das seien Jugendliche, aber zumindest der Wortführer ist mindestens Mitte zwanzig. Hat der nichts Besseres zu tun?
„Jetzt verpiss dich schon, Mutti.“
Einer der anderen Jungs geht zu ihm hin:
„Jetzt mach mal halblang Hank. Die stört uns doch nicht.“ Doch Hank bleibt wo er ist. Vielleicht ist er auch gar nicht da. Vielleicht ist es in Wirklichkeit der Kettenmann, der sich als Berufsjugendlicher verkleidet. Denn der Kettenmann ist hier. Ich habe ihn vorhin schon gesehen. Das hier ist natürlich der Kettenmann in Verkleidung. Schlüsselkette. Typ. Monster. Ich komme durcheinander, kann es nicht wirklich unterscheiden, und der Whisky in meinem System ist auch keine wirkliche Hilfe. Doch wer dieser Typ auch ist, dieses Mal gewinne ich.
Die Lederjacke habe ich nicht dabei, aber in einem Anfall von Selbstüberschätzung setze ich den Bösen Blick auf, meinen berüchtigten ich-bring-dich-um-Blick. Ist zwar nichts dahinter, aber meiner Erfahrung nach wirkt er unberechenbar bis verstörend. Ich stehe auf. Und tatsächlich, der Typ gerät ins Schwanken.
Natürlich nicht. Natürlich gerät er nicht ins Schwanken.
Die einzige, die hier ins Schwanken gerät, bin ich selbst.
Ich bin nicht Jessica Jones. Ich kann keine halbe Flasche Whisky trinken, dann einen Fall lösen und dabei meine Superkräfte spielen lassen. Ich bin nur Ida, mittelmäßig in allem, auch im Trinken.
Ich torkle los, direkt auf ihn zu. Wo er steht, ist der Boden fest. Wo ich hingehe, geht es abwärts. Für mich gilt das Gesetz der Schwerkraft.
„Sag mal, Alte, bist du bescheuert?“
Dann ist der Boden weg.