Читать книгу Abstürzen für Anfänger - Franziska Hochwald - Страница 5

Ida

Оглавление

Ich sehe nur weiß. Das kommt wahrscheinlich davon, dass ich tot bin. Wenn man tot ist, dann hat man den Eindruck, dass man durch eine Röhre oder einen Kanal saust und dann in eine unendliche Helligkeit eintritt. Das sagen zumindest die Sterbeforscher. Beziehungsweise die Leute, die von ihnen interviewt wurden, weil sie wieder zurück kamen. Alle diese Kurzzeittoten fanden es großartig da draußen. Und trotzdem waren sie anscheinend richtig wild darauf, noch mal eine Runde auf diesem Planeten zu drehen. Deshalb haben sie sich die Mühe gemacht wieder in ihre Körper zurück zu kriechen. Um in diesen Körpern unter unerfüllten Träumen zu leiden, Zipperlein zu kriegen und bei lebendigem Leibe zu verwesen. Und wozu? Nur, um am Ende dann doch wieder tot zu sein. Kann ich nicht verstehen.

Halt mal. Wenn ich tot bin, dann habe ich das alles hinter mir gelassen. Dann ist es sehr unwahrscheinlich, dass ich über Frau Kübler-Ross nachdenke und über verrottende Biomasse. Dann ist da doch nur noch der Moment und unendliche Freiheit und das ganze kitschige Jubelszenario drumherum.

Es gibt also zwei Möglichkeiten. Erstens. Die Sterbeforscher-Mafia lügt wie gedruckt, und tot sein ist auch nicht vergnüglicher als das Leben. Zweitens: Ich bin gar nicht tot.

Aber was ist dieses Weiß vor meinen Augen? Blendend, gleißend, künstlich wie ein Zahnpasta-Lächeln nach dem Bleeching.

Mir kommen die ganzen Himmel-Hölle-Witze in den Sinn. Wenn es im Himmel so langweilig ist, sage ich ab und nehme die Alternative. Vielleicht liegt es daran, dass ich auf dem Rücken liege und an eine weiße Decke starre. Titanoxid-Weiß mit Neonröhren-Beleuchtung.

„Frau Grube, sind Sie wach?“

Wer will das wissen.

„Frau Grube, hören Sie mich?“

Nein, ich höre ihn nicht. Ich drehe auch den Kopf nicht. Ich will nicht sehen, wer da neben mir steht.

„Frau Grube, ich sehe, dass Sie wach sind. Sie haben unglaubliches Glück gehabt. Bis auf die Gehirnerschütterung, ein paar Schürfwunden und zwei angebrochene Rippen sind Sie völlig in Ordnung.“

Glück ist Definitionssache. Wenn das kein Geistwesen mit schlechtem Humor ist, das da zu mir spricht, bin ich nach wie vor lebendig. Also starre ich tatsächlich schon die ganze Zeit an die Decke eines Krankenhauszimmers. Ich schließe die Augen. Dunkel.

„Frau Grube, wie fühlen Sie sich?“

Ich will mich zur Wand drehen. Aber es tut weh. Körper, eindeutig. Überall schmerzender Körper. Pulsierendes Stechen im Kopf. Ich bin selbst für einen sauberen Abgang zu mittelmäßig.

„Augenscheinlich hat sie noch einen Schock“, sagt der durch und durch irdische Halbgott in Weiß.

„Beobachten Sie sie engmaschig, ich komme morgen wieder und wir schauen, wie es ihr dann geht. Und sie darf Besuch bekommen.“

Ich mache eine Bestandsaufnahme: Ich kann hier nicht weg. Es gibt nichts, was ich sehen, hören oder sagen will. Es gibt nichts, was ich tun kann, nicht einmal sterben. Aber ich kann mich wenigstens tot stellen. Thanatose ist die Selbstverteidigung der Ringelnatter. Ich schwimme in einem kleinen See, und neben mir schwimmt die Schlange mit der gelben Krone.

Thanatose. Ich stelle mich tot. Akinese. Ich bewege mich einfach nicht mehr, weil sich bewegen weh tut und die Menschen nur dazu verleitet, mit mir kommunizieren zu wollen. Ich schließe eine Wette mit mir selbst ab, darüber, wie lange ich das durchhalte.

Wenn ich die Augen nur einen Spalt weit öffne, sehe ich einen dunklen Fleck an der Zimmerdecke. Er hat die Form eines unförmigen, massigen Wesens. Hallo Kettenmann. Fast vierzig Jahre lang warst du weg. Ich muss mich fürs erste wohl wieder an dich gewöhnen.

Es gibt einen Zustand zwischen Schlafen und Wachen, in dem alles gut ist. In Ermanglung von Alternativen trainiere ich ab sofort, diesen Zustand zu halten, so lange es geht. Andere nennen es vielleicht Wegtreten, ich nenne es Meditation. Oder Tagträumen. Ich träume mich weg, woanders hin, auch wenn das Weggehen bisher nie so wirklich geholfen hat. Ich denke einfach an meinen Indien-Urlaub. Nicht wegen Indien, sondern wegen Tulio. Der war vielleicht das einzig Gute in Indien, auch wenn ich mir nicht viel davon erlaubt habe.

Ich bin ein Klischee, der Urlaub war es auch. Viele Jahre wollte ich nicht nach Indien fahren, weil es das Indien, das ich sehen will, nicht mehr gibt. George Harrisson ist tot. Rishikesh ist voller Bettler, die sich entweder als Bettler oder als Sadhus verkleiden. Bei den als Bettler verkleideten kann man sehen, dass sich die Familien viel Mühe gegeben haben, ihre Kinder auf den Beruf vorzubereiten. Wahrscheinlich haben sie ihnen die Beine gebrochen. Oder ein paar Jahre lang eingebunden, so dass sie ganz verbogen weiter gewachsen sind. Bei anderen ist ein Teil des Unterschenkels so dünn, als hätte man sie in den ersten Jahren in ein Stahlrohr gesteckt, damit gar nichts weiter wachsen kann. Und dann sitzen diese Leute da an der engsten Stelle des Weges und zupfen an deiner indischen Pluderhose und du stehst davor und kannst nichts richtig machen. Wegschauen fühlt sich mies an und Geld geben auch, denn damit bedient man ja ein Geschäftsmodell, das man nicht wirklich unterstützen kann.

Bei den als Sadhus verkleideten Bettlern denke ich, dass es für alle passt: Die Touristen haben das Gefühl, einen echten indischen Heiligen zu sehen. Manche haben vielleicht einfach nur Angst davor einen echten indischen Heiligen nicht zu erkennen und geben deshalb prinzipiell jedem Geld, der da so am Straßenrand hockt, zur Sicherheit. In jedem Fall verdienen die Sadhus genug. Sie tun auch was dafür, sehen sehr folkloristisch aus und achten auf ihr schmuddeliges Äußeres, penibel verschmierte Aschemuster auf der Stirn und lange wirre Haare, damit sie authentisch wirken.

Indien ist ein heruntergekommener, zugemüllter Abklatsch von allem, was man sich in seinen Träumen und Alpträumen ausmalen kann. Alles, was ich gut finde, findet woanders statt. An anderen Orten. Zu anderen Zeiten. You live now sagen die amerikanischen Self Improvement Prediger. Aber now is shit. Was hilft es in der Gegenwart zu leben, wenn sie mir vorkommt wie ein alter Kaugummi, den jemand unter eine Schulbank geklebt hat? This is the Law of Attraction sagen sie. Ich kenne nur ein Gesetz, das ständig wirkt. Das Gesetz der Schwerkraft. Und das besagt, dass du dich nicht an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen kannst. Ist leider physikalisch unmöglich.

Anziehung hin oder her. The Law of Attraction ist was für Leute, die Telecommerce Sender schauen und sich was verkaufen lassen, nur weil jemand sagt, dass es eine Weltneuheit ist und dein Leben verändern wird. Mein Leben hat sich schon verändert durch diese großartige Idee vom Gesetz der Anziehung. Es fühlt sich nicht nur abgestanden an, sondern ich hasse mich auch noch, weil ich selber dran schuld bin, dass es ist wie es ist.

Also Indien. Das Indien von heute, weil ein anderes nicht zu haben ist. Alleine hätte ich mich nicht hingetraut. Aber ich hatte da so eine Freundin. Falls man das eine Freundin nennen kann, wenn sie mir in schöner Regelmäßigkeit mitteilt, wie seltsam ich bin. Aber diese Freundin hat von ihrem Mann eine Indienreise zum Geburtstag geschenkt bekommen. Kein Wochenende im Harz mit Secret Escapes, sondern eine Rundreise durch die Heiligen Städte. Und weil sie nicht alleine fahren wollte, hat sich mich gefragt, ob ich mitkomme. Hört sich gut an. Dachte ich am Anfang. Also habe ich mir die Reise selbst zum Geburtstag geschenkt.

Dass die Sache als Gruppenreise mit einer Horde durchgeknallter Yogalehrerinnen geplant war, hielt ich im Vorfeld für zumutbar. So wie wenn man den Beipackzettel eines Kopfschmerzmittels liest und feststellt, dass die Nebenwirkungen unter anderem Kopfschmerz sind und man denkt, dass es einen schon nicht erwischen wird.

Als ich dann mit denen im Hotel in Delhi auf der Dachterrasse saß, wusste ich, dass ich den Beipackzettel hätte ernster nehmen sollen. Ich war in beunruhigender Weise an meine Grundschulzeit erinnert, als ich meine Klassenkameraden nur in zwei Kategorien unterscheiden konnte: Die Unsichtbaren und die Unerträglichen. In Gruppen gerate ich von jeher sofort in Schockstarre und warte, bis ich wieder heil aus der Angelegenheit rauskomme. In Gruppen von erwachsenen Frauen potenziert sich das Grundschulgefühl, wenn sie die ganze Palette von schiefen Blicken über subkutanes Mobbing bis hin zu offener Zickigkeit absondern. Nichts wird besser, und ich hätte es wissen müssen.

Law of Attraction. Weißt du, sagen die Gurus, was du da erlebst, spiegelt dir nur deine eigenen zickigen und bösartigen Seiten. Du ziehst es an, weil du selbst so bist. Law of Gravity sage ich. Wenn du in so einem Scheiß feststeckst, dann steckst du eben. Du kannst dich halten oder tiefer einsinken, je nach Eigengewicht und Untergrund.

Da saß ich also und begutachtete die ganze Bandbreite neonfarbener Yogaleggins, kombiniert mit Spaghettiträger-Hemdchen, die unheimlich spirituelle Aufdrucke trugen, und wollte wieder heim. Nicht wirklich heim. Aber woanders hin.

Aber es war, wie es war, und ich tat mein Bestes, um mich mit meinen Gefährtinnen zu vertragen. Immerhin war ich in Indien.

Meine Tagträume waren auch schon besser. Vielleicht sollte ich mir was ausdenken und das mit dem Erinnern sein lassen. Indien war ein Traum. Die Wirklichkeit war eine mittelmäßige Erfahrung mit mittelmäßig viel Dünnschiss. Aber der Ashram war besser, das muss ich zugeben. Ich habe immer noch keine Ahnung, wer genau der Guru dort war und was ihn auszeichnete, aber immerhin. Es war ein kleiner Ashram mit jeder Menge Mantras und Muschelhorntuten und Feuerzeremonien und all dem. Von den anderen stand niemand um zehn vor fünf auf, um dem Heiligen Fluss zu huldigen. Das war für mich die beste Zeit des Tages. Ich hockte am Feuer, tat mein Bestes die Mantras aus dem Heftchen abzulesen und wartete, bis die Sonne aufging. Ich mochte den Ganges, und ich hatte was übrig für Shiva, den Gott der Zerstörung. Wenn man nichts kaputt macht, gibt es auch keinen Platz für Neues. Heute Nacht mache ich Platz, viel Spaß damit.

Und natürlich gab es Yoga in diesem Ashram, und wenn ich an Yoga denke, kommt mir Tulio wieder in den Sinn, so hat das ja angefangen mit meiner indischen Erinnerung. Ich sitze auf dem Grünen Felsen und denke an Indien. Und an Yoga. Und an Tulio.

Man sollte ja meinen, dass man sich beim Yoga entspannt, aber für Tulio war das nicht so. Ich habe keine Ahnung, was ein verheirateter südamerikanischer Wirtschaftsfuzzi alleine in einem nordindischen Ashram zu suchen hat, und er hat es mir auch nicht verraten. Seine Liebe zum Yoga kann es aber nicht gewesen sein. Er saß da auf seiner Matte und hielt sich die Schulter.

Verspannungen sind ja immer eine gute Möglichkeit sich näher zu kommen, also hab ich ihm die Schulter massiert. Wirklich nur die Schulter. Der Typ war klein und ein bisschen zu dick und das kann ich beides nicht besonders leiden. Aber die Schulter hat sich gut angefühlt.

Schon komisch manchmal, dass man blöde Vorlieben hat, die einen Großteil der potentiell interessanten Menschen von vorne herein rauskickt. Der visuelle Ersteindruck wird wirklich überschätzt. Eine Woche oder so habe ich ihm jeden Morgen die Schulter massiert. Dann kam er eines Abends in mein Zimmer und teilte mir mit, dass es jetzt Zeit sei die Massage zurück zu geben. Ausziehen. Alles.

Und seitdem denke ich darüber nach, warum es dafür keine Worte gibt. Ich kann nur obszöne Begriffe. Sexheft-Sprache. Wenn ich nicht über Lust sprechen kann, kann ich auch nicht darüber denken. Und es fällt mir sogar schwer, es Lust zu nennen. Ist doch kitschig. Dann lieber Geilheit. Ist brutal und billig. Egal wie ich es bezeichne, der Große Zensor zählt weiter und nimmt alles, was ich über Sex schreibe, gleich doppelt.

Ich kann nicht darüber sprechen. Ich kann nicht in Worten darüber denken. Aber ich kann mich erinnern. Er hat mich angesehen dabei. Er hat gesehen, was ich mag.

So etwas mache ich über 6 000 Kilometer von Deutschland entfernt, mit jemandem, der über 12 000 Kilometer in die andere Richtung wohnt. Ich weiß schon, das ist kein Zufall. Offensichtlich gibt es in der Riege meiner Zensoren einen, der mir das nicht erlaubt, wenn ich zu Hause bin.

Ich höre die Tür. Sie geht auf. Sie geht zu. Schritte kommen näher.

„Wie geht es dir, Schatz?“

Mit einem Schlag bin ich wieder zurück, und hier ist es noch schlimmer als woanders. Das ist die Stimme meines Mannes, ein bisschen unsicher hört er sich an. Eigentlich wäre es nur fair, wenn ich ihm zumindest einen Blick zuwerfen würde. Schließlich muss er es ganz alleine mit Paul und Lena aushalten. Andererseits, wenn ich jetzt eine Ausnahme mache, werden mich die Krankenschwestern nicht mehr in Ruhe lassen.

Ich rühre mich nicht. Er nimmt meine Hand. Es fühlt sich weder gut noch schlecht an, er könnte es auch lassen.

„Ihre Frau hat wohl noch einen Schock, Herr Grube. Vielleicht könnten Sie gleich noch kurz mit dem diensthabenden Arzt sprechen?“

Mein Mann steht neben meinem Bett. Er holt sich keinen Stuhl. Versucht nicht mal was zu sagen. Selbst ihm fällt offenbar auf, dass seine Tennis-Ergebnisse jetzt deplatziert wären. Seine Hände sind feucht und zittern ein bisschen, und wenn ich gerade Empathie für jemand anderen als mich übrig hätte, würde er mir leid tun.

Wenn sich die Ringelnatter tot stellt, öffnet das sie Maul, lässt die Zunge raushängen und sondert ein stinkendes Sekret ab. Das mit dem stinkenden Sekret kommt ungefähr hin, ich habe keine Ahnung, wann die mich hier zum letzten Mal gewaschen haben. Aber das andere wäre doch zu theatralisch. Ich muss schmunzeln.

„Sehen Sie, Herr Grube, Sie tun ihr gut. Auch wenn sie gerade in einem schwierigen psychischen Zustand ist, kommen Sie doch so oft wie möglich vorbei.“

„Ich weiß nicht“, stottert der Mann, den ich mal geheiratet habe. In der irrigen Annahme, ich könnte so tun, als sei ich ein normales, sozial kompatibles Mitglied dieser Gesellschaft.

„Ich weiß nicht, gerade ist ziemlich viel los in der Abteilung…“

Ich bin der Meinung, dass es eine gute Idee ist, wenn er wegbleibt. Dann muss ich nicht so viel über gemeinsam vergeudete Zeit nachdenken.

Er beugt sich über mich und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. Lustig. Sowas kommt normal nur in Filmen aus den Fünfziger Jahren vor. Aber dort ist es ein sehnsüchtiger Kuss, der andeutet, dass der Held sich gerne mehr erlauben würde. In meinem Fall fühlt es sich eher an wie eine Pflichtübung. Wie verhält sich ein Mann am Bett seiner Frau, die unter unklaren Umständen von einem Felsen gefallen ist? Er weiß es nicht und zieht sich so aus der Affäre. Ist schon okay. Was soll er auch machen.

Mein Gehirn kann einfach nicht aufhören alles einzuordnen, zu beurteilen, mit sinnlosen Assoziationen zu verknüpfen. Warum auch nicht, auf diese Art ist mir weniger langweilig. Ich habe das so gemacht, seit ich denken kann. Alles, was passiert, mit irgendwelchen Etiketten zu versehen oder damit zu spielen, damit es nicht so öde wird.

Es wird Nacht und wieder Tag und wieder Nacht. Ich starre an die Decke. Der Arzt kommt rein und geht wieder raus, dann kommt er mit einem zweiten Arzt rein. Sie ziehen mir das Augenlid hoch und fummeln an mir herum. Ich halte still.

„Muskeltonus normal“, sagt der eine.

„Trotzdem, ein katatoner Stupor, das ist eindeutig. Wir sollten zur Sicherheit medikamentieren.“

Mir ist es egal. Ich habe schon so vieles probiert, da kommt es nicht mehr darauf an, ob sie meine psychische Verfasstheit jetzt chemisch regeln oder nicht. Nicht dass ich es nicht versucht hätte. Schon mit siebzehn war ich zum ersten Mal in Psychotherapie. Meine Eltern meinten, ich müsse ihre Scheidung verarbeiten. Ich glaube, ich musste eher ihre Ehe verarbeiten, mit der Scheidung war ich vollkommen im Reinen.

Der Therapeut machte sich eifrig an die Arbeit. Ich war drei Stunden dort. Die Sitzung lief jedesmal folgendermaßen ab: Er fragte: Was würdest du machen, wenn ich etwas von dir wollte? Ich sagte: Ich würde nicht mehr kommen. Wie doof kann man sein, so was drei Mal mitzumachen? Nach der ersten Sitzung wäre die Sache doch eigentlich mehr als klar gewesen. Wo warst du damals, Großer Zensor? Ach stimmt ja, du warst da. Du sagtest: Nimm es nicht so ernst, vielleicht meint er es nicht so, sicher ist das eine psychotherapeutische Behandlungsmethode, er ist ja schließlich der Therapeut und weiß es besser als du. Was man anfängt, muss man auch zu Ende machen, und du brauchst doch Hilfe, das sagen alle.

Ich war naiv genug, es auch nach dem ersten Reinfall weiter zu probieren. Ich war bei zwei weiteren Psychotherapeuten und auf den seltsamsten therapeutischen Seminaren, habe Familienaufstellungen über mich ergehen lassen, mich auf die Liege von zweifelhaften Heilpraktikern begeben, die meine gestörten Fantasien als frühere Leben interpretierten. Ich habe Bonding nach Dan Casriel ausprobiert, dreißigtausend buddhistische Niederwerfungen vollzogen und täglich meditiert. Ich esse seit Monaten keinen Weizen und nehme grüne Smoothies zu mir, das soll ja die Hormonlage auf Hochstimmung tunen. Ganz zu schweigen von morgendlichen Fitnessübungen zur Anregung des Metabolismus und Jogging bis zum Magenkrampf. Ich habe mir für einen Haufen Geld Reconnective Healing und Reiki angetan. Monatelang habe ich seelenstärkende Audios angehört und jeden Morgen positive Gedanken affirmiert.

Wissenschaftlich gesprochen kann diese einzelne Fallstudie noch keine Aussage darüber machen, ob irgendwas von dem Zeug bei einer relevanten Gruppe von Probanden wirkt. Bei mir wirkt es jedenfalls nicht. Deshalb bleibe ich jetzt liegen und bewege mich nicht, bis es vorbei ist.

Und nein, Zensor, du wirst mich zu keinem weiteren Versuch bringen. Weder mit Verhöhnungen noch mit Appellen an meine Vernunft, vergiss es. Ich frage mich wirklich, wie lange ich dich schon kenne. Als ich ein Kind war, gab es dich da schon? Als ich klein war, bin ich jede Nacht gestorben. Jeden Tag war ich lebendig. Jede Nacht lag ich in meinem Bett, und sobald ich die Augen schloss, kam das Monster. Das Monster war riesig und bestand aus einem dichten Gewebe von Stahlketten. Und es jagte mich.

Nacht, Tag, Nacht, Tag, ich merke keinen großen Unterschied, seit sie mir die Neuroleptika in den Tropf schmeißen. Höchstens, dass ich immer wieder wegdrifte.

Ich bin neun Jahre und auf dem Schulweg. Ich halte die Hände auf dem Rücken zusammen, ganz unauffällig. Meine Handgelenke sind mit Stricken zusammengebunden, aber das müssen ja die Passanten nicht wissen. Meine Hände sind gefesselt, ich bin eine Gefangene. Aber mir wird nichts passieren. Nur ich kenne den Weg, den die Karawane meiner Peiniger durch die Wüste gehen will. Ich gehe durch die Wüste in die Sklaverei. Sehr passend, dieses Bild, für ein Mädchen, das in die Schule muss. Ich weiß nicht, wann das angefangen hat, dass ich woanders war als hier, aber mit neun war es schon so.

Ich bin nicht neun. Ich bin fünfzig, und ich perfektioniere den Zwischenzustand. Der Kettenmann küsst mich nicht auf die Stirn. Er umarmt mich, und es ist mir egal. Die Ketten fühlen sich leichter und wärmer an, als ich dachte. Und er drückt auch nicht fest zu. Könnte er aber. Soll er doch, mir wäre es nur recht.

Manchmal stört eine Krankenschwester unsere intime Zweisamkeit und popelt an meinem Arm herum, um einen neuen Eingang zu legen oder die Infusion zu prüfen oder was weiß ich. Verbände werden gewechselt, jemand versucht mich zu füttern, aber ohne Erfolg. Ich bin nicht da. Mein Monster ist auch nicht da. Wir sind zusammen nicht da, und die Sonne geht auf und wieder unter. Wahrscheinlich zumindest, ich kriege es nicht mit.

Tür auf, Tür zu, ein weiterer Besuch, den ich ignoriere.

„Hey, Alte, du hast mich voll in die Scheiße geritten.“

Die Sprache könnte von Paul sein. Aber der würde sich niemals die Mühe machen, mit Öffis so weit zu fahren. Wo auch immer ich da im Krankenhaus bin, Reutlingen oder was.

Die Stimme ist auch anders.

„Ich weiß, dass du mit niemand redest. Aber du hast das verbockt mit deiner hirntoten Aktion am Grünen Felsen. Also hilfst du mir da auch wieder raus.“

Grüner Felsen? Die Stimme kommt mir bekannt vor. Ist das etwa der Depp, der meine Bank wollte? Der mir meinen Abgang versaut hat? Was will der hier? Na, der kann lange warten. Tut er auch.

„Jetzt hör mal gut zu. Die glauben, ich hätte dich da runtergestoßen. Ich hab jetzt eine Anklage am Hals, ich weiß noch nicht mal, ob das nur schwere Körperverletzung wird oder versuchter Mord. Aber du weißt so gut wie ich, dass das nicht stimmt.“

Ich weiß gar nichts, will nichts wissen. Was gehen mich die Probleme von dem Typen an, der mir meinen nun doch nicht letzten Abend versaut hat? Soll er doch sitzen dafür, geschieht ihm Recht.

Das geht aber jetzt ein bisschen weit, meine Liebe, höre ich die Stimme des Großen Zensors. Wo kommt der auf einmal her? Den hatte ich gar nicht vermisst. Aber jetzt, wo er wieder da ist, vermisse ich mein stählernes Monster. Hm.

„Also, was ist jetzt?“

Der Typ geht mir auf die Nerven. Ich kann mich nicht erinnern, dass er und ich befreundet sind oder ich ihm in irgendeiner Weise verpflichtet bin. Was glaubt der eigentlich? Mal wieder einer, der denkt, nur weil ich im Mutter-Alter bin, heiße ich Theresa?

Leck mich, würde mein Sohn Paul jetzt sagen. Leck mich leck mich leck mich.

Du kommst ja ganz schön runter, kommentiert der Große Zensor mit süffisantem Unterton. Das hättest du wohl gerne, was?

Ich beginne mir ernstlich Sorgen zu machen. Wenn jetzt schon der Zensor zotig wird, wo soll das alles noch hingehen? In jedem Falle ist mir der Pseudo-Rocker aber keine Bereicherung. Ich leide ein ganz kleines bisschen unter meiner akinetischen Ringelnatter-Lage. Bewegungslosigkeit ist aufs Ganze gesehen die beste Taktik, die ich habe, doch man ist doch ziemlich ausgesetzt, wenn man sich jegliche Reaktion auf seine Gäste verkneift. Anschreien wäre vielleicht eine schneller wirksame Aktion. Aber man kann es sich nicht immer aussuchen, schätze ich. Ich drehe die Augen auf halb acht und warte. Er wartet auch.

„Hey, du bist meine letzte Chance! Hat mich ganz schön was gekostet, dich hier aufzuspüren, und jetzt machst du einen auf hirntot. Das macht mich echt fertig, du musst mir einfach helfen!“

Er klingt ein bisschen verzweifelt. Soll er doch verzweifeln. Alle mütterlichen Gefühle, die ich je hatte, sind aufgebraucht.

Er bleibt eine ganze Weile an meinem Bett sitzen.

„Guten Tag, junger Mann“, mischt sich jetzt meine Bettnachbarin ein. „Das ist ja eine nette Überraschung, dass Sie hier im Damenschlafsaal auftauchen. Sie sind mir ja ein ganz schlimmer Finger, eieiei.“

Mein ungebetener Gast windet sich vor Verlegenheit. Ich hätte jetzt doch Lust, die Augen aufzumachen und zu sehen, wie das greise Schulmädchen ihren vermeintlichen Verehrer empfängt, aber ich lasse es bleiben.

Der Typ sagt nichts, doch die Seniorin frönt weiter ihrer Vergnügungssucht.

„Wie wäre es mit einem Tänzchen? Heute ist bestimmt Offener Abend in der Tanzschule Dieterle, wie wäre es, wenn Sie mich ausführen?“

Mein Besucher räuspert sich.

„Ein anderes Mal vielleicht, meine Liebe“, sagt er in erstaunlich freundlichem Ton. Hat der Humor? Hätte ich ihm gar nicht zugetraut.

Ich höre das Knarren seiner Lederjacke, dann spüre ich fette On Ear Kopfhörer auf meinen Ohren.

„Ich lass dir mal eine Runde Musik da zum runterkommen. Das Zeug ist uralt, wahrscheinlich sogar vor deiner Zeit, aber geht extrem ab.“

Das rhythmische Klopfen eines Herzschlags dringt durch die Kopfhörer, dann ein Weckerticken, ein Mann spricht etwas Unverständliches, ein verrücktes Lachen, das Klingeln einer Kasse.

„Der Song heißt Speak to me, und ich mein das so. Ich komm in einer Stunde wieder vorbei.“

Er steht von meiner Bettkante auf und lässt mich allein in einem psychedelischen Tauchbad.

Look around, choose your own ground, wabert es mir ins Ohr.

Ich erinnere mich daran, wie ich diese Musik zum ersten Mal gehört habe. Ich war vierzehn oder fünfzehn und litt wie ein Hund darunter, dass ich zu spät geboren war. Die wirklichen Hippies waren ausgestorben, ersetzt durch Popper mit Karottenhosen und fiesen Frisuren. Wrangler Jeans und Lacoste Polos dominierten mein Umfeld. Ich kam mit langem Wickelrock und Jesus Latschen in die Schule und fand mich Fake.

Heute ist es ganz normal aus allen musikalischen Zeiten zu fleddern. Hippie heißt jetzt Vintage und ist eine Modeströmung wie jede andere auch. Eigentlich gar nicht schlecht. Authentizität ist auch nur ein Dogma.

All you touch and all you see is all your life will ever be.

Eine Zeitlang versuche ich mich zu sperren, aber die Kopfhörer absetzen will ich auch nicht. Ich hatte ganz vergessen, was Musik sein kann, und um ehrlich zu sein, diese verrückte akustische Tour durch alle möglichen Räume, Gärten und fremde Köpfe funktioniert. Perfekte Hypnose.

The lunatic is in my head, und es macht Spaß.

Was wäre, wenn ich das Totsein noch eine Weile aufschieben würde?

So ein Quatsch, sagt der Große Zensor. Du würdest dir bloß wieder Hoffnungen machen. Das hatten wir doch alles schon. Willst du etwa wieder zurück in dein Familienleben, Vorstadt, Vorhersehbarkeit und alles wie bisher?

Ich gebe ihm Recht und versinke im Sound.

Doch als der Typ wieder ins Zimmer kommt, höre ich mich sagen:

Ich sage für dich aus, wenn du mich hier rausholst.

Abstürzen für Anfänger

Подняться наверх