Читать книгу Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama - Franziska Schößler - Страница 13
1. Mitleidsdramaturgie und die Entdeckung des Individuums (Lessing)
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Zentral für Lessings Dramenkonzept, das dieser in polemischer Auseinandersetzung mit Gottsched entwickelt (Rochow 1999, 20f.; Alt 1994, 66f., 155f.), ist die wirkästhetische Kategorie des Mitleidens, das gegen die Bewunderung, wie sie die Heldentragödie verlangt, abgesetzt wird – Bewunderung stellt für Lessing einen „kalten Affect“ dar. Ziel eines Dramas sei es, Mitleid zu erregen, wie Lessing bereits im Briefwechsel über das Trauerspiel festhält, den er zwischen Januar 1756 und Mai 1757 mit Nicolai und Mendelssohn führt. In dem berühmten Brief vom November 1756 an Nicolai heißt es programmatisch: „Wenn es also wahr ist, daß die ganze Kunst des tragischen Dichters auf die sichere Erregung und Dauer des einzigen Mitleidens geht, so sage ich nunmehr, die Bestimmung der Tragödie ist diese: sie soll unsre Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern. Sie soll uns nicht bloß lehren, gegen diesen oder jenen Unglücklichen Mitleid zu fühlen, sondern sie soll uns so weit fühlbar machen, daß uns der Unglückliche zu allen Zeiten, und unter allen Gestalten, rühren und für sich einnehmen muß. […] Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmuth der aufgelegteste. Wer uns also mitleidig macht, macht uns besser und tugendhafter, und das Trauerspiel, das jenes thut, thut auch dieses, oder – es thut jenes, um dieses thun zu können.“ (Lessing 1972, 55) Lessing geht mit dieser Betonung des Mitleids über die Affektenlehre der Zeit entscheidend hinaus – Nicolai beispielsweise ist davon überzeugt, dass sich die von den Figuren präsentierten Affekte unmittelbar auf die Zuschauer übertragen, dass also Schmerz als Schmerz, Zorn als Zorn rezipiert wird (Alt 1994, 175f.). Lessing hingegen isoliert das Mit leiden als alleinige Wirkung, die sich für die Zuschauer auch aus anders artigen Affekten ergibt.
Furcht und Mitleid
Im 75. Stück der Hamburgischen Dramaturgie wird der Affekt des Mitleids allerdings durch den der Furcht ergänzt; Lessing diskutiert hier den Begriff des Schreckens, den Aristoteles in seiner Poetik behandelt. Aristoteles habe, so hält Lessing fest, diejenige Furcht im Auge gehabt, „welche aus unserer Ähnlichkeit mit der leidenden Person für uns selbst entspringt; es ist die Furcht, daß die Unglücksfälle, die wir über diese verhänget sehen, uns selbst treffen können; es ist die Furcht, daß wir der bemitleidete Gegenstand selbst werden können. Mit einem Worte: diese Furcht ist das auf uns bezogene Mitleid.“ (Lessing 1985, 556f.) Furcht wird mithin eng an Mitleid gekoppelt; Furcht ist das „auf uns bezogene Mitleid“. Die Furcht für uns selbst bringe das Mitleid als Furcht für den Anderen „zur Reife“. Das heißt allerdings auch, dass der Selbstbezug die Bedingung für den Fremdbezug darstellt. Identifikation beinhaltet also zugleich Differenz – zwischen Ich und dem Anderen (auf der Bühne) wird unterschieden (Lehmann 2000, 295). Mitleid stellt für Lessing also die ästhetisch produzierte moralische Fähigkeit dar, sich – und zwar auch jenseits des Theaters – in den Anderen einzufühlen.
Der gemischte Held
Dieses Mitleidskonzept hat eine ganze Reihe von ästhetischen Konsequenzen. Zum einen muss der Held oder die Heldin den Zuschauern ähnlich sein. Lessing fordert den „gemischten“ Protagonisten, der dem Zuschauer gleicht, „aus gleichem Schrot und Korn ist“. Er darf mithin kein „Ungeheuer“ sein, wie Lessing im 73.–83. Stück der Hamburgischen Dramaturgie im Zusammenhang mit Weißes Bösewichtdrama Richard III. ausführt, ebenso wenig aber eine reine Unschuld. Und bereits in dem Briefwechsel mit Mendelssohn und Nicolai fordert Lessing ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Verdienst und Unglück. „Das ist, der Dichter muß keinen von allem Guten entblößten Bösewicht aufführen. Der Held oder die beste Person muß nicht, gleich einem Gotte, seine Tugenden ruhig und ungekränkt übersehen.“ (Lessing 1972, 56) Zugleich muss der Protagonist als „Charakter“ rezipierbar sein; das Personal wird also nicht über seinen Stand, sondern über sein „Menschsein“ definiert. Der Stand wird sekundär: „In demselben Maße wie die Charaktere der handelnden Personen wichtig werden, in demselben Maße sinkt die Priorität der hohen (adligen) Standesperson in der Tragödie.“ (Göbel 1996, 47)
Privatheit als Sphäre des Dramas
Diese Bestimmung der Dramenfiguren bringt es mit sich, dass auch der Adel im bürgerlichen Trauerspiel in Erscheinung treten kann, allerdings nur dann, wenn er in einer privaten, nicht-höfischen Sphäre ‘menschlich-bürgerlich’ denkt und handelt. Es wäre also falsch, im bürgerlichen Trauerspiel eine plane Entgegensetzung von tugendhaftem Bürger und lasterhaftem Adeligen zu erwarten. Der Begriff „bürgerlich“ bezeichnet vielmehr die Sphäre der dramatischen Aktionen als privaten Raum jenseits der adelig dominierten Öffentlichkeit des Hofes; in diesem privaten Raum vermögen sich auch Adelige mit entsprechenden Gesinnungen bürgerlich zu verhalten.
Die Absage an die Ständeregel
Das Konzept des gemischten Helden, der dem Publikum Identifikation erlaubt, erteilt der Ständeregel des französischen Klassizismus eine klare Absage, also derjenigen Regel, die aufgrund der Fallhöhe für die Tragödie Könige und Kaiser als Personal vorsieht, für die Komödie hingegen niedere Stände. Zielt Lessings Dramenpoetik auf das Mitleid ab, so bedarf er tragischer Formen, tragischer Ausgänge, um das Unglück des „gemischten“, nicht in die hohe Sphäre entrückten Charakters fühlbar zu machen. Mit dieser Absage an die Ständeregel, die nicht erst Lessing formuliert, sondern vor ihm der Engländer Lillo sowie der Franzose Diderot, ist das eigentliche „Skandalon“ der neuen Gattung bezeichnet, wie Szondi formuliert (1973, 15); suspendiert wird nämlich die gesellschaftspolitisch brisante Zuordnung von Gattung und Stand, wie sie in den Aristoteles-Kommentaren der Spätantike erstmals vorgenommen wurde.
Aristoteles
Bei Aristoteles selbst findet sich eine solche Zuordnung noch nicht; Aristoteles hält in seiner Poetik vielmehr fest: Die Handelnden, die in Tragödie und Komödie nachgeahmt werden sollen, „sind notwendigerweise entweder gut oder schlecht. Denn die Charaktere fallen fast stets unter eine dieser beiden Kategorien; alle Menschen unterscheiden sich nämlich, was ihren Charakter betrifft, durch Schlechtigkeit und Güte. Demzufolge werden Handelnde nachgeahmt, die entweder besser oder schlechter sind, als wir zu sein pflegen, oder auch ebenso wie wir. So halten es auch die Maler: Polygnot hat schönere Menschen abgebildet, Pauson häßlichere, Dionysos ähnliche.“ (Aristoteles 1982, 7f.) Aristoteles bestimmt die Dramencharaktere also nicht in Hinblick auf ihre gesellschaftliche Position, sondern in ethischer wie ästhetischer Hinsicht, ja ihm geht es nicht primär um die darzustellenden Menschen, sondern um die Unterscheidung der Darstellungsweisen: „Polygnotos stilisiert, indem er einen Charakterzug hervorhebt, entstellende Details aber übergeht; Pauson karikiert […]; Dionysos strebt dagegen Ähnlichkeit, Naturalismus an.“ (Szondi 1973, 36) Diese Definition wird in der Spätantike (Diomedes), in der Renaissance, dem Barock und dem Klassizismus aufgegriffen und modifiziert. In den zahlreichen normativen Poetiken wird ein Beruf oder Stand mit der spezifischen Gattung verbunden, wie z.B. in Martin Opitz Buch von der deutschen Poeterey (1624). Auch Gottsched rechtfertigt diese Zuordnung von Gattung und Stand noch mit dem Hinweis auf die Fallhöhe.
Wirkung als Kriterium
Erst der Engländer Lillo löst diese Verbindung in dem Prolog zu seinem wirkmächtigen bürgerlichen Trauerspiel Der Kaufmann von London auf, indem er im Anschluss an Dryden die moralische Wirkung sowie die Nützlichkeit zum zentralen Ziel der Tragödie erklärt und daraus die Hinfälligkeit der Standeszuordnung ableitet: „What I woul’d infer is this, I think, evident truth; that tragedy is so far from losing its dignity by being accommodated to the circumstances of the generality of mankind, that it is more truly august in proportion to the extent of its influence and the numbers that are properly affected by it. As it is more truly great to be the instrument of good to many, who stand in need of our assistance, than to a very small part of that number.“ (Lillo 1981, 109) Lillo erklärt, dass „die Erhabenheit der tragischen Dichtung vom Ausmaß ihres Wirkungsbereichs abhängig sei, und […] daß die Beschränkung auf vornehme Personen (Gottsched) nur dann sinnvoll wäre, wenn allein diese den durch Laster oder Schwäche bewirkten Unglücksfällen ausgesetzt wären“ (Szondi 1973, 25). Doch auch der bürgerliche Stand sei fähig, Unglück zu erleiden, wie Lillo in seinem Kaufmannsdrama mit Nachdruck vor Augen führt. Die Wirkung der Tragödie sei also vornehmlich dann garantiert, wenn der Held aus demjenigen Stand stammte, dem auch das Publikum angehörte, und die Wirkung sei umso größer, je eher die Unglücksfälle der „mankind“, der Menschheit, vorgestellt werden. Diese Argumentation ermöglicht es, auch den Bürger als tragikfähige Figur zu behandeln, ihn zum Protagonisten eines tragischen Geschehens zu erheben. Die Transformation des Personals findet nicht von ungefähr in einem stark von ökonomischen Inhalten geprägten Stück statt: Die u.a. von Lillo beeinflusste Dramentheorie und Wirkungsästhetik Lessings werden neuerdings im Kontext zeitgenössischer ökonomischer Diskurse gelesen (Fiederer 2002); Thomas Martinec beispielsweise widmet sich den Strukturhomologien von Dramenwirkung und Geldfunktion in Lessings Dramaturgie (Martinec 2014; zur Arbeit am Selbst bei Schiller vgl. Lemke 2014, 145).
Die Entdeckung des (bürgerlichen) Menschen
Lessing knüpft an die poetologische Bestimmung Lillos an, wenn er den gemischten Helden fordert und den Protagonisten jenseits seiner Standeszugehörigkeit auf sein Menschsein, auf seinen Charakter, festlegt. Was Lessings Dramentheorie damit leistet, ist in gewissem Sinne die Entdeckung des (bürgerlichen) Menschen, der nicht mehr primär über Standeszuordnungen definiert wird, sondern dem Innerlichkeit, Charakter, Individualität und im Kontext der neuen Wissenschaft der Anthropologie eine spezifische, „authentische“ Körpersprache zugeordnet wird (Košenina 1995; Fischer-Lichte 2007, 134f.) – jenseits der Reglements der höfischen, öffentlichen Welt, jenseits des Standes. Ist Lessings Theorie wesentlich an die Empfindsamkeitsdoktrin gebunden, so geht es darum, die Physiognomie eines Subjekts (als Gegenstand des Theaters und als Vorbild des Zuschauers) zu entwickeln, das jenseits der traditionellen gesellschaftlichen Ordnung über Innerlichkeit, Emotion und Selbstausdruck bestimmt wird.
Empathie versus Isolation
Dass Fokus dieser Dramaturgie tatsächlich der isolierte einzelne Bürger ist, bestätigt umgekehrt die Mitleidsethik, die als Antidot die Isolation der bürgerlichen Subjekte, ihre Individualisierung, zu kompensieren trachtet. Bürgerliche Vereinzelung soll durch Mitleid, durch die Fähigkeit zur Empathie, zur Identifikation, aufgefangen werden.
Kausalität
Produktionsästhetische Bedingung dieses Konzeptes ist nicht nur der gemischte Charakter, sondern auch die kausale Vernetzung von Ereignissen sowie die plausible Verklammerung von Charakteren und Geschehnissen, wie im zentralen 32. Stück der Hamburgischen Dramaturgie dargelegt wird: Der Poet, so weist Lessing an, wird „vor allen Dingen bedacht sein, eine Reihe von Ursachen und Wirkungen zu erfinden, nach welcher jene unwahrscheinliche Verbrechen nicht wohl anders, als geschehen müssen [dramatisiert werden soll die Geschichte einer Frau, die Mann und Söhne ermordet; Anm. v. Verf.]. Unzufrieden, ihre Möglichkeit bloß auf die historische Glaubwürdigkeit zu gründen, wird er suchen, die Charaktere seiner Personen so anzulegen; wird er suchen, die Vorfälle, welche diese Charaktere in Handlung setzen, so notwendig einen aus dem andern entspringen zu lassen; wird er suchen, die Leidenschaften nach eines jedem Charakter so genau abzumessen; wird er suchen, diese Leidenschaften durch so allmähliche Stufen durchzuführen: daß wir überall nichts als den natürlichsten, ordentlichsten Verlauf wahrnehmen; daß wir bei jedem Schritte, den er seine Personen tun läßt, bekennen müssen, wir würden ihn, in dem nemlichen Grade der Leidenschaft, bei der nemlichen Lage der Sachen, selbst getan haben“ (Lessing 1985, 338f.). Diese Forderung nach einem Kausalnexus in Verbindung mit der wirkästhetischen Absicht Lessings zieht eine bestimmte Form der Informationsvergabe nach sich – eine zentrale Analysekategorie von Dramen, wie Pfister unterstreicht (1982, 79f.).
Informationsvergabe
Die Mitleidsdramaturgie Lessings verlangt einen relativen Informationsvorsprung des Zuschauers vor der dramatischen Figur, so dass der Effekt des (gewussten) Verhängnisses auf die Figur beobachtet werden kann, die Aufmerksamkeit nicht aber durch Sensationen abgelenkt wird. Lessing lehnt im 48. Stück der Hamburgischen Dramaturgie ganz in diesem Sinne Überraschungseffekte ab und führt aus: „Ja, unser Anteil wird um so lebhafter und stärker sein, je länger und zuverlässiger wir es vorausgesehen haben.“ (Lessing 1985, 419) Und weiter: „Ist […] alles, was die Personen angeht, bekannt: so sehe ich in dieser Voraussetzung die Quelle der allerheftigsten Bewegungen“ (Lessing 1985, 421).
Raum und Zeit
Wird für die Handlung – eine der drei dramatischen Einheiten – ein strenger Kausalnexus verlangt, so verlieren die räumlichen wie zeitlichen Einheiten bei Lessing an Bedeutung. Raum und Zeit werden dem dramatischen Geschehen funktional zugeordnet. Lessing distanziert sich im 44. bis 46. Stück der Hamburgischen Dramaturgie von einer sklavischen und damit unwahrscheinlich wirkenden Einhaltung der Einheiten von Raum und Zeit. In seinen Dramen kommt dem Raum entsprechend symbolische und handlungsmotivierende Funktion zu; zudem wird die räumliche Sphäre pluralisiert und ausdifferenziert. In Emilia Galotti z.B. wird das Geschehen vom Privatraum der kleinadeligen Familie in den Vorraum des Lustschlosses verlagert, damit an den prototypischen Ort der tragédie classique (Klotz 1968, 45). Lessing bezieht sich also hinsichtlich der Raumgestaltung kommentierend und modifizierend auf die Tradition der Tragödie, denn der Vorraum eines Schlosses ist der Spielort der klassischen Tragödie schlechthin, der nun dem bürgerlichen Stand zur Verfügung gestellt wird.
Private life
Aus Lessings dramatischer Kategorie der Identifikation – Voraussetzung des Mitleids – lässt sich darüber hinaus die ‘Sphäre’ der Trauerspiele genauer bestimmen: Vor Augen geführt werden Ereignisse aus dem Bereich des Privaten, des häuslich-alltäglichen Lebens. Bereits der Engländer Lillo, der das deutsche Trauerspiel wesentlich beeinflusst, spricht in seiner Vorrede zum Kaufmann von London vom „private life“ als Sujet der neuen Dramenform. Zentral für die Gattung des bürgerlichen Trauerspiels ist also die Opposition von öffentlichem Raum des Höfischen und der privaten Sphäre (Guthke 1994, 10f.), wie auch in Louis-Sébastien Merciers einschlägiger Abhandlung Neuer Versuch über die Schauspielkunst (1773) deutlich wird.
Wahrscheinlichkeit des sprachlichen Ausdrucks
Mit dieser Ortsbestimmung verbindet sich ein Konzept von Wahrscheinlichkeit und Lebenswahrheit, das auch in sprachlicher Hinsicht Konsequenzen hat: Die Bindung an den Vers, an den Alexandriner, wie ihn der französische Klassizismus für die Tragödie fordert, wird aufgegeben. Das Geschehen hat ‘wahrscheinlich’, ‘lebensnah’ im Sinne eines speziellen Konzeptes von Leben zu sein, hat als Spiegel eines privaten Lebens zu erscheinen (auch wenn dieses ganz anders aus sehen sollte). In Lessings Dramentheorie wird die bürgerliche Sphäre, die bislang aus dem kulturellen Repräsentationssystem Tragödie ausgeschlossen war, als tragische deklariert. Lessings Theorie des bürgerlichen Trauerspiels stellt dem Bürger das genus grave dicendi zur Verfügung, macht ihn zum Subjekt eines tragischen Geschehens, das zum ‘pathein’, zum Mit leiden als Gemeinschaftsform, herausfordert. Und Lessings Dramentheorie formuliert eine Absage an den Stand im Namen des ‘Menschen’, des Charakters, des individuierten Einzelnen, dessen Innenlandschaft kartographiert wird. Minna von Barnhelm, so heißt es in der gleichnamigen Komödie von Lessing, fädelt die Intrige gegen Tellheim lediglich ein, um seines ganzen Herzens, seines ganzen Gemüts, ansichtig zu werden.
Dramaturgie der Determination
Entwirft Lessing eine Theorie, die der bürgerlichen Identitätsbildung im 18. Jahrhundert korrespondiert, indem der Einzelne als dramatisch-tragisches Subjekt konstituiert wird (zum Einfluss von Emilia Galotti auf Die Räuber vgl. Martus 2013), so weitet Jakob Michael Reinhold Lenz dieses Tragödienprogramm im Namen der Genie-Ästhetik aus. Darüber hinaus jedoch entwickelt er im Kontext seiner Komödientheorie einen Gegenentwurf – den der determinierten Figur, die zum Spielball der Verhältnisse wird. Mit Lenz spitzt sich der kritische Aspekt des bürgerlichen Trauerspiels zu, u.a. im Anschluss an Merciers Neuen Versuch über die Schauspielkunst (Martin 2012). „Der Mensch als Spielzeug der Ehrgeizigen, der Bürger als Opfer der Herrschenden – dieses Motiv, das für Lillo im nachrevolutionären England keine Aktualität hatte, dem Diderot in die gerührte Selbstbespiegelung bürgerlicher Tugendhaftigkeit auswich und das Lessing nur verfremdet, als Exempel der Wirkungsästhetik im Brief an Nicolai oder, in der Emilia Galotti, als Begebenheit an einem italienischen Hof kennt – es wird bestimmend für die Dramatik des Sturm und Drang“, wie Szondi festhält (1973, 185). Diese Berücksichtigung von Determiniertheit und Ohnmacht führt zu neuen dramatischen Formen. Im Kontext von Lenz wird eine Typologie des offenen Dramas zu entwickeln sein, die für das bürgerliche Trauerspiel im 19. Jahrhundert (Büchner) sowie für das soziale Drama insgesamt von Bedeutung ist.